Weltwirtschaft in der Krise: Die Zinswende ist abgesagt

Nr. 28 –

Es scheint wieder Normalität einzukehren. Die Zinsen steigen, Geld hat wieder einen Preis. So würden auch die Pensionsersparnisse wieder gedeihen, freute sich kürzlich FDP-Ständerat Ruedi Noser. Vor allem werde die Zinswende die Zeit der leichtfertigen Schulden beenden, glauben deutsch-protestantische Liberale, wie sie hierzulande bei der NZZ Zuflucht finden. Für sie sind Schulden eine Sünde.

Das sind Träumereien. Es wird keine wirkliche Zinswende geben. Die Zinsen sinken weltweit seit vierzig Jahren – wenn sie mal steigen, dann fallen sie kurz darauf umso tiefer. Der Durchschnittszins für eine (zehnjährige) Staatsanleihe der heutigen Euroländer ist zwischen 1981 und 2020 laut OECD von rund fünfzehn auf null Prozent gefallen – nun liegt er wieder bei gut einem Prozent. Grund für die tiefen Zinsen ist das Wirtschaftsmodell, das weltweit durchgesetzt wurde. Und an dem hat sich nichts geändert. Erhöhen die Zentralbanken die Zinsen weiter, droht der Weltwirtschaft wie 2008 der Kollaps.

Ein zentraler Grund für die jahrzehntelang fallenden Zinsen ist das weltweit wachsende Angebot an Kapital, das dessen Preis (Zins) nach unten drückt. Immer mehr Studien zeigen, dass die wichtigste Ursache dafür die zunehmende Ungleichheit ist – so etwa ein Papier des National Bureau of Economic Research in den USA, das letztes Jahr an der Zentralbankenkonferenz in Jackson Hole für Aufsehen sorgte. Wenn sich Vermögen oben konzentrieren, wird ein grösserer Teil davon gespart statt ausgegeben.

Die Gründe für die Ungleichheit sind bekannt: Im Wettkampf der Nationen werden seit Jahrzehnten die Steuern für Konzerne, Vermögende und Erb:innen nach unten geschraubt, die Arbeitsmärkte dereguliert, die Gewerkschaften bekämpft. Neue Milliardenkonzerne haben einige wenige zu neuen Dagoberts gemacht.

Erhalten die breite Bevölkerung und der Staat weniger vom Kuchen, sinkt deren Nachfrage, was das Wachstum bedroht. Die Antwort der Regierungen: Sie fingen an, sich das sich oben konzentrierende Kapital auszuleihen und dies durch die Deregulierung der Banken auch der Bevölkerung zu ermöglichen. Zusätzlich senkten die Zentralbanken ihre Zinsen, damit Banken noch mehr Kredite vergeben. Seit 1980 haben sich die Schulden von Privathaushalten und Staaten laut Internationalem Währungsfonds auf über 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdreifacht; nirgendwo steckt die Bevölkerung vor allem mit Hypotheken so tief in den Schulden wie in der Schweiz. Laut Lehrbuch hätte diese schuldengetriebene Nachfrage die Inflation anheizen müssen; doch solange diese lediglich die Nachfrage ersetzte, die aufgrund der Ungleichheit wegfiel, blieben die Preise tief.

Dogmatische Liberale wie bei der NZZ haben recht, wenn sie die Schuldenpolitik der letzten Jahrzehnte kritisieren. Was sie noch immer nicht sehen wollen: Die Schulden sind keine Abweichung vom neoliberalen Kurs, den sie predigen. Sie sind die ökonomische Konsequenz der daraus folgenden Ungleichheit.

Wenn nun die Inflation in Europa steigt, dann nicht deshalb, weil die Ungleichheit zurückgegangen wäre und die Menschen wie wild konsumieren, sondern vor allem deshalb, weil sich mit der Pandemie und dem Krieg gegen die Ukraine das Angebot von Öl, Gas, Getreide und anderen Gütern verknappt hat. Die Zinserhöhungen der Zentralbanken sind der verzweifelte Versuch, die Nachfrage auf dieses geschrumpfte Angebot herunterzustutzen; dies, indem sie den Menschen und den Staaten, die mit Schulden ruhiggestellt wurden, dafür die Kosten erhöhen: Krisenpolitik auf dem Buckel der breiten Bevölkerung.

Die Zentralbanken können die Zinsen nicht weiter anheben, ohne eine globale Finanzkrise zu riskieren. Weltweit warnen Expert:innen vor Immobiliencrashs; in Italien werden mit steigenden Zinsen dunkle Erinnerungen an die Schuldenkrise 2012 wach. Und das bankrotte Sri Lanka könnte im Globalen Süden erst der Vorbote des «perfekten Sturms» sein, vor dem die Uno warnt.

Die Zentralbanken sind weitgehend ohnmächtig. Es ist an den Regierungen, mit Massnahmen den Konsum jener zu stutzen, die ganz oben in der Reichtumspyramide stehen.