Von oben herab: Und täglich grüsst die Fledermaus

Nr. 33 –

Stefan Gärtner über die konfuzianische Entwicklungsdiktatur

Neulich las ich ein Buch über China, und das Buch handelte davon, dass das, was in der Zeitung über China stehe, nicht stimme. China sei keine knüppelharte Parteidiktatur; vielmehr entscheide in China der grösste Sachverstand, und den habe nun einmal die Partei. Entschieden werde überdies nicht zugunsten von Shareholdern oder einer Bourgeoisie, sondern zugunsten der Allgemeinheit. Gehe es um Xi Jinpings «Chinesischen Traum», also um die Wiedergeburt Chinas, dann gehe es um möglichst grossen Wohlstand für wirklich alle.

Das ist nicht ohne Weiteres vom Tisch zu wischen, wenn man die bürgerliche Demokratie für die Interessenvertretung des Kapitals hält, und wann immer jemand ins Auto steigt, den Motor anlässt und dann erst einmal minutenlang ins Handy glotzt, wünsche ich mir das chinesische Sozialkreditsystem, das derlei Blödheiten dann vielleicht mit ein paar Wochen Benzinsperre bestraft. Nach Meinung des deutschen Buchautors, der fast drei Jahrzehnte lang in China gelebt hat, ist uigurischer separatistischer Terrorismus nicht einfach nur ein Märchen, und da habe ich dann wieder die Wahl: ob ich der gewohnten Berichterstattung vertraue, wonach halbe uigurische Familien grundlos in Umerziehungsknästen verschwinden, oder der chinafreundlichen Version, der zufolge eigentlich alles in Ordnung ist. Auch in kalten Kriegen ist das erste Opfer die Wahrheit, und dass ich den Berichten über die Lager glaube, ist zuallererst eine Wahrheit über mich.

Die NZZ berichtet nun über den Fall des Schweizer Biologen Wilson Edwards, den chinesische Medien als Gewährsmann für die internationale Voreingenommenheit präsentiert haben, was den möglichen Corona-Ursprung in China angeht: «Die These, dass das Virus aus einem Labor in Wuhan entwichen sein könnte, sei eine Verunglimpfung seitens der USA und entbehre jeglicher wissenschaftlicher Evidenz. Die Nachrichtenagentur Xinhua, ‹China Daily›, ‹Global Times›, der Fernsehsender CGTN, auch viele chinesischsprachige Medien-Websites mit geringerer Reichweite zitieren Edwards. Überall macht der Schweizer Biologe die Runde.» Die Pointe: Es gibt keinen solchen Wilson Edwards. Die Schweizer Botschaft jedenfalls twitterte, sie kenne keinen Schweizer dieses Namens und habe auch keine Forschungsarbeiten von ihm auftreiben können. Sie bitte, die Falschmeldung zu berichtigen; tatsächlich verschwand die Meldung von den chinesischen Seiten, was, sagt ein Fachmann, für über falsche Facebook-Profile verbreitete Regierungspropaganda eigentlich untypisch sei. Swissinfo ergänzte, das gefälschte Facebook-Konto sei «schlecht gemacht».

Uwe Behrens, von dessen Buch eingangs die Rede war, würde wohl sagen, es sei dies ein neuerlicher Fall von Diskreditierung, irgendwer müsse Peking das untergejubelt haben, und wie ehrlich China sei, zeige sich daran, dass es die Meldung nicht mehr gebe. Ich selbst glaube die Laborthese natürlich auch nicht, mir leuchtet eher ein, dass Corona von den Fledermäusen stammt, die in China zu den Schweinefüssen gegessen werden. Ich verstehe nichts von China, ich muss das glauben, was ich darüber lese, und wenn ich denke, ich würde alles glauben, was ich in deutschen Medien über die Schreckensherrschaft des Sozialismus in der DDR lese, dann bleibe ich vorsichtig und sehe auf Youtube alte Fernsehreportagen (West) aus der Zeit vor dem Mauerfall, die grösserenteils von einer erschütternden, weil nämlich längst vergangenen Fairness sind.

Die chinesisch-konfuzianische Entwicklungsdiktatur ist mir nicht sympathisch; das muss nicht heissen, dass ich nicht einem medial verzerrten Chinabild auf den Leim gehe, was wiederum nicht heissen darf, jemandem, der «die Wahrheit» weiss, gleich um den Hals zu fallen. Stimmen wird, was plausibel ist. Was Corona betrifft, sind das die Fledermäuse.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop/buecher.