Heidi Bucher: Die Befreiung schimmert perlmuttfarben

Nr. 27 –

Sie rettete Räume vor dem Vergessen – und ging dann selber vergessen. Das Werk der herausragenden Schweizer Künstlerin Heidi Bucher ist in Bern und Susch zu entdecken.

Heidi Bucher bei der Produktion des Kunstwerk «Herrenzimmer» im Jahr 1978
Mächtige Aneignung: Heidi Bucher beim Häutungsprozess von «Herrenzimmer» (1978). Foto: Hans Peter Siffert, Courtesy The Estate of Heidi Bucher

Was für ein Szenenwechsel! Von der gleissenden Helle Kaliforniens hinunter in einen verliesartigen Zürcher Keller. Seit Ende der 1960er Jahre war Heidi Bucher mit ihrer Familie in Kanada und an der sonnigen Westküste der USA unterwegs. Ihr Gatte, der Bildhauer Carl Bucher, hatte dort Stipendien gewonnen, wurde zu Ausstellungen eingeladen. Die 1926 in Winterthur geborene Heidi Bucher entwickelte eigene künstlerische Projekte, arbeitete aber auch mit ihrem Mann zusammen.

1973 kehrte sie in die Schweiz zurück. Die Ehe ging in die Brüche – ein Ende, das auch eine Befreiung und ein Neuanfang war. Endlich widmet sie sich ganz der eigenen Kunst. Ihr Atelier im unterirdischen ehemaligen Kühlraum einer Metzgerei nennt sie Borg, was nichts mit der damals noch jungen Wortschöpfung «Cyborg» zu tun hat. Buchers «Borg» leitet sich aus dem Wort «Geborgenheit» ab.

Hier unternimmt sie ihre ersten «Häutungen». Bucher legt die Innenwände ihres Kellers mit Gaze aus, bestreicht sie mit flüssigem Latex, lässt das Ganze trocknen und zieht diese Schicht dann wie eine Haut von der Wand ab: als Negativ und Relief. Man darf das Vorgehen auch als persönlichen Wendepunkt lesen: Rückzug in den Untergrund, künstliche Verpuppung, schliesslich das Ablegen einer alten Haut.

Tanzende Skulpturen

Damit schuf sie nicht zuletzt ein Sinnbild für die Verspätungen und die Umwege einer Künstlerinnenbiografie. Es ist ein wichtiges Verdienst der neuen Werkschau zu Heidi Bucher, ausgerichtet vom Haus der Kunst München, vom Kunstmuseum Bern und vom Muzeum Susch, dass sie diese Hürden, die sie als Frau zu überwinden hatte, mitreflektiert.

Das beginnt mit den «Bodyshells» und futuristischen Kostüm-«Wrappings», die Bucher in den USA angefertigt hatte. Sie sind nur auf Abbildungen erhalten geblieben, obwohl die Künstlerin sie sogar in einer Ausstellung in Los Angeles zeigte. Im Kunstmuseum Bern sind nun zwei neu hergestellte Reproduktionen dieser Bodyshells zu sehen. In einem Video ist festgehalten, wie Bucher diese an Spielfiguren oder Fantasiegetier erinnernden weichen, weissen Skulpturen zum Tanzen brachte. In ihren perlmuttfarben schimmernden Hüllen steckten Familienmitglieder und Bekannte, die Bucher auf dem berühmten Venice Beach wie verträumte, über Nacht aus dem Sand geschossene Pilze arrangierte.

Zurück in der Schweiz, schritt Bucher von der Verhüllung zur Häutung – und wechselte bald aus ihrem Borg-Keller ins Haus ihrer Kindheit. Mächtiger Symbolort ihres Aufwachsens in einem grossbürgerlichen Haushalt war das sogenannte Herrenzimmer: das Reich, wo der Vater, ein Industrieller, waltete. Auch dieser Männerhöhle, zu der sie als Kind wohl nur selten Zutritt hatte, zieht Bucher nun selbstbewusst die Haut ab – und nimmt sie mit.

Man kann sie heute im Kunstmuseum Bern in den Raum gehängt betrachten: ein etwas schlaff wirkendes, braungelbes dreidimensionales Gehäuse, das alle Ritzen, Türeinbuchtungen und andere Raumformen fein «abbildet». Eine Entkernung, Aneignung, Entmachtung – aber auch ein Hinüberretten in einen anderen Zustand. Etwas Inneres wird nach aussen gekehrt. Und Bucher hat diese Idee noch weiter getrieben. In einer rituellen Zeremonie wurde eine solche Raumhaut von mehreren Menschen aus dem Haus ins Kunstmuseum Winterthur getragen. Bei einer weiteren Aktion brachte Bucher eine ihrer Häute zum Schweben, und dem «Spiegel» erzählte sie, am liebsten würde sie einen ihrer Latexabzüge in einem Bergsee versenken. Es geht ihr um eine radikale Transformation, um eine ästhetische Umcodierung von historisch Beladenem. Um ein Abstreifen von «Verpasstem» und «Verwundetem», wie sie es nannte – ohne dabei die Erinnerung zu verlieren.

