Nordirak: Flucht aus der «Oase»

Nr. 47 –

Unter den Flüchtlingen in Belarus befinden sich viele Kurd:innen aus dem Nordirak: Sie fliehen nicht vor einem Krieg, sondern vor Unterdrückung und dem wirtschaftlichen Niedergang ihrer Heimat.

Masrur Barsani, der Premierminister des Nordirak, befand Mitte November dieses Jahres bei einer Regionalkonferenz, dass Kurdistan eine «stabile Oase» in der Region sei. Das erscheint angesichts der Tatsache, dass wenige Tage zuvor die Leiche von Gaylan Delir Ismael nach Erbil zurückgeflogen worden war, reichlich zynisch. Der 25-jährige Nordiraker war in einem Wald nahe der belarusisch-polnischen Grenze gestorben, wo immer noch Tausende um ihr Leben fürchten. Medienberichten zufolge befinden sich mehrheitlich Kurd:innen aus dem Nordirak unter den Geflohenen, die in Belarus gestrandet sind, seitdem der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko im Mai angekündigt hatte, die Kontrollen für die nach Westeuropa reisenden Migrant:innen zu lockern.

Dabei gilt Südkurdistan, wie die Einheimischen das Autonomiegebiet nennen, als stabile Region in einem von Bürgerkrieg und Terror verwüsteten Land. Dennoch sehen viele Menschen hier keine Perspektive für sich – und das Flüchtlingsdrama an der europäischen Grenze führt vor Augen, was in den letzten Jahren weniger offensichtlich war: dass die Situation für viele Kurd:innen im Nordirak so unerträglich ist, dass sie lieber den Weg ins Ungewisse wählen. Sie fliehen vor dem korrupten System der eigenen Regierung und einer nicht enden wollenden Wirtschaftskrise, die seit dem Ölpreisverfall 2013 und dem Platzen der Immobilienblase anhält und die durch die Coronapandemie zusätzlich verschärft wurde. Reisebüros in Irakisch-Kurdistan bieten Pauschalreisen nach Minsk an, von wo aus die Menschen Tausende Franken an Schmuggler:innen zahlen, um zu versuchen, in die EU zu gelangen. Die Diktatur ist eines der wenigen Länder, für die Iraker:innen bisher problemlos Touristenvisa erhielten. Diese Ostroute gilt als ungefährlicher, weil nicht das Risiko besteht, im Mittelmeer zu ertrinken.

Die Talabanis und die Barsanis

Die Kurd:innen im Irak sind heftig untereinander zerstritten. Seit Jahrzehnten bestimmen die Kurdische Demokratische Partei (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) die politische Landschaft des Teilstaats und konkurrieren miteinander um die Vorherrschaft. Seit der De-facto-Abspaltung der Region vom Rest des Landes 1991 werden diese Parteien von den zwei rivalisierenden Clans – den Talabanis und den Barsanis – angeführt. So stammen Premier Masrur Barsani und der Präsident Nedschirfan Barsani aus derselben Familie, stellvertretender Premier ist Kubad Talabani. Beide Clans sind korrupt und betreiben Vetternwirtschaft, eine parlamentarische Kontrolle ist wegen der Schwäche der Opposition nicht möglich.

Neben der politischen Rivalität kommen Differenzen zwischen Erbil und der irakischen Zentralregierung hinzu, was regelmässig zu verspäteten Zahlungen aus Bagdad führt – und damit zu ausfallenden Gehältern der Beamt:innen. Versprochene politische Reformen wurden nicht umgesetzt, stattdessen wurde ein repressives System aufgebaut, in dem Widerspruch kaum geduldet wird. Als es in den vergangenen Jahren zu Protesten gegen die KDP und die PUK kam, wurden diese teils gewaltsam niedergeschlagen, wobei Demonstrant:innen ums Leben kamen oder gemeinsam mit kritischen Journalisten wegen «Terrorunterstützung» angeklagt wurden. Während die PUK dem Regime im Nachbarland Iran nahesteht, unterhält die KDP gute Kontakte zur türkischen Regierung – trotz deren Repression gegen die Kurd:innen im eigenen Land.

Bittere Rückkehr

Tatsächlich spielt sich im Nordirak seit Jahrzehnten auch ein innertürkischer Konflikt ab. Das türkische Militär bombardiert Rückzugsräume der kurdischen Arbeiter:innenpartei PKK, die PKK schlägt zurück, regelmässig kommen dabei laut Nichtregierungsorganisationen Zivilist:innen ums Leben. Seit Jahren setzt Ankara auch Drohnen ein, laut Medienberichten wurden schon Hunderte Orte im Grenzgebiet evakuiert, die Menschen mussten ihre Dörfer dauerhaft verlassen. Allein seit 2020 hat die Türkei vier Militäroperationen im Nachbarland durchgeführt, zuletzt startete Ankara im April eine weitere Offensive gegen die PKK.

Vor diesem Hintergrund entschlossen sich also in den vergangenen Monaten Tausende Kurd:innen zur Flucht. Auf Druck der Europäischen Union wurden mittlerweile die Direktflüge zwischen dem Irak und Belarus und die Visaerteilung eingestellt. Jetzt werden vom Irak Rückflüge angeboten. Hunderte Menschen haben diese in Anspruch genommen. Für die Rückkehrer:innen ist dies auch deswegen besonders bitter, weil sie in ihrer Heimat meist ihren gesamten Besitz verkauft hatten, um ihre teure Flucht zu finanzieren – sie müssen nun wieder ganz von vorne anfangen.