Mikrobiom: Das haben die Mikroben nicht verdient

Nr. 9 –

Alles möglichst keimfrei: Covid hat diese Tendenz noch verstärkt. Doch der Kampf gegen Mikroorganismen und Dreck kann selbst zum Risiko werden – das Leben braucht Bakterien.

Und immer die Frage, was hilft den PatientInnen, was könnte sie umbringen? GesundheitsarbeiterInnen und Staatsangestellte in Taverny, Nordfrankreich. Serie aus dem Fotobuch «Virus» von Antoine d’Agata. © Magnum / Keystone

Wir sind noch sauberer geworden – waschen uns nicht nur die Hände fleissig, sondern desinfizieren sie jetzt auch zehnmal am Tag. Und es hilft: Dank der Covid-Hygienemassnahmen können sich auch Grippe und Erkältungskrankheiten weniger ausbreiten. Doch die neue Sauberkeit hat etwas Zwiespältiges: Sie nährt die Illusion, wir könnten unsere Umgebung keimfrei halten. Und sie verstärkt den ohnehin schon schlechten Ruf von Mikroorganismen als bösen Eindringlingen, die es zu bekämpfen gilt.

Dieses Negativimage wird insbesondere Bakterien nicht gerecht – viele von ihnen machen nicht krank, sondern sind lebensnotwendig. Ein erwachsener menschlicher Körper enthält etwa zwei Kilo von ihnen und damit mehr Bakterien- als «eigene» Zellen. Die Gesamtheit der Mikroorganismen in und auf dem Körper wird Mikrobiom genannt. Seine Erforschung ist noch jung: 2007 startete in den USA das «Human Microbiome Project» – es entdeckte über 10 000 neue mit Menschen assoziierte Bakterienarten. Insbesondere die Darmflora beeinflusst den ganzen Körper: Darmbakterien lösen Nährstoffe aus schwer verdaulichen Pflanzenfasern heraus, stellen Vitamine her und wehren Krankheitskeime ab, wenn etwas leicht Verdorbenes im Bauch landet.

Training fürs Immunsystem

Die Zusammenarbeit ist elementar: Ohne Mikroorganismen kann sich der Körper nicht gesund entwickeln. Bakterien sind entscheidend am Aufbau des Immunsystems in den ersten Lebensmonaten beteiligt. Die ersten hilfreichen Mikroorganismen erhält das Baby dabei aus dem Geburtskanal der Mutter – diese «Impfung» lässt sich auch nach einem Kaiserschnitt nachholen, indem man Neugeborene mit Vaginalsekret einreibt. Körperkontakt gibt weitere Bakterien über die Haut weiter, und Muttermilch züchtet die passenden Mikroorganismen im Darm des Kleinkinds heran. In den ersten Monaten lernt das Immunsystem, Eigenes von Fremdem zu unterscheiden. Zum Eigenen gehören aber eben nicht nur Körperzellen, sondern auch das Mikrobiom.

Bald wird die Umgebung immer wichtiger: «Das Immunsystem braucht die richtigen Trainingspartner», sagt Urs Jenal, Professor für Mikrobiologie an der Universität Basel. «Menschen gibt es seit einer halben Million Jahren – die heutigen Hygienestandards seit knapp hundert. Wir sind nicht für ultrareine Umgebungen gemacht.» Wenn das Immuntraining in der Kindheit zu knapp ausfällt, kann das später Konsequenzen haben. Ein Beispiel sind die in der Umwelt weitverbreiteten Helicobacter-Bakterien: Wenn sie ein Kleinkind besiedeln, sind sie harmlos. Wer hingegen erst im Erwachsenenalter mit ihnen in Kontakt kommt, riskiert eine Magenschleimhautentzündung oder sogar Magenkrebs.

Neben übersteigerter Hygiene gibt es eine weitere grosse Gefahr für die Entwicklung des Immunsystems: Antibiotikabehandlungen in den ersten Lebensmonaten. Sie wirken sich negativ auf den Mikrobencocktail aus, und in diesem Alter können Veränderungen des Mikrobioms fatal sein: Sie stehen im dringenden Verdacht, Autoimmunerkrankungen auszulösen, von Asthma über Neurodermitis bis zu multipler Sklerose oder Morbus Crohn. Die Mikrobiomforschung finde immer neue Korrelationen zwischen Krankheiten und Veränderungen im Mikrobiom, sagt Jenal. «Aber um die Auslöser dieser Krankheiten zu bestimmen, braucht die Wissenschaft mehr als das, nämlich klare Kausalitäten.» Diese aufzuzeigen, sei nicht einfach: «Bei Adipositas, extremem Übergewicht, ist das Mikrobiom stark verändert. Aber verändern sich diese Bakterien aufgrund veränderter Essgewohnheiten, oder sind es Veränderungen im Mikrobiom, die für das Übergewicht verantwortlich sind?» Tierversuche weisen auf Letzteres hin: Werden Mäuse kurz nach der Geburt eine Zeit lang mit tiefen Antibiotikadosen gefüttert, werden sie adipös – weil ihr Mikrobiom gestört ist.

Was hat das alles mit Covid zu tun? Einen direkten Zusammenhang zwischen dem Virus und dem Mikrobiom gibt es nicht, aber einen wichtigen indirekten: Autoimmunerkrankungen und Adipositas erhöhen das Risiko für einen schweren Covid-Verlauf deutlich (vgl. «Was wir über den Feind wissen … » ).

Die ganz persönliche Mischung

Die Mikrobiomforschung weckt Hoffnungen: Lassen sich viele Krankheiten mit den richtigen Bakterien lindern, vielleicht sogar vermeiden? Tatsächlich kann man heute mit Stuhltransplantationen Leben retten, wenn die Darmflora dramatisch aus dem Gleichgewicht geraten ist. Darüber hinaus sei aber noch viel Forschung nötig, sagt Jenal: «Jede Person trägt eine andere Mischung von etwa tausend verschiedenen Bakterienarten in sich. Wir wissen aber noch nicht, welches der minimale Cocktail ist, den es braucht, um gesund zu bleiben.»

In ein paar Jahren könnte es möglich sein, für jedeN eine personalisierte Probiotikamischung zu finden. Bis dahin gelten die Binsenwahrheiten aus dem Gesundheitsratgeber: Natürliche Geburt und Stillen sind gut, Bewegung und ballaststoffreiche Nahrung auch; mit Alkohol, Zucker und Fett sollte man es nicht übertreiben. Und Antibiotika gehören nur da eingesetzt, wo sie wirklich nötig sind. «Wir sollten Antibiotika auf keinen Fall schlechtreden», betont Jenal. «Keine andere medizinische Errungenschaft hat so viele Leben gerettet. Aber wenn wir sie falsch einsetzen, verlieren sie ihre Wirkung. Und dann wird es übel.»