Corona: Was wir über den Feind wissen – und was noch nicht

Nr. 9 –

Covid-19 verläuft oft sehr mild und harmlos. Einige Menschen geraten jedoch in einen lebensbedrohlichen Zustand. Was hat man nach einem Jahr darüber gelernt? Wie therapiert man die Schwerkranken? Und warum dreht ihr Immunsystem durch?

Eins ist inzwischen gewiss: Das Virus tötet Menschen, die ein lädiertes Immunsystem haben. Scans von mit Sars-CoV-2 infizierten Lungen aus dem Fotobuch «Virus» von Antoine d’Agata. © Magnum / Keystone

Martin Bauer geht Ende März 2020 in den Notfall. Er hat Fieber, Gliederschmerzen, einen trockenen Husten und klagt über Herzrasen. Bauer, der in Wirklichkeit anders heisst, ist 59 Jahre alt, etwas übergewichtig und hat einen erhöhten Blutdruck. Hätte er nicht gerade diese lästige «Grippe», fühlte er sich aber eigentlich gesund. Keine zwei Wochen später ist er tot. Gestorben an Covid-19.

Die behandelnden ÄrztInnen beschreiben im deutschen Fachmagazin «Der Anaesthesist», wie sie versucht haben, Bauers Leben zu retten. Als es ihm schlechter geht, wird er auf die Intensivstation verlegt. Plötzlich beginnt sein Immunsystem verrückt zu spielen. Die MedizinerInnen versuchen, ihn zu stabilisieren, und verabreichen ihm ein Medikament, das das Immunsystem herunterfahren soll. Einen Tag später stirbt er, weil mehrere lebenswichtige Organe gleichzeitig kollabieren. Die ÄrztInnen werfen in ihrem Bericht selbstkritisch die Frage auf, ob vielleicht das verabreichte Medikament zum Tod geführt hat.

Das war Covid-19 im Frühling 2020. Kranke füllten die Intensivstationen, und niemand wusste, wie man sie therapieren soll. Die MedizinerInnen testeten Medikamente in der verzweifelten Hoffnung, dass sie helfen, und gleichzeitig wissend, dass sie die PatientInnen auch umbringen können.

Ein Jahr später hat man viel gelernt. Auf den Intensivstationen ist eine gewisse Routine eingekehrt. Doch was genau weiss man über Covid-19? Was macht das Virus im Körper? Und was hilft den PatientInnen?

Nina Khanna ist Infektiologin und leitende Ärztin am Universitätsspital Basel und mitverantwortlich für das Therapiekonzept von Covid-PatientInnen. Die Krankheit entwickle sich in drei Phasen, erklärt Khanna. Im ersten Stadium vermehrt sich das Virus im Körper, man hat kaum Symptome, höchstens etwas Fieber und Husten. Achtzig Prozent der Infizierten durchleben die Krankheit mit milden Symptomen und kurieren sich zu Hause aus.

Bei den restlichen zwanzig Prozent befällt die Infektion die Lunge. Da beginnt die zweite Phase. Die PatientInnen bekommen eine Lungenentzündung, haben zu wenig Sauerstoff im Blut und leiden an Atemnot. Dies tritt meist acht bis zehn Tage nach der Infektion ein. Den Kranken geht es so schlecht, dass sie ins Spital müssen. Die meisten erholen sich dort aber relativ rasch und können nach einer Woche wieder nach Hause.

Im zweiten Stadium vermehrt sich das Virus weniger. Bei zirka zwanzig Prozent der hospitalisierten PatientInnen verstärkt sich in dieser Phase aber der Entzündungsprozess. Khanna nennt es auch die «Hyperinflammationsphase»: «Das Immunsystem überschiesst und löst im ganzen Körper Entzündungen aus. Viele dieser Patientinnen und Patienten benötigen in der Folge organunterstützende Massnahmen und werden auf der IPS – der Intensivstation – gepflegt.» Nur fünf Prozent aller Infizierten geraten in diesen schwersten Zustand. «Die Mortalität ist in dieser Phase am höchsten», sagt Khanna. «Ein Fünftel bis gut die Hälfte der IPS-Patienten sterben – je nach Land variieren die Zahlen.»

Die Therapie

Im Frühling 2020 habe man am Unispital Basel verschiedene Medikamente geprüft, berichtet Khanna. Zum Beispiel eines, das gegen HIV eingesetzt wird, oder ein Malariamittel, das auch bei rheumatischen Erkrankungen helfen kann. Inzwischen weiss man, dass diese Medikamente nichts bringen. Am häufigsten wird heute Dexamethason verabreicht, ein künstliches, entzündungshemmendes Cortison. Das Ebolamittel Remdesivir wird bei hospitalisierten PatientInnen nur in einem frühen Stadium zusammen mit Sauerstoff verabreicht, um die Virenlast im Körper zu reduzieren.

