Durch den Monat mit Nicolas Galladé (Teil 3): «Haben Sie auch Leute enttäuscht?»

Nr. 24 –

Nicolas Galladé wurde Stadtrat in Winterthur, als er noch als Jungpolitiker galt. Sicher sei er im Amt realistischer geworden, doch in bestimmten Fragen auch radikaler: etwa bei der Bekämpfung von Armut.

Nicolas Galladé vor dem Salon Erika im Stadion des FC Winterthur
Nicolas Galladé: «Politik ist immer ein Spannungsfeld – aber ich habe schon im ersten Wahlkampf keine Dinge versprochen, die ich nicht halten konnte.»

WOZ: Herr Galladé, Sie wurden schon mit 35 Jahren in den Winterthurer Stadtrat gewählt. Da müssen Sie früh politisiert worden sein.
Nicolas Galladé: Das stimmt, ich ging schon als Teenager zur SP.

Nicht zur Juso?
Die Juso war noch nicht so populär wie heute. Es gab zwar mal ein Treffen mit drei etwa dreissigjährigen Jusos, aber ich fand dann, ich trete lieber der SP-Sektion Veltheim bei. Dort gab es ebenfalls Leute, die parteiintern kritisch dachten. Zusammen mit meiner Schwester wurde ich dort sehr offen empfangen.

Was waren denn Ihre Hauptthemen?
Vor allem jugendpolitische Dinge, zum Beispiel die Forderung nach einem Jugendparlament, nach Mitsprache, nach Kultur- und Freiräumen. Und eigentlich zeitlose Themen: Umwelt, Antirassismus, Armutsbekämpfung und damals eine fortschrittliche Drogenpolitik.

Als Sie in die Exekutive gewählt wurden: Hatten Sie damals Visionen für die Stadt?
Ich sah mich als Vertreter einer jüngeren Generation und wollte etwas von der Jugendkultur ins Gremium hineintragen. Aber ich war ja schon lange in der Politik, als SP-Parteipräsident in Winterthur und kurz auch als Fraktionspräsident im Zürcher Kantonsrat. Zudem arbeitete ich damals bei der SP Schweiz. So wusste ich auch um die limitierenden Faktoren, die es in einer Exekutive gibt, gerade auf kommunaler Ebene. Nur schon die vom Parlament vorgegebenen finanziellen Mittel schränken die Bandbreite des Machbaren ein. Ab 2013 mussten wir zum Beispiel zwei massive Sanierungsprogramme im Departement umsetzen. Das prägt dich enorm. Oder als es breite Angriffe auf die Sozialhilfe in der Schweiz gab. Da bist du als Exekutivpolitiker in einer anderen Rolle als im Parlament, wo du keinen ständigen Rechtfertigungsdruck hast.

Wie lange brauchten Sie, um im Amt anzukommen?
Ich denke, ich habe mir in der ersten Legislatur vor allem Zeit dafür genommen, hinzuschauen. Da prasseln die Dinge auch etwas auf dich nieder. Erst in der zweiten Amtszeit hatte ich dann langsam das Gefühl, etwas aufzubauen und auch zu wissen, was genau das sein soll. Ich war zwar mit noch mehr Krisensituationen konfrontiert, hatte nun aber das Gefühl, daran zu wachsen.

Haben Sie auch Leute enttäuscht?
Politik ist immer ein Spannungsfeld. Und du enttäuschst Wähler:innen – zumindest in Einzelfällen – zwangsläufig, wenn sie bestimmte Erwartungen an dich haben. Gleichzeitig habe ich schon im ersten Wahlkampf keine Dinge versprochen, die ich nicht halten konnte. Und ich habe signalisiert, dass ich mich Kritik stelle, intern und gegen aussen. Klar, man versucht, das Amt zu prägen, aber das Amt prägt halt auch dich. Was ja auch gut ist, solange deine Entwicklung mit deinen Grundwerten einhergeht.

Gehören Sie nach zwölf Jahren im Stadtrat zum Cüpli-Flügel der SP?
In der Tendenz ist es immer so, dass du im Exekutivamt erst so richtig auf die Welt kommst. Das gilt auch für einen Freisinnigen, der als Parlamentarier immer gegen den ineffizienten Staat wettert und dann nach hundert Tagen im Amt an der Pressekonferenz verblüfft erzählt, dass in der Verwaltung enorm viel geleistet werde. Auf dieser Ebene sind die Spielräume nicht so gross, was letztlich wohl zu einer gewissen realpolitischen Einmittung führt. Aber es gibt immer noch Fragen, bei denen ich finde, da müssen wir grundsätzlicher handeln, radikaler werden: bei Themen der Existenzsicherung und der Chancengerechtigkeit. Etwa wenn es um die Sozialhilfe im Asylbereich geht.

Sie engagieren sich für eine ausreichende Sozialhilfe. Was bedeutet für Sie Armut?
Armut hat nicht nur eine materielle Dimension. Sie bringt auch einen Mangel an Möglichkeiten mit sich, der oft zu einem sozialen Rückzug führt. Weil man sich schämt, wenn man sich keinen Kaffee leisten oder den Schulausflug der Kinder nicht bezahlen kann. Das wirkt sehr isolierend. Und in den wohlhabenderen Milieus nimmt man Armut deshalb oft nicht einmal wahr.

Wie hat sich Ihr Bild von Armut während Ihrer Tätigkeit als Sozialvorsteher verändert?
Durch mein Amt kenne ich die Mechanismen der Armut viel genauer, etwa wie sie weitervererbt wird. Es ist das eine, mit knappen Mitteln leben zu müssen. Und das andere, dadurch keinen Zugang zu Orten und Tätigkeiten zu haben, die Chancengerechtigkeit fördern. Damit komme ich jetzt natürlich viel öfter in Kontakt, wenn ich etwa einen Treffpunkt für Armutsbetroffene besuche oder Leute, die in eine Sucht abgerutscht sind. Oder auch wenn mir ältere Stadtbewohner:innen von ihrem Lebensweg berichten. Ich bin überzeugt, dass es Aufgabe des Staates ist, allen Menschen ein Leben in Würde und eine minimale soziale Teilhabe zu ermöglichen, ohne dass sie auf Almosen angewiesen sind.

Salafisten und Nazis: In den letzten Jahren tauchte Winterthur wiederholt wegen verschiedener Extremismen in den Schlagzeilen auf. Darüber spricht Nicolas Galladé (47) in der nächsten WOZ.