Überhaupt geben die Beschreibungen und die Zeugnisse der Prozesse von Buchers Häutungen in der Ausstellung fast mehr her als die toten, auf jeden Fall sehr vergänglich anmutenden Gummihäute. Auf Fotos und Videos ihrer Häutungsarbeiten erscheint die Künstlerin als Libelle, ihr Lieblingstier, das sie mitunter auch zu Skulpturen mit unheimlichen Glaskugelaugen geformt hat. Die unter Kraftaufwand mit beiden Händen abgezogene Haut wird auf ihren Schultern zu einem Flügelpaar, dann zu einer Schutzhülle, die sich die Künstlerin wie einen Zaubermantel überstreift – später auch einfach hinter sich lassen kann.

Widerstandsfähig wie Beton

Im ausgezeichneten Katalog zur Ausstellung werden weitere Assoziationen entwickelt: Die Kunsttheoretikerin Chus Martínez analysiert, wie Bucher «organisches und nicht-organisches Leben» strategisch durcheinanderbringt und so manche Debatten von heute vorwegnimmt und wie sich durch ihr ganzes Werk das Perlmutt der Muschel zieht, ein Material so widerstandsfähig wie Beton. Mit der dünnen Schicht Perlmuttpigment auf ihren weichen Skulpturen und Gummihäuten bringt Bucher so ein weiteres – hier materielles – Gegensatzpaar zum Flirren.

Die Kuratorin der Berner Ausstellung, Kathleen Bühler, betont, wie genau Bucher als ausgebildete Schneiderin die Funktionen von Haut, Tüchern und Anatomien durchdenkt. Wie sie in ihren ebenfalls mit Latex konservierten Kleidungsstücken Geschlechterrollen sichtbar macht – und transformiert. Und Bühler verweist auf das Potenzial der Selbstbefreiung, das in Buchers «Krafttier», der Libelle, seine schönste Ausprägung findet.

Interessant, dass in all den Analysen eine Verbindung kaum gemacht wird. Etwa zur gleichen Zeit wie Bucher wurde eine weitere Schweizerin mit der Metapher der Häutung zu einer Ikone der deutschen Frauenbewegung: Verena Stefan. Doch während diese in ihrem Emanzipationsroman «Häutungen» von 1975 eng beim eigenen Körper – und dessen zäher Befreiung – bleibt, greifen Buchers Häutungen weiter aus. Auch sie sind zähe, komplexe Prozesse des Durcharbeitens, dabei aber eine Konfrontation nicht nur mit der eigenen Biografie, sondern auch eine umfassendere Auseinandersetzung mit Vergangenem. Das zeigen spätere Arbeiten in einer Privatklinik für «Hysterikerinnen». Oder die Häutung des Grandhotel Brissago, wo im Zweiten Weltkrieg jüdische Kinder interniert worden waren.

Geschlecht als Zielscheibe

Die feministische Perspektive blieb aber durchaus präsent. In Los Angeles war Bucher mit anderen Künstlerinnen in der Womanhouse-Bewegung engagiert. In Zürich initiierte sie 1975 die heute legendäre Ausstellung «Frauen sehen Frauen». Eine ihrer Latexskulpturen zeigt ein «einbalsamiertes» Frauenkleid mit einer Muschel anstelle des Kopfs: Diese kann als Schutzschild, weibliches Geschlechtsteil, aber auch als Zielscheibe gelesen werden.

Ebenso aufschlussreich sind Buchers Zeichnungen von nackten Männern – ihren Liebhabern. Mit wenigen Strichen skizziert sie die Männerkörper, nicht entblössend oder sexualisiert, aber unverhohlen sinnlich. Diese Akte werden bald im Muzeum Susch zu sehen sein. Das Unterengadiner Haus der schwerreichen polnischen Mäzenin Grazyna Kulczyk zeigt seit einigen Jahren sehr geglückt Kunst von vergessenen und wiederentdeckten Frauen.

Heidi Bucher passt perfekt ins Programm. Nach ihrem Krebstod 1993 verschwand sie aus dem Bewusstsein der Kunstwelt. Auch dank ihrer Söhne, die sich hartnäckig für die Hinterlassenschaft ihrer Mutter einsetzten, begann vor knapp zwei Jahrzehnten allmählich eine Auseinandersetzung und Anerkennung. Ihre einstige Galeristin schildert im Katalog eindringlich, wie wenig Bucher zu Lebzeiten davon hatte – und wie viel es ihr bedeutet hätte.

«Heidi Bucher. Metamorphosen I» ist noch bis 7. August 2022 im Kunstmuseum Bern zu sehen, «Metamorphosen II» ab 16. Juli bis 4. Dezember 2022 im Muzeum Susch. Der Katalog ist bei Hatje Cantz erschienen. www.kunstmuseumbern.ch und www.muzeumsusch.ch