Aus dem Krankenbett: «Ich bin einer der Menschen hinter den Zahlen»

Nr. 46 –

Immer wieder treten bei Covid-19-Erkrankungen überraschend schwere Verläufe auf. So auch bei unserer Autorin, die hier ihre Erfahrung schildert.

Kristina Lemke

Mein Mitgefühl gehört all denen, die es schlimmer getroffen hat als mich.

Mein Mitgefühl gehört all denen, die einen geliebten Menschen durch Covid verloren haben.

Mein Mitgefühl gehört all denen, die sich nicht von einem geliebten Menschen verabschieden durften.

Mein Mitgefühl gehört all denen, die alleine sterben mussten.

Mein Mitgefühl gehört all denen, die noch lange an den Folgen ihrer Covid-Erkrankung zu tragen haben.

Mein Unverständnis gehört all denen, die Covid mit einer Grippe vergleichen.

Mein Unverständnis gehört all denen, die sich ihrer Freiheit beraubt fühlen und die Massnahmen der Regierungen so auslegen, als dienten sie allein dazu, die demokratischen Grundwerte der Bürger und Bürgerinnen ausser Kraft zu setzen.

Ich bin ein Covid. Ich bin einer der Menschen, die hinter den Zahlen stehen. Statistiken und Zahlen, die wir tagtäglich in den Medien verfolgen. Ich gehöre keiner Risikogruppe an. Meine Symptome sind und waren eindrücklich und verstörend. Denn Covid macht, was es will, die Krankheit ist nicht berechenbar. Ich habe mich bei meinem 84-jährigen Vater angesteckt, der, ausser erhöhter Temperatur und einer Nacht mit starken Gliederschmerzen, einen leichteren Verlauf hatte als ich.

Ich schliesse die Wohnungstür der Wohnung meiner Eltern. Es ist 22.30 Uhr. Ich bin auf dem Weg ins Hotel. Ich bin in Frankfurt. Ich habe meine Eltern ein Jahr lang nicht gesehen. Im Treppenhaus höre ich meinen Vater schreien. Der Laut geht mir durch Mark und Bein. Er schreit wieder und wieder. Ich renne zurück und klopfe gegen die Tür. Mein Vater schreit. Wie ein Tier. Als ich um die Ecke biege, sehe ich ihn, wie er über den Rollator gebeugt im Türrahmen des Badezimmers steht. Seine Beine sind ganz steif und schon fast im rechten Winkel zu seinem Oberkörper. Er hat keine Kontrolle mehr über seine Beine. Eine Stunde stütze ich meinen Vater. Ich bin schweissgebadet. Mein Vater krallt sich am Heizkörper fest und schreit. Ich frage alle Körperteile ab, tut es hier weh? Tut das Bein weh? Ich berühre ihn jeweils an der Stelle, die ich auch erfrage. Er sagt immer Ja. Klar ist, dass er grosse Angst und grosse Schmerzen hat. Mein Vater ist dement und kann nicht mehr sagen, was ihm genau wo wehtut. Meine Mutter und ich sind ratlos. Nach zwei Stunden und der Hilfe eines Nachbarn kriegen wir meinen Vater mit vereinten Kräften ins Bett. Ich gehe ins Hotel. Am nächsten Morgen ruft mich meine Mutter an. Mein Vater ist wieder zusammengebrochen und ins Krankenhaus gebracht worden. Wir warten viele Stunden. Dann kommt der Anruf aus der Klinik. Mein Vater wurde positiv auf Covid getestet.

Übermüdet und unter Schock sitze ich in der Wohnung meiner Eltern. Was heisst das jetzt genau?

Wir würden einen Anruf vom Gesundheitsamt bekommen. Wir warten. Dann rufen wir selbst beim Gesundheitsamt an. Die Stelle ist nur bis 15 Uhr besetzt. Es ist 15.20 Uhr. Und wir wissen nicht, was wir jetzt tun sollen. Dann ruft uns doch noch jemand vom Gesundheitsamt an. Der Mann ist nett und redet furchtbar viel. Ich darf nicht mehr zurück ins Hotel. Jemand soll meine Sachen holen. Wir müssen ab sofort in Quarantäne. Ich habe Angst. Ich nehme an, dass meine Mutter ebenfalls positiv ist, weil sie meinen Vater pflegt. Ich habe Angst, mich anzustecken. Die Wohnung ist klein, und die Vorstellung, vierzehn Tage mit meiner Mutter in dieser Wohnung sein zu müssen, macht mich fertig. Ich miete eine Ferienwohnung.

Die Angst um meinen Vater und jene um mich selbst vermischen sich. Mittlerweile habe ich die Ferienwohnung bezogen, in der ich die Quarantäne verbringen werde. Ich bin erleichtert, dass ich einen eigenen Raum habe. Gleichzeitig fühle ich mich einsam und isoliert. Alles ist fremd. Am Freitag früh bekomme ich Fieber. Der Mann vom Gesundheitsamt ruft mich an. Mein Test war positiv. Der meiner Mutter negativ. Das Fieber steigt. Ich verliere meinen Geschmacks- und Geruchssinn. Ich kann nicht schlafen. Mein Rücken brennt, und ich kann nicht mehr unterscheiden, ob meine Lunge brennt oder die Muskeln. In den Beinen habe ich eigenartige Schmerzen. Ich kann zwei Nächte gar nicht schlafen. Ich warte, bis es endlich hell wird. Am Mittwoch rufe ich nachts den Bereitschaftsdienst an. Die Panik wird zu gross. Ich kann mich nicht beim Bereitschaftsdienst einwählen. Meine Freundin Christine hilft mir. Sie wacht mit mir, beruhigt mich. Die Rettung rufe ich auch an. Die Rettung sagt mir: «Wir kommen nur, wenn es lebensbedrohlich ist.» Die Bereitschaft ruft an, nach drei Stunden. Auch sie kommen nicht. Nur, wenn ich Atemnot habe. Panik, starke Schmerzen, da kommt keiner. Ich soll genau beobachten, ob die Symptome schlimmer werden. Ich sitze in der Nacht und beobachte, ob die Symptome schlimmer werden. «Die Symptome werden meistens sehr schnell schlimmer, das müssen Sie gut beobachten.»

