Durch den Monat mit Tadzio Müller (Teil 4): Welche Fehler haben Sie gemacht?

Nr. 12 –

Mit dogmatischer Analyse geht es nirgendwohin: Warum sexuelle Befreiung für Tadzio Müller auch Antifaschismus sein kann und was Klimaaktivismus mit magischem Realismus zu tun hat.

Tadzio Müller: «Es ist ganz klar, dass jetzt in der Klimabewegung die jungen ­People-of-Color-Genossinnen die Geschichte weitererzählen müssen.»

WOZ: Tadzio Müller, ist Ihr Fokus auf sexuelle Emanzipation auch ein Stück weit ein Rückzug in den Individualismus?
Tadzio Müller: Nein, das sehe ich nicht so. Ich komme aus der Post-68er-Linken, wo es nicht nur um Verteilungsgerechtigkeit ging, sondern auch um ein emanzipiertes Leben. Und schon in den Siebzigern gab es die Erzählung, dass eine sexuell repressive Gesellschaft keine freie Gesellschaft sein kann. Das ist nicht zuletzt als Reaktion auf die Faschismusanalysen aus den dreissiger Jahren spannend. Die klassische marxistisch-leninistische Analyse hatte ja behauptet: Der Faschismus hat das Kleinbürgertum und das Lumpenproletariat mobilisiert und war quasi ein Werkzeug des Grossbürgertums gegen den Sozialismus.

Was ist daran falsch?
Es ist nicht völlig falsch, aber es ist viel zu dogmatisch. Ich finde, dass es Wilhelm Reich interessanter analysiert hat: Der Faschismus sei deshalb so populär, weil er die Menschen im Bauch abhole und nicht im Kopf. Und es ist doch so: Wenn Leute ein Asylheim anzünden, dann ändert das überhaupt nichts an ihrer Scheisssituation, aber es gibt ihnen ein Ermächtigungsgefühl. Es sind Affekte, die da mobilisiert werden, nicht die Ratio. Theodor Adorno hat sich aus genau diesem Grund ja irgendwann in den reinen Rationalismus zurückgezogen. Er merkte, dass die Nazis Bauchgefühle eh besser mobilisieren konnten. Eine furchtbar deprimierende Haltung! Demgegenüber lassen sich die Bewegungen der späten sechziger und der siebziger Jahre nicht nur als individualistische, sondern eben auch als kollektive linke Befreiungsprozesse verstehen.

Im Rückspiegel betrachtet, hat die 68er-Bewegung aber auch sehr chauvinistische Formen angenommen.
Das stimmt teilweise sicher, ist aber längst nicht alles. Und ich glaube eben, es muss ganz viele verschiedene politische Geschichten geben. Ein emanzipatorisches Konzert. Wenn wir uns jede politische Erzählung als einzelnes Instrument vorstellen, dann könnten die Sex- und Körpererzählungen die Streichinstrumente sein, die das Ganze tragen. Auch ich selbst spielte bis jetzt wohl die Pauke. Oder eine Tuba. Und in der Klimabewegung habe ich auch Fehler gemacht.

Welche Fehler?
Ich war zum Beispiel nicht in der Lage, meine Sprechrolle schnell genug loszulassen, als es an der Zeit war – und habe mich teilweise inakzeptabel chauvinistisch verhalten. Dabei ist ganz klar, dass jetzt die jungen People-of-Color-Genossinnen die Geschichte weitererzählen müssen. Ich selbst kann derzeit ohnehin nicht zaubern.

Was soll das heissen?
Klimaaktivismus hat ja immer etwas mit magischem Realismus zu tun: Da ist eine gewaltige Lücke zwischen dem, was möglich ist, und dem, was notwendig wäre. Diese Realitätslücke muss man mit irgendwas überbrücken, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Mit einem magischen Mittel, einem Zauberspruch gewissermassen.

Einem Zauberspruch?
Für manche ist das die Green Economy oder irgendein technologischer Deus ex Machina. Für mich war es hingegen immer die Bewegung. Fast zwanzig Jahre lang verkündete ich den Gospel der Bewegung und erzählte, dass sich so – und nur so – etwas verändern lasse. Nach all den Niederlagen fühle ich mich nun wie ein Hohepriester, der mitten in seiner Predigt merkt, dass er nicht mehr an Gott glaubt. Ich merke, ich kann nicht mehr. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass der Kampf aufhören soll, das wäre unverantwortlich!

Zumal die Klimabewegung mit Fridays for Future doch auch in Deutschland eine neue Dynamik erhalten hat, oder?
Ja, auch ich habe daraus Hoffnung geschöpft, bevor die Coronapandemie kam. Ich habe bei den Fridays natürlich nicht mitzureden, aber in meinen Augen haben sie einen entscheidenden Fehler gemacht. Im September 2019 waren in Deutschland 1,4 Millionen Menschen auf der Strasse, und die Bundesregierung legte ein Klimapäckchen vor, das inhaltlich komplett lächerlich war, eine echte Beleidigung. Es war September, es war warm – und die Fridays hätten sagen können: «Wir gehen nirgendwohin, wir bleiben auf der Strasse.» Aber sie gingen nach Hause. Das ist völlig nachvollziehbar, handeln sie doch auf Basis anderer Erfahrungen als ich. Sie erwarteten, dass das politische System liefern würde.

Was darf man denn überhaupt erwarten?
Zurzeit sieht es ehrlich gesagt ziemlich dunkel aus. Trotzdem bleibe ich dabei: Wenn Gutes passiert, dann nur unter Bewegungsdruck. Denn auch wenn die grosse Utopie der globalen Klimagerechtigkeit immer unmöglicher wird: Der Kampf für ein befreiteres, besseres, gerechteres Leben lohnt sich immer. Überall. Und er wird Geschichten brauchen. Meine handelt nun eher von Körpern, Sex und Ekstase. Denn ohne diese wird es keine linke Politik geben und deshalb auch kein besseres Leben.

Zum Abschluss möchte Tadzio Müller (44) gerne noch den uruguayischen Autor Eduardo Galeano zitieren: Eine Utopie sei wie der Horizont, schrieb dieser, sie weiche zurück, wenn man sich auf sie zubewege. «Wofür ist sie also da, die Utopie? Dafür ist sie da: um zu gehen!»