Zudem wird sogenanntes Rekonvaleszentenplasma eingesetzt. Das ist Blutplasma, das aus dem Blut von bereits genesenen Covid-PatientInnen gewonnen wird. Das Plasma enthält Antikörper, die ebenfalls die Vermehrung der Viren drosseln. Das Plasma hilft aber nur, wenn es früh zur Anwendung kommt. Studien zeigten, dass sie in der inflammatorischen Phase nichts mehr bringen würden, sagt Khanna. Das ist auch eine Erkenntnis der letzten Monate: Es muss nicht nur das richtige Therapeutikum sein, es muss auch im richtigen Moment verabreicht werden.

Doch warum überschiesst das Immunsystem in der dritten Phase? Das deutsche «Ärzteblatt» publizierte im Januar einen Bericht, der darstellt, was ablaufen dürfte: Ob eine Coronainfektion ohne Symptome vonstattengeht oder zu einer schweren Erkrankung mit Organversagen und Tod führt, entscheidet sich bereits in den ersten Tagen. Bei denen, die kaum erkrankten, fanden sich im Blut früh die Bestandteile, die spezialisierte Abwehrzellen und Antikörper produzieren. Bei schwer Erkrankten zeigten die Blutwerte bereits im frühen Krankheitsstadium, dass ihr Immunsystem überlastet war. Jener Teil des Immunsystems, der sehr angepasst auf jeweilige Eindringlinge reagiert, war geschwächt. Stattdessen wurden mit Verzögerung die Teile des Immunsystems aktiviert, «die Eindringlinge rasch, aber unkontrolliert angreifen, wobei es leicht zu Kollateralschäden kommt, die mit für den schweren Verlauf der Erkrankung verantwortlich sein können», schreibt das «Ärzteblatt».

Das Immunsystem ist ein höchst komplexes Gebilde. Es wehrt Keime ab, heilt Wunden oder zerstört fehlkonstruierte Körperzellen. Dabei muss es permanent zwischen bösartigen Keimen und freundlichen, nützlichen Mikroben unterscheiden (vgl. «Das haben die Mikroben nicht verdient» ). Im Idealfall arbeitet das Immunsystem wie die isländische Polizei, die stets unbewaffnet unterwegs ist und nie scharf schiesst. Im extremen Krisenfall, wenn ein besonders aggressiver Keim den Organismus existenziell bedroht, hat es aber noch eine Armee im Hintergrund, die sehr unspezifisch auf alles ballert. Die Inflammation, die breite Entzündung der Blutgefässe, ist das Resultat dieser scharfen, aber unspezifischen Immunabwehr. Sie kommt jedoch zu spät und schadet den PatientInnen nur noch.

Die MedizinerInnen sind in dieser Phase genötigt, Cortison zu verabreichen. Das hilft, das hyperaktive Immunsystem zu drosseln. Nur hat dies seinen Preis. Die total geschwächten PatientInnen sind nun allen Keimen praktisch schutzlos ausgeliefert. Sie werden künstlich beatmet, bewegen sich nicht mehr, und die Muskulatur baut sich sehr schnell ab. Wer das überlebt, leidet am Ende fast immer am sogenannten Post Intensive Care Syndrome: Die Betroffenen haben wegen der vielen Medikamente Wahrnehmungsstörungen und sind körperlich massiv beeinträchtigt. Das hat aber nicht direkt mit dem Coronavirus zu tun, sondern ist eine Folge der langen Intensivpflege.

Kinder und Covid

Anders als bei Erwachsenen löst das Coronavirus bei Kindern fast nie schwere Krankheitsverläufe aus. Jedoch können Kinder in seltenen Fällen nach der Infektion eine entzündliche Krankheit entwickeln. Sie hat inzwischen einen eigenen Namen: PIMS, das pädiatrische multisystemische inflammatorische Syndrom. Es kommt am ganzen Körper zu diffusen Entzündungen. Oft haben die Kinder tagelang hohes Fieber, häufig begleitet von Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall und Ausschlägen.

Das Perfide: Die Kinder können das Virus erwischt, doch kaum Symptome gezeigt haben. Erst vier bis acht Wochen später bricht das PIMS aus. «Das PIMS tritt als Überreaktion des Immunsystems zu einem Zeitpunkt auf, wo das Virus selbst schon überwunden ist», sagt Luregn Schlapbach, der am Kinderspital Zürich die Intensivstation leitet. Zwar sei das PIMS höchst selten, betont Schlapbach, doch wenn es passiert, kann es bedrohlich sein.

