Brasilien: Sie zünden die Hopfengranate

Nr. 7 –

Implicantes aus Porto Alegre ist die erste von Schwarzen gegründete und betriebene Brauerei Brasiliens. Das Bier – gebraut und vertrieben von zwei Brüdern, ihrem Cousin und Freunden – ist ein Statement gegen den Rassismus und für die Demokratisierung des Biermarkts. Anfeindungen gehören für sie zum Alltag.

  • Heute wird ein Pils gemacht: Braumeister Daniel Dias in der Implicantes-Brauerei.
  • «Unser Bier soll demokratisch sein»: Andrés Amorim, Daniel Dias und Thiago Rosário, die Betreiber der Brauerei. Auf dem Bild fehlt Mitgründer Diego Dias.
  • «Wir sind Pioniere»: Braumeister Daniel Dias und Braugeselle Andrés Amorim bei der Arbeit.
  • Blick vom Quilombo dos Alpes auf das Zentrum von Porto Alegre.
  • «Hier ist alles prekär»: Rosângela da Silva, Anführerin des Quilombo dos Alpes.
  • Aus reinem Gerstenmalz gebraut: Thiago Rosário am Zapfhahn
  • Wer ein Implicantes-Bier kauft, kauft auch eine Haltung: Schwarze Persönlichkeiten der ­brasilianischen Geschichte zieren die Dosen.

Als die Chefs von Implicantes in der Coronapandemie eine Crowdfundingkampagne starteten, um ihre Brauerei über Wasser zu halten, bekamen sie neben viel Zuspruch auch einmal mehr den perfiden brasilianischen Rassismus zu spüren. «Ich sehe schwarz», war noch ein vergleichsweise harmloser Kommentar auf den sozialen Netzwerken. «Schmeckt das Bier nach schwarzem Sperma?», war eher der Ton, oder: «Die Biersorte ‹Marielle Franco› kommt wahrscheinlich zerlöchert.» Es war eine Anspielung auf die Schwarze Stadträtin von Rio de Janeiro, die 2018 erschossen wurde.

Die Macher von Implicantes fühlen sich von solchen Angriffen bestärkt. «Wir spüren dadurch, wie notwendig wir sind», sagt Daniel Dias. «Als Vorbild für andere Schwarze Unternehmer, als Symbol des Kampfs gegen den Rassismus – und natürlich als alternative Brauerei.» Während Dias spricht, kippt er einen Sack geschrotetes Gerstenmalz in einen Stahltank mit Wasser, unter dem eine Gasflamme brennt. «Wir machen heute ein Pils», sagt er. «Es beginnt mit dem Maischen, also der Fermentierung.»

Ein Qualitätsbier für möglichst viele

Dias ist einer der Chefs von Implicantes, der ersten ausschliesslich von Schwarzen gegründeten und betriebenen Brauerei Brasiliens. Die kleine Fabrik mit einer Produktionskapazität von bis zu 10 000 Litern liegt in einem Industriegebiet am Stadtrand von Porto Alegre, in dem es zwei Dutzend weitere kleine Brauereien gibt. Implicantes ist somit Teil der stark wachsenden Craftbrauereiszene in Brasilien. Die alternativen Brauer versuchen, der Dominanz der grossen Firmen etwas entgegenzusetzen, etwa dem schier allmächtigen und omnipräsenten Ambev-Getränkekonzern, der noch vor zehn Jahren den Biermarkt mit seinen industriellen Bieren beherrschte. Dann begann eine Entwicklung, die sich auch in Zahlen ablesen lässt. 2019 registrierten Brasiliens Behörden 1209 Brauereien im Land, fast 1000 davon waren kleine bis mittlere Betriebe, die sich der Produktion alternativer Biere widmeten. Um durchschnittlich 25 Prozent nimmt ihre Zahl jedes Jahr zu.

Darüber hinaus steht Implicantes jedoch auch für den Beginn eines zarten sozialen Wandels in der Branche. Denn der Markt für Craftbier war bislang fast vollständig in der Hand von Weissen, die das Startkapital zur Finanzierung einer Brauerei haben. Implicantes bricht mit dieser Regel. Gegründet wurde die Brauerei von Daniel Dias und seinem Bruder Diego am 20. November 2018. Das Datum wählten sie nicht willkürlich. Es ist Brasiliens «Tag des Schwarzen Bewusstseins», der an die Sklaverei erinnert, die hier erst 1888 endete. Brasilien war das letzte Land auf dem amerikanischen Kontinent, das sie abschaffte.

Vor der Brauereigründung arbeitete Daniel als Ingenieur, Diego verkaufte Reiseversicherungen. In ihrer Freizeit brauten sie Bier in der Küche ihrer Mutter. Dann machten sie ihr Hobby zum Beruf. Mit Eigenkapital kauften sie eine kleine Brauerei: eine Halle mit Braukesseln, Tanks zur Fermentierung, einen Kühlraum zur Lagerung. Dann holten sie ihren Cousin Thiago Rosário dazu, der Erfahrung mit Verkauf und Vertrieb hatte. Ausserdem ist noch der Braugeselle Andrés Amorim dabei, der heute seinen anderthalbjährigen Sohn mitgebracht hat. Amorim assistiert Braumeister Daniel Dias und reisst eine Tüte mit importiertem Hallertauer Hopfen auf, den er alsbald in den Braukessel schüttet. Währenddessen klingt laut und kraftvoll B. B. King durch die Brauereihalle. Es ist der Blues zum Bier.

