Durch den Monat mit Meral Kaya (Teil 3): Was erhoffen Sie sich von der aktuellen Protestbewegung?

Nr. 25 –

Die Proteste, die der Mord an George Floyd in Minneapolis ausgelöst hat, bewegen auch die Schweiz. Meral Kaya hofft, dass das Bewusstsein dafür, wie tief Rassismus auch hierzulande noch immer verankert ist, endlich in der breiteren Bevölkerung wächst.

Meral Kaya: «Rassisten werden im gegenwärtigen Diskurs meistens als böse Individuen angesehen, die eine Ausnahme darstellen.»

WOZ: Meral Kaya, Black Lives Matter ist in aller Munde, es gibt weltweite antirassistische Proteste. Was geht Ihnen in Anbetracht all dieser Bilder durch den Kopf?
Meral Kaya: Es freut mich, dass so viele Leute auf die Strasse gehen. Das ist anders als noch vor zehn Jahren. Es gibt immer mehr Leute, die sich mit Rassismus als strukturellem Phänomen beschäftigen. Das ist wichtig, denn unsere Gesellschaft ist durch Strukturen organisiert, die auf historisch gewachsenen Machtverhältnissen beruhen und zu Ungleichheiten im Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt, Kultur und weiteren Bereichen des Alltags führen. Heute wird mehr darüber geschrieben, gelesen, aber auch mehr dazu gemacht. Wir sind auf einem Weg, den ich vorsichtig als positiv beschreiben würde.

Was beschäftigt Sie im Moment besonders?
Die Ermordung von George Floyd in den USA ist sehr präsent in meinem Kopf – auch in Bezug auf die Schweiz. Rassistische Übergriffe dieser Art passieren ja auch hier. Darüber müssen wir reden. Das wurde in den letzten Tagen erfreulicherweise intensiv gemacht – wobei die SRF-«Arena» aufzeigte, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben, wenn es darum geht, dass von Rassismus Betroffene für sich selber reden können. Nichtsdestotrotz hörten wir Jovita Dos Santos Pinto im Schweizer Radio, sahen Serena Dankwa im Schweizer Fernsehen, auch Mohamed Wa Baile kam zu Wort. Es ist eine wichtige Tendenz, dass die Stimmen von Schwarzen und People of Color in dieser Debatte mehr Gewicht erhalten.

Das zeigt sich ja nicht zuletzt in den Protesten.
Ja, die Demos in Zürich, Genf und Bern waren von Schwarzen und People of Color organisiert und stark von ihnen geprägt. Das zeugt von politischem Selbstbewusstsein. Es ist wichtig, dass Menschen für sich selber sprechen können und keine Stellvertreterdiskussionen geführt werden.

Spiegelt sich da die Arbeit der letzten Jahre?
Auf jeden Fall. Das Traurige daran ist, dass es so weit kommen musste, bis das Thema Rassismus in der breiteren Öffentlichkeit ankommt. Jetzt müssen wir die Gelegenheit beim Schopf packen und versuchen, das Thema an der Oberfläche zu behalten. Dazu braucht es aber ein gesamtgesellschaftliches Engagement und einen breiteren Willen als bisher.

Im Fokus stehen auch hier insbesondere institutioneller Rassismus und rassistische Polizeigewalt. Woran denken Sie da in erster Linie?
Zuerst an die vielen rassistischen Kontrollen und die Gewalt gegen Schwarze und People of Color. Dann an die Gewalt bei Ausschaffungen, in Asylzentren wie dem Basler Bässlergut, in Gefängnissen und an der Grenze. In all diesen Bereichen folgen Polizei, private Sicherheitskräfte und Grenzwächter in ihrer Arbeit rassistischen Mustern. In diesem Zusammenhang gibt es einige Namen von Betroffenen, die wir nicht vergessen dürfen.

Wer kommt Ihnen dabei in den Sinn?
Mike Ben Peter zum Beispiel, der 2018 in Lausanne nach einem Atemstillstand verstarb, weil ihn sechs Polizisten am Boden fixiert hatten. Dann gab und gibt es immer wieder Tote in Gefängniszellen. In Zürich gibt es den Fall von Wilson A., der bei einer Polizeikontrolle nachfragte, weshalb er kontrolliert werde, worauf ihn die Polizei lebensgefährlich verletzte. In meinen Augen zeugt auch der Fall des später als «Carlos» bekannten Brian K. von klarem Rassismus. Dass ein Zehnjähriger in Handschellen abgeführt wird, ist doch absurd. Ich wage zu bezweifeln, dass das mit einem weissen Kind gemacht würde.

Dieses Bewusstsein kommt gerade in einer breiten Öffentlichkeit an: Was erhoffen Sie sich davon?
Es ist sehr wichtig, ein Bewusstsein zu schaffen, dass sich Schwarze und People of Color auch in der Schweiz einer starken Diskriminierung ausgesetzt sehen. Die dahinterliegenden Mechanismen sind vielerorts dieselben, auch wenn sich das Niveau von Gewalt und Militarisierung zwischen den Ländern unterscheidet. Diese Unterschiede machen es schwieriger, in der Schweiz von Rassismus und rassistischer Gewalt zu sprechen. «Hier gibt es das nicht, oder nur von bösen Rechten», heisst es oft. Rassisten werden im gegenwärtigen Diskurs meistens als böse Individuen angesehen, die eine Ausnahme darstellen. Struktureller Rassismus wird oft nicht anerkannt. Es herrscht hier ein gesellschaftliches Selbstbild von gerecht und neutral. Das ist ein Trugschluss, der sich hoffentlich bald auflöst.

Und doch behaupten noch immer Leute, rassistische Diskriminierung sei weit weg.
Das sagen aber bestimmt nur Personen, die selber privilegiert und nicht von Rassismus betroffen sind. Aus einer solchen Perspektive ist es einfach, so zu argumentieren. Diese Menschen sollten ihren Blick dringend öffnen und nicht nur engstirnig von der eigenen Realität ausgehen. Beim Hinweis auf Privilegien geht es übrigens nicht darum, Menschen zu bewerten, sondern darum, sie darauf aufmerksam zu machen, in welcher Position sie sich befinden – und in welcher nicht. Nur so wird ein Bewusstsein dafür geschaffen, wer von welchen Strukturen profitiert – und wer worunter leidet.

Meral Kaya (36) ist Geschlechterforscherin und lebt in Basel. In der nächsten Ausgabe erklärt sie den Begriff der transformativen Gerechtigkeit – und wie dieses Konzept rassistischer Polizeigewalt entgegenwirken soll.