Asylpolitik: Die unendliche Geschichte der vorläufigen Aufnahme

Nr. 21 –

Der Ukrainekrieg wirft ein neues Schlaglicht auf die Flüchtlingspolitik. Politiker:innen und Rechtsexpert:innen fordern eine Reform der vorläufigen Aufnahme, die Geflüchtete über Jahre prekarisiert. Kendai Gabrozgabher hat das durchlebt.

«Leute wie ich brauchen bessere Rechte und kürzere Fristen. Damit wir nicht dauernd auf den Entscheid warten müssen, ob wir hier willkommen sind»: Der aus Eritrea geflüchtete Kendai Gabrozgabher im Bahnhof St. Gallen.

Kendai Gabrozgabher trägt sein ganzes Leben in einem schwarzen Rucksack mit sich. Zumindest das offiziell beglaubigte. Eingepackt hat der Eritreer all die Schriftstücke, die seine Anwesenheit in der Schweiz dokumentieren: behördliche Schreiben, Arbeitszeugnisse und vieles mehr. «Sicher ist sicher», sagt der Vierzigjährige. Schliesslich gerät er immer wieder einmal in eine Polizeikontrolle. Dabei habe er auch schon positive Erfahrungen gemacht, erzählt er lachend. So habe ihm ein Polizist bei einer Kontrolle im Park einmal einen Ordner für seine Dokumente angeboten.

Überhaupt: Wenn Gabrozgabher über die Schweiz spricht, klingt es fast ein wenig wie eine 1.-August-Rede. Die Ruhe, die Natur, die Menschen, alles sei wunderbar hier. Es herrsche kein Krieg und auch keine Angst davor. «Ganz ehrlich, ich möchte mich bei allen Damen und Herren hier in der Schweiz bedanken», sagt Gabrozgabher. Nur in einem Punkt sei er nicht zufrieden: «Bei der Sache mit den Papieren.» Bis heute besitzen seine drei Kinder, das älteste schon im Teenageralter, keinen Reisepass ihres Herkunftslandes. Sie können die Schweiz nicht verlassen, sind gefangen in der Schönheit der Landschaft. «Wenn ihre Schulfreunde von Ferien im Ausland erzählen, stimmt sie das traurig.»

Gabrozgabher ist an diesem sonnigen Frühlingstag ins St. Galler Solidaritätshaus gekommen, einen Treffpunkt für Geflüchtete, um die Geschichte seines Aufenthalts in der Schweiz zu erzählen. Es ist eine Geschichte des langen Wartens und der beständigen Unsicherheit. Eine der harten Arbeit auch, zu tiefem Lohn. Die Geschichte ist typisch für die rund 45 000 Menschen in der Schweiz, die derzeit über eine vorläufige Aufnahme, Status F genannt, verfügen. Sie haben kein Asyl erhalten, weil die Behörden keine individuelle Verfolgung gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannten. Sie können aber auch nicht in ihr Herkunftsland zurückgewiesen werden: weil dort etwa Krieg herrscht, Menschenrechtsverletzungen drohen – oder die medizinische Versorgung nicht gewährleistet ist.

Seit Russland die Ukraine angegriffen hat, fanden Zehntausende in der Schweiz unkompliziert Aufnahme. Erstmalig wurde für sie der kollektive Schutzstatus S aktiviert, mit dem ihre Asylgesuche nicht individuell geprüft werden müssen. Wegen des Kriegs in der Ukraine erhält das Asylsystem wieder einmal verstärkt mediale Aufmerksamkeit. In den Diskussionen geht es dabei nicht wie sonst häufig um die Frage, ob Geflüchtete nun zu Recht hier sind, sondern darum, wie sie hier aufgenommen werden. Familien, die Geflüchtete beherbergen, Firmen, die ihnen Arbeit geben wollen, stellen überrascht fest, was Aktivist:innen aus der Asylbewegung schon lange kritisieren: Die Unterstützung ist minimal. Oder wie die «Zeit» kürzlich titelte: «unwürdig».

Der SVP ist schon das zu viel: Nur drei Monate nach Kriegsausbruch will sie bloss noch Personen aus der Ostukraine aufnehmen – als ob nicht das ganze Land angegriffen würde. Die Forderung stösst aber über die Parteigrenze hinaus kaum auf Anklang. Hört man sich unter Politiker:innen und Rechtsexpert:innen um, sehen sie den Handlungsbedarf an einem ganz anderen Ort: bei der Frage, wie die Rechtsetzung Asylsuchende bewusst prekarisiert und eine Ungleichbehandlung zwischen einzelnen Gruppen schafft. Genauer: beim Status F. Oder wie es Alberto Achermann, Professor für Migrationsrecht an der Universität Bern, sagt: «Die vorläufige Aufnahme ist die letzte grosse Baustelle im Schweizer Asylsystem.»

