Aufstandsbekämpfung: Gegen den inneren Feind

Nr. 35 –

Seit Jahrzehnten erprobt die Polizei in verschiedenen Ländern Strategien gegen soziale Unruhen. Aktuell zeigt sich das am Beispiel Hongkongs. Doch auch die Protestierenden haben Massnahmen entwickelt, um sich zur Wehr zu sezten.

Ausgespäht: Protestaktion vor einem chinesischen Regierungsgebäude in Hongkong. Foto: Chris Mcgrath, Getty

Von einer «neuen Ära der Aufstände» spricht der US-amerikanische Autor Joshua Clover. Beispiele dafür gibt es genug: vom Tahrirplatz in Ägypten über den Gezipark in der Türkei, von den Pariser Banlieues und Tottenham in Nordlondon bis zu Ferguson und Baltimore in den USA. Aktuell liessen sich die Protestbewegung der Gilets jaunes in Frankreich oder die Grossdemonstrationen in Hongkong zur Aufzählung hinzufügen.

Doch ebenso gut könnte von einer neuen Ära der Aufstandsbekämpfung die Rede sein. Bereits im Jahr 2003 warnte die Nato in ihrem Bericht «Urban Operations in the Year 2020» vor «Spannungen», die in Zukunft durch vermehrte «Slums und Armut» in den Städten entstehen könnten und möglicherweise zu «Aufständen, zivilen Unruhen und Bedrohungen für die Sicherheit führen» – und stellte Strategien zur modernen Aufstandsbekämpfung in Städten vor.

Kampf um die Deutungshoheit

Am Beispiel Hongkong lassen sich nun die Strategien beobachten, mit denen die Regierung gegen die Protestbewegung vorgeht. Vor rund zweieinhalb Monaten sind die Demonstrationen in der ehemaligen britischen Kolonie zu Massenprotesten angewachsen. Die Wut der Protestierenden konzentriert sich längst nicht mehr wie anfänglich auf einen geplanten Gesetzesentwurf, der bei Strafverfahren Auslieferungen nach China vorsieht. Sie richtet sich mittlerweile vielmehr gegen den wachsenden Einfluss Chinas und das autoritäre politische System insgesamt.

Seit Wochen prangern die AktivistInnen zudem die massive Polizeigewalt an, mit der das Regime gegen die Bewegung vorgeht. Erst am Wochenende schoss ein Polizist in die Luft, zielten weitere Beamte mit ihren Waffen auf die DemonstrantInnen. China droht zudem mit dem Einsatz der Armee – seit Mitte August ist nahe der Grenze zu Hongkong ein Konvoi von Panzerfahrzeugen der paramilitärischen Polizei stationiert.

Carrie La, die Beijing-treue Regierungschefin Hongkongs, setzt derweil auf ein wenig Zuckerbrot und umso mehr Peitsche und versucht, mit halbherzigen Zugeständnissen Teile der Bewegung zu beschwichtigen. So hat sie einerseits den Gesetzesentwurf auf unbestimmte Zeit verschoben und einen Dialog «mit Menschen aus allen Gesellschaftsschichten» angeboten; andererseits verteidigt sie das Vorgehen der Polizei und ist nicht bereit, die Gewalt von einer unabhängigen Stelle untersuchen zu lassen.

Doch die chinesische Aufstandsbekämpfung zielt nicht nur darauf ab, die Hongkonger Bewegung niederzuschlagen. Vielmehr ist es ein Kampf um die Deutungshoheit der Proteste. So versucht die Regierung, die DemonstrantInnen zu diffamieren, indem sie die Protestierenden als «Terroristen» bezeichnet und mit kakerlakenähnlichem Ungeziefer vergleicht. Die «Chinesische Volkszeitung», das Blatt der Kommunistischen Partei, wirft den DemonstrantInnen zudem vor, von «ausländischen, antichinesischen Kräften» gesteuert zu werden.

Ähnlich war beispielsweise auch der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan vorgegangen, als er 2013 in Istanbul den Gezipark mit Gewalt räumen liess. Er beschimpfte die DemonstrantInnen als «Terroristen und Plünderer» und die landesweiten Revolten als «Verschwörung ausländischer Mächte».