Bis heute sind in der Schweiz etwas über 60 Kinder am PIMS erkrankt (an Krebs erkranken im Schnitt pro Jahr über 200 Kinder). Etwa die Hälfte der Kinder mit dem PIMS mussten auf der Intensivstation betreut werden, viele davon nach einem Schock und Kreislaufversagen. Die Kinder werden mit entzündungshemmenden Substanzen, unter anderem Cortison und Aspirin, behandelt. Das Cortison hilft – wie bei den Erwachsenen –, das Immunsystem runterzufahren, das Aspirin wirkt unter anderem als Blutverdünner.

Das PIMS ist in vielem vergleichbar mit dem Kawasaki-Syndrom, das man in der Pädiatrie schon länger kennt. Auch beim Kawasaki-Syndrom nimmt man an, dass es durch eine Infektion – eben zum Beispiel durch Viren – ausgelöst wird. Es entzünden sich ebenfalls die Blutgefässe, im ungünstigsten Fall kann das die Herzkranzgefässe betreffen. Dies könnte nun auch beim PIMS auftreten. «Soweit man bisher weiss, überstehen die meisten Kinder das PIMS unbeschadet, wenn sie rechtzeitig und richtig therapiert werden – wobei wir Nachsorgeuntersuchungen empfehlen», sagt Schlapbach. Inzwischen wurden die Behandlungen des PIMS schweizweit standardisiert, um sicherzustellen, dass die Krankheit rechtzeitig diagnostiziert wird und möglichst alle Kinder rasch die optimale Therapie erhalten.

Long Covid

Margret Hund-Georgiadis ist Chefärztin des Rehab Basel, einer Klinik, die auf neurologische Rehabilitation spezialisiert ist. Aktuell werden dort ein Dutzend Covid-PatientInnen betreut, die die Krankheit auf der Intensivstation überstanden haben. Täglich kommen neue hinzu. Zum Teil hängen die Leute noch an der Beatmungsmaschine und müssen langsam vom Sauerstoff entwöhnt werden. Während der langen künstlichen Beatmung schlafft die Atemmuskulatur ab und muss erst wieder dazu gebracht werden, zuverlässig zu arbeiten. Kommt hinzu, dass das Immunsystem der Betroffenen wegen der Cortison-Behandlung reduziert war. Die PatientInnen bringen deshalb oft verschiedene Krankheiten mit in die Reha, die sie sich während der akuten Krankheitsphase eingefangen haben. Das alles wieder einigermassen in Ordnung zu bringen, braucht Zeit. Die Rehabilitation kann ein halbes bis ein ganzes Jahr dauern.

Es gibt aber auch die Long-Covid-PatientInnen, die keinen schweren Verlauf hatten und nie im Spital waren. Sie fühlen sich matt, ständig erschöpft, depressiv und nicht belastbar. Die HausärztInnen sind mit diesen PatientInnen oft überfordert. Weil die Covid-Erkrankung offensichtlich abgeklungen ist, können HausärztInnen die Beschwerden nicht klar zuordnen. Trotzdem sind die PatientInnen zum Teil nicht arbeitsfähig und bräuchten dringend Unterstützung.

Das Rehab Basel startet deshalb noch im März mit einer speziellen Sprechstunde für Long-Covid-PatientInnen. Man wird sie breit testen, um die Symptome möglichst klar zu erfassen und gezielte Rehabilitation anbieten zu können.

Und was ist die Ursache von Long Covid? Hund-Georgiadis vermutet, dass auch in diesen Fällen eine überschiessende Immunreaktion die Beschwerden auslösen könnte. «Es braucht mehr klinische Studien», sagt sie, «da wissen wir einfach noch zu wenig.»

Ob die Long-Covid-Beschwerden wieder verschwinden, wird man erst in einigen Monaten wissen.

Sterben an Covid

Viele ältere Menschen starben in den letzten Wochen in den Schweizer Alters- und Pflegeheimen an Covid-19. Dort gibt es keine Intensivstationen, keine Beatmungsgeräte. Ersticken die Menschen? Nein, sagt Thomas Münzer, das sei eine falsche Vorstellung. Münzer leitet die Geriatrische Klinik in St. Gallen. Am Telefon wirkt er heiter und gelassen, auch wenn man ihm Fragen über das Sterben stellt. Viele der älteren Menschen, mit denen er Kontakt hatte, sagten, sie hätten ein gutes Leben gelebt. Sie wollen keine lebensverlängernden Massnahmen und nicht auf die Intensivstation verlegt werden, falls das Virus sie erwischt. Zahlen kann er keine nennen, aber er schätzt, dass rund die Hälfte lebensverlängernde Massnahmen ablehnt. «Wir unterschätzen die Weisheit dieser Altersgruppe», sagt Münzer. «Wenn ich mit Älteren rede, sagen viele: Wenn es passiert, passiert es halt.»