Die Biere der Implicantes sind typische Craftbiere, werden mit purem Gerstenmalz gemacht – und nicht wie oft in Brasilien mit Mais oder Reis. Sie sind aromatisch, stark, werden teils mit Zitrussäften oder mit Maracuja verfeinert. Die dunklen Biere haben Schokoladen- und Kaffeearomen. Doch die Implicantes-Macher sind bescheiden. Braumeister Daniel Dias sagt, dass man nicht vorhabe, das beste Bier der Welt zu brauen. Aber ein Qualitätsbier zu einem Preis, der es erschwinglich für möglichst viele mache.

Von Beginn an wollten die «Implis», wie sie sich nennen, anders sein, wollten nicht über den Rassismus in Brasilien schweigen, den sie selbst erfahren hatten. «Craftbier ist total elitisiert», sagt der 31-jährige Daniel Dias. Bei dunklen Bieren rekle sich in der Regel eine Schwarze Frau auf dem Etikett, und sie trügen Namen wie «Mulata» oder «Morena» – antiquierte und heute als rassistisch empfundene Begriffe für Schwarze Frauen.

Als die Dias-Brüder einmal ihr Bier auf einer Biermesse präsentierten, sagten weisse Besucher zu den Schwarzen Brauern: «Ihr seid Segregationisten, ihr macht kein Blondes.» Die Weissen fanden das extrem lustig. Nur die Dias-Brüder lachten nicht. In den sozialen Netzwerken bekamen sie schon früh beleidigende Nachrichten. «Wir wollen euer Sorghum-Bier nicht», schrieb einer. Sorghum ist eine Getreideart, aus der in Afrika traditionell Bier gemacht wird.

Wie tief der Rassismus in den elitären Zirkeln Brasiliens verwurzelt ist, bekam auch eine junge Schwarze Biersommelière zu spüren, die in einer Whatsapp-Gruppe mit 200 fast ausschliesslich weissen KollegInnen beschimpft und lächerlich gemacht wurde. Sie war so mutig, den Fall öffentlich zu machen.

Der Name der Brauerei, Implicantes, ist als Reaktion auf solche Angriffe und Diskriminierungserfahrungen zu verstehen. Er bedeutet so viel wie «Provokateure» oder «Aufrührer». «Wir wollen Dinge auf den Plan rufen, die in unserer Gesellschaft stillschweigend akzeptiert werden», erklärt Daniel Dias.

Dazu gehört für ihn auch, dass Craftbier wie alle etwas teureren Konsumprodukte in Brasilien vor allem von Wohlhabenden – sprich Weissen – gekauft wird. «Unser Bier soll demokratisch sein», sagt Dias. Allerdings, gibt er zu, sei das erste Implicantes-Bier eine «mittlere Katastrophe» gewesen. «Wir hatten Probleme mit der Kühlung und mussten tausend Liter wegschütten.»

Auf seinem Arm trägt Daniel Dias eine auffällige Tätowierung. Sie zeigt eine Hopfenfrucht mit einem Zünder. «Eine Hopfengranate», scherzt Dias. Das Tattoo verdeutlicht recht gut den kämpferischen Geist der «Implis». Sie halten mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Wer ihr Bier kauft, kauft auch eine Haltung. Ein Blick auf die Etiketten reicht, um das zu sehen.

Eine schwarze Katze mit gelben Augen

Dort ehrt Implicantes Schwarze Persönlichkeiten der brasilianischen Geschichte, die in der offiziellen Geschichtsschreibung, etwa in Schulbüchern, kaum Beachtung finden. Ihr American Brown Ale haben sie «Abolicionista» genannt und Luís Gama aufs Etikett gehoben, einen Anwalt, der schon Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die Sklaverei stritt. Ihr Session Ale ist eine Hommage an die Schwarze Schriftstellerin Maria Firmina dos Reis, deren 1859 erschienener Roman «Úrsula» das Leben in der Sklaverei beschrieb. Sie gilt als die erste Schriftstellerin Brasiliens. Schliesslich wird auch Leônidas da Silva mit einem Pils geehrt, einer der wichtigsten Schwarzen Fussballer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Etiketten der Implicantes haben etwas Grelles und Comichaftes und einen hohen Wiedererkennungswert. Sie werden von Diego Dias entworfen, der heute nicht in der Brauerei ist, weil er es wegen der Coronapandemie vorzieht, zu Hause zu bleiben. Als Logo der Marke hat er eine schwarze Katze mit gelben Augen designt. «Viele Menschen glauben ja, eine schwarze Katze bringe Unglück», erklärt er am Telefon und lacht. «Das ist Quatsch. Sie bringt enorm viel Glück.»