Die Hongkonger Bewegung sollte nun aber auch mit einer gross angelegten chinesischen Propagandakampagne in den sozialen Medien diskreditiert werden, wie Twitter kürzlich publik machte. Der Kurznachrichtendienst hat deswegen 936 chinesische Accounts löschen und ein Netzwerk von rund 200 000 weiteren Accounts sperren lassen. Auch Facebook schaltete diverse Accounts, Websites und Gruppen ab.

Diffamieren und zerschlagen

Die Vorgehensweise der chinesischen Regierung erinnert dabei an die 2003 von der Nato vorgeschlagenen Strategien zur Aufstandsbekämpfung. Auch sie reichten von Informationsbeschaffung und Überwachung bis zu Möglichkeiten, die Kommunikationsfähigkeit der Aufständischen zu blockieren; hinzu kommen zielgenaue Schläge gegen die «feindlichen Kräfte» und zur Wiederherstellung der Ordnung.

Die «perfektionierte Logik der Aufstandsbekämpfung» sei nicht ohne die neuen Technologien der digitalen Überwachung zu denken, analysiert Bernard Harcourt in seinem Buch «Gegenrevolution». Der New Yorker Rechtsprofessor untersucht darin, wie in den USA Kriegsstrategien – einst für den vermeintlich «äusseren Feind» entwickelt – zunehmend gegen den «inneren Feind», die eigene Bevölkerung und politische Proteste, angewendet werden.

Der zentrale Grundsatz der Aufstandsbekämpfung geht laut Harcourt davon aus, dass sich Bevölkerungen aus drei Teilen zusammensetzen: aus einer kleinen, aktiven Minderheit von Aufständischen, die durch breitflächige Überwachung identifiziert, von der Bevölkerung separiert, festgesetzt und zerschlagen werden soll; aus einer kleinen Gruppe von Personen, die sich dem Aufstand entgegenstellen; und aus einer grossen, passiven Mehrheit, die in die eine wie in die andere Richtung gelenkt werden kann – und deren Gunst gewonnen werden soll.

Für Hongkong würde dies somit bedeuten: Mit den kleinen Zugeständnissen und der polizeilichen Repression sollen die radikalen DemonstrantInnen von den gemässigteren Teilen der Protestbewegung und der allgemeinen Bevölkerung abgespalten werden. Mit der Diffamierung und der staatlichen Propagandakampagne soll zudem die Kommunikationsfähigkeit der Aufständischen blockiert und die Loyalität der Bevölkerungsmehrheit sichergestellt werden.

Ein globales Netzwerk

Doch inwieweit lässt sich die moderne Aufstandsbekämpfung auch länderübergreifend vergleichen? Der Soziologe Peter Ullrich forscht in Berlin zu sozialen Protesten. Er spricht von einem «globalen Netzwerk» der Aufstandsbekämpfung – bestehend aus Industrie, Polizei, Militär und Sicherheitspolitik. Dessen Ausprägungen seien lokal jedoch unterschiedlich.

Hinzu kommt: «In China ist der umfassende Zugriff des Regimes ohne rechtsstaatliche Kontrolle permanent, während wir in den westlichen Demokratien eher temporäre Ausnahmezustände beobachten können – wie etwa beim G20-Gipfel in Hamburg», sagt Ullrich. So werde beim sogenannten Summit Policing – den grossen Polizeieinsätzen bei Gipfelprotesten – jeweils auch in Westeuropa punktuell die Aufstandsbekämpfung geprobt. Zu beobachten war dies etwa auch am Wochenende beim G7-Gipfel im französischen Biarritz.

Während diese Mechanismen in der neuen Ära der Aufstandsbekämpfung stetig verfeinert werden, entwickeln auch die DemonstrantInnen ihre eigenen Strategien. In Hongkong etwa fällten AktivistInnen am Wochenende Masten zur mutmasslichen Gesichtserkennung und kappten deren Kabel.