Deutschland: «Solidarität ist eine Waffe!»

Nr. 4 –

Vor drei Wochen randalierten 250 Neonazis im linken Leipziger Stadtteil Connewitz und zertrümmerten dabei ganze Strassenzüge. Die WOZ hat sich vor Ort umgeschaut.

«No cops, no nazis – antifa area» prangt in grossen Lettern an einer Wand am Connewitzer Kreuz, im Hintergrund die Skyline von Leipzig bei Sonnenuntergang. Keine Bullen, keine Nazis – antifaschistische Zone. Hier beginnt das linke Stadtviertel Connewitz im Leipziger Süden, von dem manche nur ein Bild im Kopf haben: Linksradikale, Randale, Strassenschlachten mit der Polizei. Die Strassen sind an diesem Januarnachmittag praktisch menschenleer. Eine dünne Schneeschicht überzieht die Pflastersteine. Von den wenigen Leuten, die unterwegs sind, tragen viele Dreadlocks, Piercings und schwarze Klamotten. Die Hauswände sind zugekleistert mit Plakaten, die anstehende oder schon vergangene Punkkonzerte ankündigen oder für politische Aktionen mobilisieren.

Lara Kresse und Marvin Alster tragen weder Dreadlocks noch Piercings. Beide wollen ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Die 24-jährige Kresse hat kurze schwarze Haare und trägt eine Jeansjacke. Alster ist 36 und arbeitet an der Universität Leipzig. Sie erklären sich bereit, die Autorin durch das Viertel zu führen. Kresse ist vor vier Jahren «aus dem Westen» nach Connewitz gezogen, Alster in Leipzig aufgewachsen. Beide sind in der antifaschistischen Szene der Stadt aktiv.

Ein roter Fleck in Sachsen

Leipzig ist die einzige Stadt in Sachsen, die überhaupt eine wirklich bemerkbare linke Bewegung hat. Und Connewitz ist der rote Fleck auf der schwarzen Sachsenkarte: der einzige Wahlkreis im ganzen Bundesland, der mehrheitlich nicht die CDU wählt, sondern Die Linke. Sachsen ist auch jenes Bundesland, für das die antirassistische Amadeu-Antonio-Stiftung deutschlandweit für das Jahr 2015 die meisten rechtsextremen Demonstrationen (99) und tätlichen Übergriffe gegen Geflüchtete (51) verzeichnete.

«Hier gibt es schon so etwas wie einen Anti-Nazi-Konsens», sagt Alster. Er spricht leise und überlegt. «Es ist nicht so, dass es hier keine Rassisten oder Sexisten gäbe», sagt dann Kresse. «Aber die Leute sind wachsamer und sensibilisierter.» Als Frau fühle sie sich in Connewitz nachts auf der Strasse gerade deshalb sicher, weil sie auf die Solidarität von Aussenstehenden zählen könne.

Die Wolfgang-Heinze-Strasse ist die Hauptschlagader von Connewitz. Alster zeigt auf eine verschneite kleine Querstrasse: «Hier haben die Bullen die Neonazis festgenommen.» Mitte Januar randalierten hier rund 250 Neonazis, schlugen alles kurz und klein. Das linke Viertel war praktisch leer, als die rechtsradikalen Hooligans angriffen. Zu dieser Zeit waren viele Leute in der Innenstadt und demonstrierten gegen eine Kundgebung von Legida, dem Leipziger Ableger der Pegida-Bewegung. Etwa 3000 AnhängerInnen feierten ein Jahr Legida, die Gegendemonstration zählte gut 2500  Personen.

An der Wolfgang-Heinze-Strasse sind die Spuren noch sichtbar: Der Waschsalon, das Tattoostudio, die Kneipe Zwille – alle haben Holzbretter statt Fensterscheiben in den Schaufenstern. Besonders schlimm hat es den Kebabladen erwischt. Wegen eines Sprengkörpers sind Teile der Decke eingestürzt, der Laden, in dem auch Sojaschnitzel und vegane Saucen angeboten werden, musste bis auf weiteres schliessen.

Keinen Bock auf Medien

In der Nacht, als die Rechtsextremen zuschlugen, sei die Solidaritätswelle enorm gewesen, erzählt eine Mitarbeiterin des Kinos UT. Viele hätten Bretter gebracht und gemeinsam die Scherben aufgewischt. Was passiert ist, beschäftigt die Leute noch immer – JournalistInnen hingegen haben viele satt. «So komme ich gar nicht mehr zum Arbeiten», sagt die ältere Buchhändlerin. Ihr Laden liegt direkt neben dem Kino, es gab ihn schon zu Zeiten der DDR. Auch hier gingen die Scheiben zu Bruch. «Es ist schlimm», meint sie. «So was haben wir ja 1993 schon mal erlebt – aber die Erinnerung ist verblasst. Es ist ganz schlimm, von neuem.» Im alternativen Spätkauf «Lazy Dog» hat man «keinen Bock» zu erzählen. Vielleicht schlechte Erfahrungen mit den Medien. Auf jeden Fall Totalverweigerung – «do it yourself» und Underground.

