Collectio Magica et Occulta: «Da steckt viel mehr als Esoterik dahinter»

Nr. 19 –

Weshalb die Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden so viele okkulte Bücher besitzt. Und wie das mit dem «Häämetli» zusammenhängt.

Heidi Eisenhut

WOZ: Frau Eisenhut, in der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden gibt es eine Collectio Magica et Occulta – was verbirgt sich hinter diesem geheimnisvollen Namen?
Heidi Eisenhut: 2009 machte mich die Gemeindebibliothekarin aus Stein auf eine Frau aufmerksam, die eine grosse Sammlung esoterischer Bücher besitze. Erst rümpfte ich die Nase, aber die Aussicht auf ein Korpus von weit über 10 000 Büchern machte mich dann doch neugierig. Vor Ort wurde mir rasch klar: Da steckt viel mehr als Esoterik dahinter – das ist Kulturgeschichte! Die Themengebiete waren enorm vielfältig: Religionen, Geheimgesellschaften, Theosophie, Anthroposophie, Kabbalistik, Mythologie, Alchemie, Hausväterliteratur aus dem 18. und 19. Jahrhundert mit Rezepten, die an Zauberformeln gemahnten. Magie und Okkultismus standen klar im Zentrum. Und in dieser Tradition war es üblich, alles in Latein auszudrücken, um den Anstrich des Geheimnisvollen zu erhöhen. Warum also diese Tradition für die Sammlung in der Kantonsbibliothek nicht übernehmen?

Wer war die Frau, die all diese Bücher hortete?
Annemarie Aeschbach gehörte zum innersten Zirkel der Psychosophischen Gesellschaft (PG), und von dieser stammen nicht nur die Bücher, sondern auch zahlreiche weitere Materialien, die in ihrer Vielfalt den gesamten Kosmos der PG abbilden. Das macht den Reiz der Collectio Magica et Occulta aus: Tagebucheinträge, Briefwechsel und Materialien zu den verschiedenen Untergruppen der Gesellschaft sowie Objekte, mit denen sich die Gemeinschaft identifizierte und die ihr für rituelle Handlungen dienten. Verschiedene Dolche zum Beispiel.

Fahnen und Schwerter der Abtei Thelema als Kult- und Sammelobjekte. Fotos Objekte: Mario Baronchelli / Kantonsbibliothek AR

Dolche für rituelle Handlungen?
Ja, der Dolch gehörte zusammen mit dem Messbuch, dem Gralskelch und einer ägyptischen Stele zum Gottesdienstritual. Der Gründer der PG, Hermann Metzger, führte Messen nach dem gnostisch-katholischen Ritus des legendären britischen Okkultisten und Sexualmagiers Aleister Crowley durch. Wie so ein Gottesdienst in der Abtei Thelema abgelaufen ist, darüber gibt es widersprüchliche Aussagen. Auf jeden Fall sah Metzger die PG als Nachfolgerin von Crowleys Ordo Templi Orientis, also dem Orientalischen Templerorden. Er suchte ab 1946 intensiv Kontakt zu Personen, die noch mit Crowley in Verbindung gestanden hatten. Auch mit Leuten aus Deutschland, die in okkultistischen Kreisen wie den Rosenkreuzern, der Fraternitas Saturni oder den Illuminaten verkehrten, vernetzte sich Metzger.

Mit welcher Absicht suchte er Kontakt zu all diesen okkultistischen Kreisen?
Gerade in Deutschland hatte der Okkultismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur – mit Bezügen zur Ariosophie und zum Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste man sich sozusagen neu aufstellen, es brauchte eine neue Generation. Metzger bemühte sich sehr darum, sich und die PG als legitime Nachfolger dieser okkulten Gruppierungen zu installieren. So kamen nicht nur zahlreiche Ritualgegenstände nach Stein, sondern auch eine ganze Reihe von Nachlässen. Metzger hatte, das muss man ihm lassen, eine sehr gute Nase dafür, wer spannendes Material haben könnte.