Wie wird in den Heimen behandelt? Münzer sagt, es sei sehr ähnlich wie im Spital. Solange es den Leuten in der ersten Krankheitsphase einigermassen gut geht, wird auch Physio- und Ergotherapie angeboten, um den körperlichen Abbau zu verhindern. Falls die PatientInnen in die inflammatorische dritte Phase rutschen, wird ebenfalls Cortison verabreicht, um die Entzündung einzudämmen.

«Die Gesunden haben immer Angst, die Covid-Patienten würden an Sauerstoffmangel leiden. Wir haben die Vorstellung, man fühle sich dann wie unter Wasser, schnappe nach Luft und ersticke bei vollem Bewusstsein. So ist es nicht bei Lungenerkrankungen», erklärt Münzer. Der Sauerstoffmangel schreitet im Körper langsam und über Tage voran. Die Leute empfinden keine Schmerzen. Sie werden nur sehr schwach und müde. Der Austausch von Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid funktioniert immer schlechter. Es bleibt zu viel Kohlenstoffdioxid im Blut. «Der Mensch gleitet in eine Schlafphase und driftet von einer Welt in die andere», sagt Münzer. Falls die Betreuenden den Eindruck haben, ein Sterbender leide trotzdem unter Atemnotgefühlen, wird Morphium verabreicht: «Es ist ein gutes Medikament, das Erstickungsgefühle lindert.»

Es sei wichtig, mit den Betroffenen und den Angehörigen über das Sterben zu reden. Nicht nur bei Covid, sondern immer.

Münzer erzählt von einer Patientin, die sehr alt, sehr gebrechlich, aber noch klar im Kopf ist und schon länger findet, sie wäre nicht unglücklich, wenn sie gehen könnte. Sie erwischte das Virus und überstand die Krankheit. «Wir wissen nicht, warum», sagt Münzer. Von solchen Fällen hört man in vielen Altersheimen: hochbetagte RisikopatientInnen, die kaum oder überhaupt nicht krank wurden, obwohl sie eng mit Covid-Kranken in Kontakt waren.

In diesem Bereich klafft eine grosse Wissenslücke. In den letzten Monaten war man – zu Recht – sehr auf die Kranken fokussiert. Warum ein beachtlicher Teil das Virus einfach wegsteckt, war nebensächlich. Es kann mit ihrem Immunsystem zu tun haben. Den Mechanismus genau zu kennen, könnte aber künftig bei der Behandlung der Erkrankten helfen.

Covid-19 – eine Syndemie

Eins ist inzwischen gewiss: Das Virus tötet Menschen, die ein lädiertes Immunsystem haben. Deshalb sind beispielsweise stark Übergewichtige überdurchschnittlich gefährdet. Das Übergewicht geht fast immer mit einem hohen Blutdruck und Diabetes einher. Beides hält das Immunsystem beständig auf Trab. Weltweit betrachtet sind starkes Übergewicht und Mangelernährung klassische Armutskrankheiten. Je schlechter der Bluthochdruck oder der Diabetes medikamentös eingestellt sind, desto grösser ist das Risiko, an Covid-19 zu sterben. Weil das Immunsystem keine Chance mehr hat, adäquat zu reagieren. Deshalb ist Covid-19 nicht einfach eine Pandemie, sondern vielmehr eine sogenannte Syndemie: Mehrere Epidemien treten gleichzeitig auf. Sie laufen nicht nebeneinander, sondern multiplizieren sich. Und das trifft Privilegierte anders als Arme und Einsame. Denn was eine neue Covid-Studie gerade gezeigt hat: Soziale Isolation ist genauso ein Risikofaktor wie das hohe Alter.

Die Akademien der Wissenschaften organisieren regelmässig online «Covid-Foren» zu Fragen wie «Welches sind die Langzeitfolgen von Covid-19?» (9. März 2021, 18.15 bis 19.15 Uhr), «Wie kann man Infektionen mit Covid-19 verhindern?» (23. März 2021) oder «Welchen Einfluss hat Covid-19 auf die Landschaft?» (6. April 2021). Anmeldung erforderlich: https://akademien-schweiz.ch/de/current/events/covid-19-forum.