Ein Dauerprovisorium

Was genau dieser Status F bedeutet, kann Ezgi Akyol erklären. Sie ist Geschäftsleiterin der Vereinigung Map-F, die sich im Kanton Zürich um die Situation der Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme kümmert. Akyol sitzt draussen vor dem Quartiertreffpunkt Bäckeranlage in Zürich, die Vögel zwitschern, und wie jeden Tag dreht die Polizei im Kastenwagen ihre Runden auf dem Kiesweg, um zumeist People of Color zu kontrollieren.

Mit jedem Status für Ausländer:innen sind in der Schweiz bestimmte Rechte verbunden oder eingeschränkt, das Gleiche gilt für die Ausgestaltung der Sozialhilfe. Bei keiner Bewilligung, führt Akyol aus, seien die Restriktionen derart stark wie beim Status F. «Am prägendsten ist für viele vorläufig Aufgenommene, dass sie die Schweiz nicht für eine Reise verlassen dürfen.» So könnten sie ihre Verwandten im Ausland nicht besuchen, was ihr Familienleben stark einschränke. Ausnahmen gibt es lediglich bei schwer kranken Verwandten. Akyol sind Fälle bekannt, in denen die Bewilligung für die Familienmitglieder zu spät kam – ihre Verwandten im Ausland waren schon verstorben. «Eine unerträgliche Situation.»

Eine weitere Restriktion bedeute die reduzierte Sozialhilfe. Gemäss den Bundesvorgaben muss diese zwingend tiefer als die ordentliche Sozialhilfe sein. Dass überhaupt ein reduzierter Satz gelte, sei an sich ein Skandal, sagt Akyol. «Der reguläre orientiert sich ja bereits am Existenzminimum.» Hinzu komme die Lotterie der Zuteilung an die Gemeinden. Auf welchem Niveau diese die Fürsorge anlegten und ob sie die Personen bei der Unterbringung oder der Arbeitssuche unterstützten, sei völlig willkürlich. Zahlreiche Gemeinden würden zum Beispiel Einzelpersonen in Kollektivunterkünften unterbringen, um bei den Mietausgaben zu sparen. «Das mag für eine kurze Dauer angehen. Aber sicher nicht über Jahre.»

Denn die vorläufig Aufgenommenen sind alles andere als vorläufig hier: Neunzig Prozent blieben dauerhaft, weiss Akyol. «Keine behördliche Bezeichnung ist derart irreführend wie diese.»

Die Folgen davon spüren die vorläufig Aufgenommenen vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Zwar wurden Einstellungen vereinfacht. Brauchten Firmen früher eine Bewilligung, reicht seit 2019 eine Anmeldung. «Doch der Begriff der Vorläufigkeit wirkt noch immer wie ein Stigma», so Akyol. Viele Firmen würden auf eine Einstellung verzichten, weil sie davon ausgingen, dass die Bewerber:innen nur kurz in der Schweiz bleiben würden. Als letzte Einschränkung erwähnt Akyol den Familiennachzug. Dafür müssen Personen mit dem F-Ausweis erst einmal drei Jahre warten – sie dürfen zudem keine Sozialhilfe mehr beziehen und müssen über eine adäquate Wohnung verfügen. «Für alleinerziehende Frauen oder ältere Geflüchtete ist es praktisch unmöglich, diese Vorgaben zu erfüllen.»

Philipp Müllers Blockade

Ezgi Akyol bezeichnet den Status F als Dauerprovisorium: «Die Leute leben über Jahre blockiert.» Erst nach fünf Jahren Anwesenheit in der Schweiz können sie ein Härtefallgesuch stellen, um eine definitive Aufnahme zu erlangen. Auch dafür müssen sie sich von der Sozialhilfe abgelöst haben.

«Es ist ein Paradox: Erst werden die Leute vom Staat in einen prekären Zustand versetzt. Und dann sollen sie sich daraus befreien», kritisiert Akyol. Die Politik wisse ganz genau, dass sie damit eine Fiktion erschaffe. «Zum einen signalisiert sie den Personen, sie seien nur geduldet. Zum anderen sollen sie sich um ihre Integration bemühen.» Dazu hat Simonetta Sommaruga (SP) als Justizministerin in ihrer Integrationsagenda auf 2019 hin die Pauschalen für die Aus- und die Weiterbildung deutlich erhöht. Dennoch, sagt Akyol, würden viele Temporärjobs annehmen, um möglichst schnell aus der Sozialhilfe zu kommen und ein Härtefallgesuch stellen zu können. Der Status F bewirkt prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Einer, der sie am eigenen Leib erfahren hat, ist Kendai Gabrozgabher.