Ich sitze in der Nacht und fürchte mich vor allem davor: dass meine Symptome schlimmer werden und mein Sohn nicht zu mir darf.

Mein Sohn ist elf Jahre alt und in diesem Moment 500 Kilometer von mir entfernt. Es fühlt sich an, als wäre er am anderen Ende der Welt.

Zehn Tage verbringe ich in der Ferienwohnung. Am zehnten Tag wird die Isolation amtlich aufgehoben, genauso amtlich, wie sie verordnet wurde: mit einem Schreiben vom Gesundheitsamt. Ich fahre nach Zürich, nach Hause, endlich. Aber gesund fühle ich mich noch nicht. Dann bekomme ich eine Sinusitis, eine viral ausgelöste Nasennebenhöhlenentzündung. Niemand kann mir sagen, ob das jetzt noch Covid-Symptome sind oder nicht. Ich isoliere mich eine weitere Woche in meiner eigenen Wohnung. Mein Kind habe ich noch immer nicht gesehen. Es bleibt bei seinem Vater.

Mittlerweile geht es mir besser. Ich habe die Krankheit überstanden. Ich bin dankbar. Ich bin erschöpft. Ich bin demütig.

«Long Covid» : Müde, abgeschlagen, unkonzentriert

Je mehr die Forschung dem Coronavirus und den Folgen einer Covid-Erkrankung auf die Spur kommt, desto klarer wird: Die Ansteckungszahlen sollten unbedingt tief gehalten werden. Nicht nur, weil sonst eine Überlastung der Intensivstationen droht. Seit dem Sommer häufen sich Berichte über Infizierte, die noch Monate später gesundheitlich beeinträchtigt sind. Viele leiden unter fortgesetzter Atemnot, Gliederschmerzen, fühlen sich extrem erschöpft, haben Mühe, sich zu konzentrieren, oder beklagen einen anhaltenden Geruchs- und Geschmacksverlust. Betroffen sind Alte wie Junge, schwer Erkrankte wie solche, die kaum Symptome zeigten. MedizinerInnen fassen das Phänomen unter den Begriffen «Long Covid» oder «Post-Covid-Syndrom». Untersuchungen dazu stehen erst ganz am Anfang, Vergleichsmöglichkeiten gibt es keine, weil Langzeitfolgen von Virusinfektionen schlicht unerforscht sind. In Deutschland haben mittlerweile mehrere Spitäler eine «Post-Covid-Ambulanz» eingerichtet, um PatientInnen mit Langzeitfolgen zu betreuen.

Was man weiss: Sars-Cov-2 breitet sich im ganzen Körper aus – weshalb es auch überall Schaden anrichten kann. Manche Schäden sind direkte Folgen einer Covid-Erkrankung, andere treten erst verzögert auf und hinterlassen mitunter bleibende Beschwerden wie eine Herz- oder Lungeninsuffizienz. Auch intensivmedizinische Notfallbehandlungen können längerfristige Spuren hinterlassen. Mittlerweile sind erste Studien zu Long Covid erschienen, die meisten aber noch nicht von FachkollegInnen geprüft. Die Untersuchungen deuten darauf hin, dass Covid-Erkrankte mit einem schweren Verlauf, der einen Spitalaufenthalt nötig machte, häufiger unter Langzeitfolgen leiden. Studien aus England, Irland und Italien etwa – alle mit über hundert PatientInnen – zeigen, dass zwei bis drei Monate nach der Entlassung aus dem Spital noch rund drei von vier Personen über Atemnot, extreme Müdigkeit und weitere Beschwerden klagten. In einer Studie aus dem US-Bundesstaat Nevada mit 233 Covid-Erkrankten, von denen nur acht hospitalisiert waren, berichtet nach drei Monaten noch rund jedeR Vierte über anhaltende Symptome, unter den schwerer Erkrankten sogar zwei von fünf. Auch die jüngst veröffentlichten Zahlen einer Zürcher Studie passen in diese Reihe.

Das Virus wütet selbst im Gehirn: Über 13 Prozent aller Covid-PatientInnen aus New Yorker Spitälern zeigten schwere neurologische Begleiterkrankungen, fast 85 Prozent hatten Geruchs- und Geschmackssinn verloren. In einem kognitiven Test des Imperial College in London, an dem rund 85 000 Freiwillige teilnahmen, schnitten die 3500 positiv Getesteten signifikant schlechter ab. Beeinträchtigt waren vor allem höhere kognitive Funktionen auf der sprachlich-semantischen Ebene sowie Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit. Das umso ausgeprägter, je schwerer sie erkrankt waren: Wer künstlich beatmet worden war, zeigte im Schnitt einen IQ-Punkte-Verlust von 8,5, solche mit milderem Verlauf immerhin noch einen von 6. Die StudienautorInnen warnen vor «chronischen kognitiven Auswirkungen» einer Covid-Erkrankung. 

Franziska Meister