Kommentar zur zweiten Säule: Der Tabubruch

Nr. 27 –

Die überraschende Einigung zwischen den Sozialpartnern kratzt am Primat der individuellen Vorsorge.

Anders als in der AHV gilt in der Pensionskasse nicht das Umlage-, sondern das Kapitaldeckungsverfahren. Solidarische Elemente sind in diesem System nicht vorgesehen. Das könnte sich jetzt ändern, sollte Bundesrat Alain Berset aus dem Reformvorschlag, den die Sozialpartner am Dienstag präsentierten, eine Vorlage bauen.

Der Arbeitgeberverband, der Schweizerische Gewerkschaftsbund und Travail Suisse haben sich auf Folgendes geeinigt: eine sofortige Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent ab Inkrafttreten der Reform; die daraus resultierenden erheblichen Rentensenkungen sollen im Wesentlichen durch 0,5 Prozent Lohnabzug gegenfinanziert werden. Damit würde ein Umlageelement in der Pensionskasse installiert. Das heisst: Die sehr gut Verdienenden finanzierten die Pensionskassenrenten der schlechter Verdienenden teilweise mit.

Nicht genug damit: Weil die Übergangsgeneration, die demnächst in Pension geht, durch die sofortige Senkung des Umwandlungssatzes nicht mehr zusätzlich Alterskapital ansparen und die Rentensenkung aus eigener Kraft kompensieren kann, erhielte sie in den fünfzehn Jahren ab Inkrafttreten der Reform in Fünfjahresschritten zusätzlich monatlich 200, dann 150 und schliesslich 100 Franken – und zwar bedingungslos und lebenslang. Für Gutverdienende würde dies die Sicherung der Rentenhöhe, für tiefere und sehr tiefe Einkommen sogar eine spürbare Verbesserung bedeuten.

Weitere Elemente des Reformvorschlags sind die Halbierung des Koordinationsabzugs und die deutliche Senkung der Altersgutschriften für die über 55-Jährigen: Die Halbierung des Koordinationsabzugs erhöht die versicherte Lohnsumme. Davon profitierten vor allem Halbtagsangestellte und GeringverdienerInnen, darunter viele Frauen. Letztere erhalten heute durchschnittlich 63 Prozent tiefere Pensionskassenrenten als Männer (bei der AHV beträgt die Differenz 2,7 Prozent). Die Statistik der Ergänzungsleistungen zur Altersvorsorge verdeutlicht diese eklatante Geschlechterungerechtigkeit: Rund 69 000 Senioren sind auf Ergänzungsleistungen angewiesen, bei den Seniorinnen sind es mit knapp 140 000 doppelt so viele.

Die Senkung der Altersgutschriften wirkt vor allem bei den über 55-Jährigen. Statt wie bisher 19 Prozent sollen sie künftig bloss noch 14 Prozent Gutschrift erhalten. Immerhin einen Vorteil hat auch dieser Schritt: Er senkt die Arbeitskosten für ältere ArbeiterInnen – und erhöht ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Das Reformpaket stärkt insgesamt den Sozialversicherungscharakter der zweiten Säule und sichert das Rentenniveau. Die Zusatzfinanzierung über Lohnprozente und deren Umverteilungseffekt von den sehr gut Verdienenden zu den schlechter Verdienenden kommen aus bürgerlicher Perspektive einem Tabubruch gleich. Der Vorschlag kratzt am Primat der individuellen Vorsorge. Das gilt ebenso für die bedingungslose und lebenslange Aufstockung der Renten für die Übergangsgeneration.

Die Sozialpartner rechnen damit, dass ihr Reformpaket rasch in Kraft treten könnte, frühestens aber im Jahr 2021. Das ist allerdings eher Wunschdenken. Denn widerstandslos wird ein solches Paket nicht durchs Parlament kommen.

Die politischen Auseinandersetzungen werden knallhart. Dieser Fight hatte bereits in den Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern einen Paukenschlag zur Folge: Die Verhandlungsdelegation des Gewerbeverbands unter der Führung von FDP-Nationalrat Hans-Ulrich Bigler hatte die Verhandlungen verlassen – und präsentiert nun einen Vorschlag, der die Renten der Übergangsgeneration empfindlich senken würde. Eigentlich, so hört man aus der Verhandlungsrunde, wollen sie gar nichts ändern. Es brauche gar keine Reform. Mit anderen Worten: Die breite Bevölkerung soll selber schauen, wo sie bleibt.

Sollte das Bundesparlament eine Vorlage im Sinne der Gewerkschaften und des Arbeitgeberverbands verabschieden und die Renten sichern, scheint bereits heute klar: Die Rechten ergreifen das Referendum.