Implicantes ist jedoch nicht nur als «Schwarze» Brauerei eine Besonderheit in Brasilien, sondern ganz generell als von Schwarzen gegründetes mittelständisches Unternehmen. Denn obwohl rein statistisch rund die Hälfte aller neuen Unternehmen heute von Schwarzen angemeldet wird, sind viele dieser Betriebe kleine und aus der Not geborene Versuche, sich über Wasser zu halten, etwa durch den Verkauf von Essen. Studien haben ergeben, dass fast achtzig Prozent der von Schwarzen registrierten Unternehmen nur bis knapp 4000 Franken im Jahr umsetzen. Lediglich acht Prozent setzen mehr als 6000 Franken um. Hier beginnt die Dominanz der «weissen» Unternehmen. Schwarze Konzernchefs und Managerinnen gibt es so gut wie keine. Die Dominanz von Weissen in Machtpositionen setzt sich in den Medien und der Politik fort. Aktuell gibt es keine Schwarze Ministerin, keine Schwarzen am Obersten Gerichtshof und keine Schwarzen Landesgouverneure. Das ist umso schockierender, als der Anteil der Schwarzen an der brasilianischen Bevölkerung 56 Prozent beträgt.

«Ich liebe euch»

Bis heute gleicht Brasilien einer feudalen Gesellschaft, in der die sozialen Rollen klar verteilt sind. Umso bemerkenswerter ist der Aufstieg einer Firma wie Implicantes. «Wir sind Pioniere», sagt Daniel Dias. «Vorboten einer neuen Zeit, in der sich hoffentlich einiges ändern wird.» Die Hoffnung ist nicht unbegründet, weil durch die Quotenpolitik, die in der Regierungszeit der linken Arbeiterpartei (2003–2016) eingeführt wurde, viele junge Schwarze Zugang zu höherer Bildung bekamen – und sich ihnen folglich mehr und bessere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt boten.

Nun mag man einwenden, dass die soziale Militanz von Implicantes bloss Marketing sei; dass sie dadurch geschickt eine Marktlücke füllen würden. Aber sie ist kein blosses Lippenbekenntnis. Die Brauerei spendete schon die Erlöse aus dem Verkauf eines Biers an Überschwemmungsopfer in Moçambique. Und jetzt, während der Pandemie, bringen die Brauer Lebensmittelpakete zu den hundert Familien des Quilombo dos Alpes am hügeligen Stadtrand von Porto Alegre. Als Quilombos werden in Brasilien die Siedlungen von Nachkommen einst geflohener SklavInnen bezeichnet, die bis heute einen besonderen Schutz geniessen – der allerdings allzu oft missachtet und verletzt wird.

Kämpferische Anführerin des Quilombo dos Alpes ist die 52-jährige Rosângela da Silva, Enkelin der einstigen Gründerin. Als Thiago Rosário von Implicantes eines Mittags ins Quilombo kommt, um Lebensmitteltüten zu verteilen, sagt sie, dass man von hier oben zwar die Stadt sehe, aber die Stadt das Quilombo ignoriere. «Strom, Wasser, Infrastruktur – alles ist prekär, man verweigert uns unsere Rechte als Bürger.» Deswegen sei sie umso dankbarer für die Hilfe der Bierbrauer mitten in der Pandemie.

Dabei wurde Implicantes zunächst selbst hart von der Pandemie getroffen. Einst hatten die Dias-Brüder vor, ihre Biere in Bars und Restaurants zu verkaufen, aber sie mussten feststellen, dass die meisten schon feste Verträge mit anderen Lieferanten hatten. Also konzentrierten sie sich auf Feste, Hochzeiten und Abschlussfeiern. Das Coronavirus beendete ihr Geschäft mit einem Schlag.

Von der Pleite bedroht, starteten sie einen Aufruf zum Crowdfunding. Sie baten um 150 000 Reais, um Implicantes zu retten. Am Ende kamen fast 200 000 Reais (rund 33 000 Franken) zusammen, gespendet von 1700 Personen. So konnte die Brauerei weiterarbeiten. Jeder Spender, jede Spenderin bekam als Dankeschön einige Dosen Bier sowie Becher mit dem Thema der Implicantes: «Fuck Rassismus!»

In der Brauereihalle macht sich nun der typische Malzgeruch breit, während aus den Boxen mittlerweile brasilianischer Hip-Hop dröhnt. Ein paar Stunden später werden Daniel Dias und Andrés Amorim ein weiteres Pils gebraut haben, das dann zur Reifung in die Kühltanks kommt.

Am Abend setzt sich Thiago Rosário ins Auto und fährt kreuz und quer durch Porto Alegre zu verschiedenen Adressen. Einmal klingelt er an einem Haus in einem Mittelklasseviertel. Nach einer Weile öffnet ihm ein kräftiger Schwarzer. «Ich bringe unser Dankeschönpaket für deine Spende», sagt Thiago und überreicht vier Dosen Bier sowie zwei Tassen. Der Empfänger freut sich. «Was für eine schöne Überraschung», sagt er. «Ich liebe euch. Ihr macht eine ganz wichtige Sache. Ich musste euch einfach unterstützen.»