Zum Beispiel?
Wir verfügen dank ihm über den Nachlass von Albin Grau, dem künstlerischen Direktor und eigentlichen Schöpfer des Vampirfilms «Nosferatu», den Friedrich Wilhelm Murnau 1922 gedreht hat. Viele der rund 8000 Bücher unserer Sammlung stammen von ihm. Besonders spannend für uns ist sein künstlerisches Werk, das 688 Blätter mit Grafiken und Malereien umfasst. Im Winter 2016 konnten wir einige dieser Werke ins Lenbachhaus nach München ausleihen. Das Museum bespielte mit ihnen einen ganzen Raum der Murnau-Ausstellung. Und eben haben wir eine Anfrage der Deutschen Kinemathek erhalten, die sehr interessiert ist an Material von Albin Grau. Auch Vampirforscher melden sich bei uns.

Vampirforscher! Die Collectio Magica et Occulta scheint die Appenzeller Bibliothek ja zu einem esoterischen Hotspot zu machen.
Also den Begriff «Esoterik» würde ich vermeiden, der greift zu kurz. Es ist ganz grundsätzlich interessant, was für eine Welt in dieser Sammlung zusammenkommt. Unter dem Dach von Okkultismus und Psychosophie finden sich die unterschiedlichsten Sinnsuchenden. Das ist ein grosser Mehrwert, der in dieser Sammlung drinsteckt und sie dank ihrer Vielfalt wohl einzigartig macht. Als Hotspot würde ich sie insofern bezeichnen, als sie eine grosse Ausstrahlungskraft besitzt, die uns mit interessanten Menschen in Kontakt bringt.

Also doch: Vampirjäger, Verschwörungstheoretiker ...
Natürlich zieht die Sammlung auch Okkultisten der verschiedensten Art an. Ein in Berlin lebender Crowley-Kenner aus den USA besucht uns regelmässig. Wichtig finde ich die internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeiten, die sich daraus ergeben. Und überhaupt: In Appenzell Ausserrhoden gibt es eine lange Tradition von Sektierern und religionsnahen Sondergruppen, die in der charakteristischen Hügellandschaft mit Streusiedlung in Frieden ihr Leben führen konnten. Ich betrachte die Sammlung auch als einen Auftrag, Phänomene zu dokumentieren, die nicht zum Mainstream gehören, aber trotzdem Bestandteil unserer Gesellschaft sind.

Das müssen Sie erklären: Was hat es mit dieser appenzellischen Tradition auf sich?
Bereits im 19. Jahrhundert beschrieb Johann Ulrich Walser, der Grossvater von Robert Walser, in seiner «Sektierergeschichte» ausführlich, wie sich die Menschen hier von religiösen Fragestellungen haben inspirieren lassen und zum Teil auch in der Region missionarisch tätig waren. Schon damals gab es Kommunen mit Böhmisten und Swedenborgianern, die sich auf die grossen Mystiker und Theosophen des 17. und 18. Jahrhunderts bezogen.

Und woher kommt dieses Laissez-faire?
Mentalitätsgeschichtlich ist das schwierig zu fassen. Die Ausserrhoder Gesetzgebung war gerade Naturheilern gegenüber im 20. Jahrhundert offen. Die PG hatte auch ein Labor, in dem unter anderem Schwedenbitter hergestellt wurde. Liberales Gedankengut hat im protestantischen Ausserrhoden sehr früh Fuss gefasst. Im Kantonsratssaal in Herisau sind an der Decke zentrale Etappen der Appenzeller Geschichte verewigt. Und dort steht, ganz am Schluss, der denkwürdige Satz: «Jedem das Seinige». Im Kern ist damit gemeint, dass die Leute in ihrem «Häämetli», in dem sie wohnen, schalten und walten können, wie sie es für richtig befinden. Ein Satz, der bis heute sehr präsent geblieben ist.

Die promovierte Historikerin Heidi Eisenhut (41) leitet seit 2006 die Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden in Trogen.