Aufgewachsen in Eritrea, flüchtete Gabrozgabher vor dem Regime in den Sudan. Von dort aus machte er sich auf den Weg nach Europa, erst durch die Sahara nach Libyen. In den Lagern erlebte er die ganze Gewalt, die Geflüchteten entgegenschlägt. Zweimal nahm er das Risiko der Überfahrt nach Europa auf sich. Ein erstes Mal kenterte das Schlauchboot, Gabrozgabher überlebte als einer der wenigen. In seiner Erzählung hält er kurz inne. «Nur dank Gott wurde ich gerettet. Ihm gehört alles, der Wind und das Meer.» Bei der zweiten Überfahrt schaffte er es auf die italienische Insel Lampedusa. Er habe schon immer gedacht, dass er gerne in ein deutschsprachiges Land möchte, erinnert er sich. «Am Radio hatte ich früher die Deutsche Welle gehört.»

Schliesslich gelangte er 2008 in die Schweiz, wo er ein Asylgesuch stellte. Und erst einmal lange wartete. «Für mich waren das fünf verlorene Jahre meines Lebens, in denen ich nichts tun konnte.» Als er 2013 endlich den Status F erhielt, absolvierte er einen Deutschkurs, nahm Temporärjobs an. Gabrozgabher zieht die Arbeitszeugnisse aus dem Rucksack. Als «sehr zuverlässig und pflichtbewusst» wird er darin beschrieben. «Wir bitten Sie, den Antrag auf eine Aufenthaltsbewilligung B wohlwollend zu prüfen.» 2016 war es endlich so weit. Nach acht Jahren in der Schweiz wurde sein Härtefallgesuch bewilligt, und er erhielt die Aufenthaltsbewilligung. Damit war er aus dem Dauerprovisorium F befreit. Und wurde als Folge davon 2019 auch endlich fest angestellt.

Gabrozgabher räumt den Dreck der Schweiz weg, im wahrsten Sinne des Wortes: Er arbeitet in der Zugreinigung. «Wir sind bei jedem Wetter unterwegs, auch wenn es schneit.» Fäkalien abführen, Trinkwasser auffüllen, die Waggons putzen. «Es ist ein strenger Job, wir arbeiten im Schichtbetrieb in der Nacht.» Manchmal sei die Arbeit alles andere als angenehm. «Aber ich sage mir immer: Wenn die Züge nicht schmutzig wären, dann hätte ich auch keine Arbeit.» Und diese bedeute ihm alles. «Wenn ich nicht arbeiten könnte, wäre ich sofort gestresst und müsste an alles Schlimme zurückdenken, was ich erlebt habe.»

Seine Kinder sieht er meist früh am Morgen: wenn er von der Arbeit kommt und bevor sie in die Schule müssen. Mit dem Lohn kommt die fünfköpfige Familie knapp selbstständig über die Runden, die Kleider kauft sich Gabrozgabher im Brockenhaus. Nehmen die Politiker:innen einen wie ihn, der in der Leuchtweste nachts die Züge reinigt, damit sie in sauberen Zügen zu ihren Sitzungen nach Bern fahren können, überhaupt zur Kenntnis? Einen wie ihn, der viel Zeit seines Lebens unnötig in einer Warteschlaufe verbringen musste?

Erst fünf Jahre ist es her, dass der Bundesrat einen Bericht veröffentlichte: «Vorläufige Aufnahme und Schutzbedürftigkeit. Analyse und Handlungsoptionen». Es war ein durchaus weitsichtiges Papier, mit drei möglichen Varianten zur Zukunft der vorläufigen Aufnahme. In der ersten Variante wäre sie an jene der Flüchtlinge angepasst worden. Eine zweite schlug eine Überführung in einen neuen Status des humanitären Schutzes vor, mit einer Verbesserung der Rechtsstellung und der Sozialhilfe. Eine dritte Möglichkeit sah lediglich punktuelle Änderungen vor.

«Bis heute frage ich mich», so Ezgi Akyol von Map-F, «wer eigentlich die Verantwortung dafür trägt, dass diese Reform gescheitert ist.» Der Nationalrat hatte sie noch unterstützt. Doch im Ständerat versandete sie.