Bereits am 12. Dezember 2015 hatten rechtsextreme Gruppierungen im Internet angekündigt, «Connewitz in Schutt und Asche» zu legen. Linke Gruppen riefen zu Gegenprotesten auf. Dabei wurden in der angrenzenden Südvorstadt Müllcontainer verbrannt, es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Haben die ConnewitzerInnen Verständnis dafür, dass Müllcontainer als Blockade angezündet werden? «Ja», findet ein Paar mit Kinderwagen. «Nein», sagt eine alte Frau an der Bushaltestelle. «Die Bewohnerinnen und Bewohner sind es wahrscheinlich gewohnt», meint Aktivist Marvin Alster. «Man muss den Kontext anschauen. Es ist innerhalb eines Jahres nicht gelungen, auch nur eine der zahlreichen Legida-Demonstrationen zu verhindern. Immer wieder wurden Sitzblockaden gewalttätig von der Polizei aufgelöst.» Irgendwann sei das Fass voll.

Pippi und die schwarze Fahne

Auf der Stockartstrasse strahlt der Besucherin eine überdimensionale Pippi Langstrumpf von der Hauswand entgegen. Wenn Kresse und Alster durchs Viertel gehen, grüssen sie im Vorbeigehen hie und da jemanden. Connewitz sei wie ein Dorf, sagt Kresse, man kenne sich. In den neunziger Jahren war die ganze Stockartstrasse – «die Stö» – besetzt, vieles erinnert noch immer daran. Die Wände sind bemalt, an einer Hausfassade hängt eine schwarze Fahne.

Gegen Ende der DDR-Zeit waren viele der Häuser in Connewitz zerfallen. Die Stadt plante, einen Grossteil des Viertels abzureissen. Doch die Bevölkerung wehrte sich, viele Leute besetzten die leer stehenden Häuser. «Das Abrissviertel wurde eine Insel für Hippies, Punks, Gruftis, für junge Linke jenseits der Parteien», schrieb der Leipziger Historiker Sascha Lange über die damalige Zeit. Besetzte Häuser und Kulturprojekte schossen aus dem Boden.

Vom komplett besetzten Strassenzug an der Stockartstrasse haben einige Hausprojekte überlebt. Auch die 1991 besetzten Projekte «Zorro» und «Conne Island» gibt es heute noch. Mit der Zeit kamen verschiedene Bauwagenplätze dazu. Die Projekte sind inzwischen legalisiert: Noch in den neunziger Jahren haben sich verschiedene Wohngruppen zur alternativen Wohngenossenschaft Connewitz (AWC) zusammengeschlossen und erfolgreich mit der Stadt verhandelt.

Vor dem autonomen Hausprojekt «Zorro» stehen drei vierzehnjährige Jungs. Sie proben im Bandraum des Hauses, nun warten sie auf ihren Bassisten. Pop, Blues und «Pink-Floyd-mässige» Musik spielen sie. Wie würden sie das Viertel beschreiben? «Links», sagt einer. Ist das gut? «Besser links als rechts.» Sein Kumpel muss an den Vorfall vor drei Wochen denken: Bei der Fahndung nach den rechtsextremen Hooligans kreiste ein Polizeihelikopter über den Dächern: «Das war wie in einem Computerspiel.» Vor den Neonazis habe er keine Angst, er wohne im obersten Stock. «Aber ich wohne im Erdgeschoss», ruft der, der links besser findet als rechts.

Mit Baseballschlägern

Als Jugendlicher habe er lange Haare gehabt, erzählt Marvin Alster. «Da musste ich oft rennen.» Heute trägt er seine Haare kurz. «Neonazis, die mit Baseballschlägern hinter dir her sind», das habe ihn politisiert. Damals habe kein Konsens darüber bestanden, dass das Viertel «nazifrei» sei. Das wurde in Schlägereien ausgetragen.

Nach dem Mauerfall nahmen rechtsradikale Strömungen in Leipzig zu. Ein Viertel im Leipziger Westen wurde zur No-go-Area für Linke, Männer mit langen Haaren oder MigrantInnen. Auch in den anderen Stadtteilen habe man rechtsextreme Angriffe fürchten müssen, erzählt ein Mitglied der AWC-Genossenschaft: «Wir hatten Gaspistolen dabei und schauten in jedes Auto, das die Strasse entlangfuhr.»