Verantwortlich dafür war FDP-Ständerat Philipp Müller. Er hatte seine Karriere einst mit der 18-Prozent-Initiative lanciert, die den Anteil der Ausländer:innen in der Schweiz beschränken sollte. Nachdem er FDP-Präsident geworden war, musste er die Personenfreizügigkeit mit der EU unterstützen – und wurde dafür bei Restriktionen für Asylsuchende und Menschen aus Drittstaaten umso aktiver. So bekämpfte Müller auch die Reform der vorläufigen Aufnahme, und zwar erfolgreich. Das Einzige, was davon übrig blieb, war ein minimaler Fortschritt, der vor allem der Wirtschaft zugutekommt: Personen mit einem F-Ausweis dürfen nun für die Arbeit oder die Ausbildung den Kanton wechseln.

Kommt der humanitäre Schutz?

Der Berner Migrationsrechtsprofessor Alberto Achermann verfolgt die Asylpolitik der Schweiz schon seit Jahrzehnten. Dabei sei es bei aller Kritik auch durchaus zu Verbesserungen gekommen, sagt er am Telefon. Achermann erwähnt die Einführung des Bundesverwaltungsgerichts als Beschwerdeinstanz oder auch die Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs gemäss Genfer Konvention auf geschlechtsspezifische Fluchtgründe. «Nur bei der vorläufigen Aufnahme, da treten wir seit Jahrzehnten an Ort und Stelle.» Dabei zeigten die Erfahrungen: «Eine Reform ist absolut angebracht.» Es brauche ein neues Konzept, das die Rechtsstellung stark verbessere. Und einen neuen Namen.

Verbesserungen seien besonders bei der Reisefreiheit nötig, die eine starke Einschränkung der Bewegungsfreiheit darstelle, sowie beim Familiennachzug, mit dem das Recht auf das Familienleben tangiert werde. Auch die Sozialhilfe müsse auf das Existenzminimum angepasst werden. Wie schon dem Bundesrat 2016 schwebt auch Achermann neben dem Flüchtlingsbegriff eine Kategorie des humanitären Schutzes vor. «Das wäre ein stimmiger neuer Name.» Der Status würde auch eine Anpassung an das europäische Asylniveau bedeuten, führt er aus. Dort gibt es eine vergleichbare Kategorie des subsidiären Schutzes. Sie bringt eine deutlich bessere Rechtsstellung als die hiesige vorläufige Aufnahme mit sich, wird aber etwas restriktiver zugesprochen: Medizinische Gründe werden nicht beachtet.

Entscheidend ist für Achermann, dass ein künftiger neuer Status das Verfahren vereinfache. «Es ist doch völlig sinnlos, dass jemand heute zuerst den Asylprozess durchlaufen und dann noch Jahre auf einen Härtefallentscheid warten muss.» Das sei gerade eine der Stärken des Status S für die Geflüchteten aus der Ukraine: Sie werden als Gruppe ohne grosse Bürokratie aufgenommen. Beim humanitären Status wäre im Vergleich zum Status S zwar noch immer eine individuelle Prüfung nötig, was weiterhin Zeit in Anspruch nehmen würde. «Wenn sich der Status aber sonst deutlich verbessert, ist das in Kauf zu nehmen.»

Gerade der Vergleich mit dem Status S für Menschen aus der Ukraine hat die Diskussion über den Status F letztlich befeuert. Der Status S garantiert die Reisefreiheit und ermöglicht den Familiennachzug ab dem ersten Tag. Bei der Sozialhilfe ist er allerdings gleich negativ ausgestaltet wie der Status F. Achermann findet, dass die beiden Status bei den Rechten angeglichen werden müssen – und zwar auf das obere Niveau. Die Sozialhilfe müsse erhöht werden. Am elegantesten wäre es, wenn wie bei der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gleich eine Aufenthaltsbewilligung erteilt würde. Dafür müssten allerdings die Kantone einverstanden sein.

Fusionieren würde Achermann den Schutzstatus und die künftige humanitäre Aufnahme hingegen nicht. «Der Status S hat sich im Fall der Ukraine als sehr praktisch erwiesen für eine schnelle Aufnahme einer grossen Gruppe von Geflüchteten. Das ist bisher eines der erfreulicheren Kapitel in der Schweizer Asylgeschichte.»

Bewegung im Bundeshaus

Der Krieg gegen die Ukraine hat viele Gewissheiten infrage gestellt. Das zeigt sich im Bundeshaus auch in der Asylpolitik. Noch letzten Dezember beschloss das Parlament eine deutliche Verschärfung der Reisefreiheit für vorläufig Aufgenommene ins Ausland. «Nun steht ein Fenster für positive Veränderungen offen», sagt die Baselbieter SP-Nationalrätin Samira Marti am Rand einer Sondersession in der Wandelhalle. Der Ukrainekrieg zeige, dass die Genfer Flüchtlingskonvention, bei der eine individuelle Verfolgung vorliegen müsse, längst nicht alle Fluchtsituationen abdecke.

Marti fordert ebenfalls eine Kategorie des humanitären Schutzes. Und auch sie findet wie Achermann, dass der Status F und der Status S rechtlich gleichzustellen seien. «De facto befinden sich die Geflüchteten aus der Ukraine in der gleichen Situation wie jene aus Syrien oder Afghanistan.» Welche Lösung man auch immer für die einzelnen Kategorien finde: Wichtig sei, dass sie mehr Rechtssicherheit schafften – das wirke sich auch auf die Arbeitsintegration und die Gesundheit der Leute aus. «Letztlich ist die Lebensrealität entscheidend und nicht ein Buchstabe im Ausweis.»

Marti politisiert zwar erst wenige Jahre in Bern. Sie hat aber schon einige erfolgreiche Allianzen zwischen den Fraktionen geschmiedet. Auch für einen humanitären Status hat sie erste Gespräche geführt, will sich aber noch nicht in die Karten blicken lassen. Nur so viel: «Es gibt eine grosse Offenheit.» Auch im Departement von FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter würden viele den Handlungsbedarf sehen. Ein breit abgestützter Vorstoss aus dem Parlament ist Martis Ziel.

Für eine Verbesserung offen zeigt sich die GLP, wie Parteipräsident Jürg Grossen in der Wandelhalle bestätigt. Als Inhaber eines Elektroplanungsunternehmens im Berner Oberland kennt er aus dem Arbeitsalltag mehrere Beispiele, bei denen die wirtschaftliche Integration von Geflüchteten wegen der rechtlichen Vorgaben erschwert wurde. «Die Leute werden durch die aktuelle Umsetzung an der Teilnahme am Arbeitsmarkt gehindert.» Seinem Eindruck nach fehlt es in der Asylpolitik an menschlichem Gespür. «Wenn jemand hier seine Arbeit machen und sich integrieren will, dann muss man ihm nicht noch Barrieren in den Weg stellen. Wir sind schliesslich auf motivierte Fachkräfte angewiesen und werden es in Zukunft angesichts der Altersentwicklung sowieso noch mehr sein.»

Auch die Zürcher GLP-Nationalrätin Corina Gredig, in der Partei für die Migrationspolitik zuständig, will sich für eine Reform des Status F einsetzen. «Die Betroffenen brauchen eine Verstetigungsperspektive ihres Aufenthalts», meint Gredig. Dabei ist für sie allenfalls in der ersten Zeit noch ein tieferer Ansatz in der Sozialhilfe zu rechtfertigen.

Der Dank der Passagiere

Wie praktisch sich eine Reform auf das Leben der Geflüchteten auswirken würde, zeigt sich beim Besuch im St. Galler Solidaritätshaus. In der Beratung herrscht an diesem Vormittag Hochbetrieb. Ein Mann aus Tibet ist mit einem Schreiben vom Migrationsamt hier. Er will ein Härtefallgesuch stellen und zeigt die lange Liste an Formularen, die er dafür einreichen muss: darunter eine Bestätigung zum Preis von 25 Franken, dass er keine Sozialhilfe mehr bezieht. Seit Corona kann er diese nur noch online anfordern. Aber wie soll er sie ohne Kreditkarte bezahlen?

Draussen an der Sonne zeigt Kendai Gabrozgabher derweil noch einige überraschende Dokumente aus seinem Rucksack: Dankeskarten, die ihm Leute geschrieben haben, weil er im Zug beim Putzen ihre Handys, ihr Gepäck oder einmal sogar ein Portemonnaie mit 2000 Franken gefunden hat. Gabrozgabher versucht jeweils, die Besitzer:innen sofort ausfindig zu machen. Plötzlich fällt diesen dann auf, wer eigentlich das Land reinigt. Einige haben ihn auch schon besucht oder seine Familie zu sich eingeladen. «Ich bin ein geselliger Mensch, solche Einladungen freuen mich sehr.» Auf die Frage, was für Menschen in seiner Situation das Wichtigste sei, hat Gabrozgabher eine klare Antwort: «Bessere Rechte und kürzere Fristen. Damit wir nicht dauernd auf den Entscheid warten müssen, ob wir hier willkommen sind.»