Einen Abend hat der Genossenschafter noch besonders lebhaft in Erinnerung: den 3. Oktober 1991. In Leipzig-Grünau waren Proteste gegen eine Flüchtlingsunterkunft angekündigt, erzählt er. Und eine Gegendemonstration, zu der viele aus Connewitz fuhren. Eine Gruppe Rechtsextremer nutzte die Gunst der Stunde und griff mit Molotowcocktails zuerst eine Connewitzer Kneipe und später die Stockartstrasse an. «Da schmissen wir alles vom Dach, was ging», erzählt der Genossenschafter, «Ziegelsteine, Flaschen, Pyros.» Entgegen seiner Befürchtung gelang es den Neonazis nicht, in die besetzten Häuser einzudringen. «Die Zeit war damals sehr chaotisch», erinnert sich eine andere Genossenschafterin. «Die Polizei war gar nicht da oder hat gewartet, bis es vorbei war. Die waren schlecht ausgerüstet und völlig überfordert.» Connewitz im Jahr 1991 – in ihrer Erinnerung ein praktisch rechtsfreier Raum.

Generell nahm in Ostdeutschland zu Beginn der neunziger Jahre der Rechtsextremismus zu. Rassismus wurde in gewissen Teilen der Bevölkerung salonfähig (siehe WOZ Nr. 32/2015 ). Rechtsextreme griffen 1991 Flüchtlingsunterkünfte in Hoyerswerda bei Dresden und 1992 in Rostock-Lichtenhagen mit Molotowcocktails und Steinen an. AnwohnerInnen schauten zu und applaudierten.

Die Einrichtung der Kneipe Frau Krause hat diese Zeiten überlebt, Originalmöbel aus der DDR-Zeit stehen darin. «Muss ‹Frau Krause› nun eigentlich schliessen?», fragt Lara Kresse. Das weiss Marvin Alster auch nicht genau. Aber die Aufwertung des Viertels und die Verdrängung der weniger Verdienenden werde viel diskutiert, sagen beide. Heute gilt die Messestadt Leipzig als Kultur- und StudentInnenstadt. «Hypezig» ist momentan die Stadt mit den meisten ZuzüglerInnen in Deutschland. «Vorerst hat der linksautonome Mythos die Aufwertung in Connewitz gebremst, aber die Gentrifizierung ist auch hier längst angekommen», erklärt der AWC-Genossenschafter. Auch Leipzigs Bürgermeister, ein Sozialdemokrat, soll vor zwei Jahren nach Connewitz gezogen sein.

Kehren im Viertel nun die neunziger Jahre zurück? «Ja», meint ein Altpunker, der auf einem Bauwagenplatz wohnt. Erst vor kurzem sind dort VW-Busse mit Antifa-Aufklebern angezündet worden. Auch Lara Kresse und Marvin Alster sehen Parallelen zu den Neunzigern: «Die Nazis und Rassisten sind die Speerspitze eines rassistischen Konsenses in grossen Teilen der Bevölkerung», meint Alster. «Und der Verfassungsschutz ist auf dem rechten Auge blind», sagt Kresse.

Sammelbecken für Nazis

«Das Gleichsetzen der radikalen Linken mit rechtsextremen Gruppierungen hat in Sachsen leider Tradition», sagt die Politikerin Juliane Nagel, die für die Linke im Stadtrat sitzt und für den Wahlkreis Connewitz im Landtag. Aber bei Legida werde darüber hinaus negiert, dass die Bewegung von Beginn an ein Sammelbecken für Neonazis und Hooligans gewesen sei. Sachsen ist das einzige Bundesland, dessen Verfassungsschutz Pegida und Legida nicht als extremistische Gruppierungen einschätzt. Dafür aber einen Teil der Leute, die sich gegen Pegida engagieren, das Spektrum reicht von den SozialdemokratInnen über christliche Vereine bis hin zur Antifa.

Politikerin Nagel sieht eine Parallele zu den neunziger Jahren ausserhalb der sächsischen Grossstädte, wo wieder regelmässig gegen Flüchtlingsunterkünfte protestiert wird. Diese Entwicklung werde auch im linken Viertel diskutiert: «Nun traf es Connewitz, aber solche Angriffe kommen auch an anderen Orten vor», sagt die Politikerin. «2015 gab es in Sachsen 146 Angriffe auf Asylunterkünfte.»

In der Wolfgang-Heinze-Strasse kleben derweil überall Zettel: «An alle Connewitzer, deren Autos vom Nazimob angegriffen wurden, bitte meldet euch. Wir versuchen, das Geld gemeinsam aufzutreiben, Solidarität ist eine Waffe!» Im Kulturzentrum Conne Island hat vergangene Woche ein Vernetzungstreffen stattgefunden. Am nächsten Tag sind im Konzertsaal die etwa hundert Stühle noch aufgestellt. Im Treppenhaus stehen Feuerlöscher bereit. Auf dem Bauwagenplatz ist ein Workshop geplant, bei dem ein Pyrotechniker erklären soll, wie man sich vor Brandanschlägen schützen könne. Es ist bereits dunkel, als ein paar Jungs in der Wolfgang-Heinze-Strasse die vor die Schaufenster geschraubten Bretter besprühen. «One block against fascism» steht da. Gemeinsam gegen Faschismus.