Weltwirtschaft in der Krise: Thatchers Schuld

Nr. 43 –

Liz Truss vergöttert Margaret Thatcher – und scheiterte als britische Premierministerin ausgerechnet an den Folgen der Politik ihres Idols. Der Neoliberalismus stösst weltweit an seine eigenen Grenzen.

Die Episode muss bürgerlichen Politiker:innen auch hierzulande zu denken geben: Liz Truss wollte als neue britische Premierministerin das Werk ihres Idols Margaret Thatcher weiterführen, die ab 1979 von Grossbritannien aus die globale neoliberale Revolution eingeläutet hatte – und beendete damit ihre Politkarriere schneller, als ein Salat verwelkt, wie das Finanzblatt «The Economist» böse bemerkte.

Anders als vielerorts behauptet, waren es jedoch nicht allein die Investor:innen, die Truss stürzten, indem sie die Finanzmärkte auf die Achterbahn schickten. Auch die britische Zentralbank hatte ihre Finger mit im Spiel.

Truss, die sich unlängst in der Ukraine wie Thatcher während des Falklandkriegs auf einem Kampfpanzer ablichten liess, hatte nach ihrer Amtsübernahme Anfang September die grösste Steuersenkung seit einem halben Jahrhundert angekündigt: Stempelsteuern sollten gestrichen, ein Deckel für Boni abgeschafft und die Spitzensteuersätze für Reiche von 45 auf 40 Prozent gestutzt werden. Sie verfolge damit drei Prioritäten, rief Truss ihrer Partei zu: «Wachstum, Wachstum, Wachstum!»

Damals, als Thatcher das Ruder übernahm, steuerte die Wirtschaft wie heute auf eine Rezession zu, während die Inflation nach oben schoss, wird sich Truss gesagt haben. Und was tat ihr Idol? Die Steuern für Reiche senken (wobei sie auch die Mehrwertsteuer anhob), während sie den Kampf gegen die Inflation der Bank of England überliess. So wie es US-Ökonom und Prediger Milton Friedman riet.

Nach Bekanntgabe von Truss’ Plänen sackte das Pfund in die Tiefe, während die Zinsen für den verschuldeten Staat senkrecht in die Höhe schossen. Die Investor:innen zweifelten, dass der Staat für seine Schulden würde geradestehen können. Dies jedoch nur deshalb, weil Zentralbankchef Andrew Bailey die Zügel seit Sommer wie kaum ein anderer Amtskollege angezogen und den Leitzins auf 2,25 Prozent hochgeschraubt hatte. Zwar schritt er kurz ein, um den grossen Crash zu verhindern; von seinem grundsätzlichen Kurs liess er sich jedoch nicht abbringen.

Der Kahlschlag der siebziger Jahre

Als Thatcher 1979 ihre Revolution einläutete, hatten Europa und die USA dreissig üppige Jahre hinter sich. Dies mit einem Wirtschaftssystem, das heute vielen bereits als linksextrem gelten würde, obwohl es nach dem Krieg auch von Rechten mit aufgebaut worden war: Wichtige Betriebe waren verstaatlicht, die Steuern erhöht und der Sozialstaat stark ausgebaut worden. Mächtige Gewerkschaften sorgten für steigende Löhne. All dies trieb den Konsum und damit das Wachstum an – so wie es der liberale britische Ökonom und Vordenker John Maynard Keynes vorgesehen hatte.

Dreissig Jahre nach dem Krieg waren die Staaten so wenig verschuldet wie kaum je zuvor. Auch untere soziale Schichten sassen im Lift nach oben. Dies bot Thatcher oder dem kurz nach ihr gewählten US-Präsidenten Ronald Reagan viel Platz, um sich auszutoben: Tiefe Schulden ermöglichten nicht nur Steuersenkungen für Reiche und Konzerne, sondern auch höhere Zinsen – je tiefer die Schuld, desto höhere Zinsen können sich Staaten leisten. Nach dreissig goldigen Jahren – die auch die Inflation antrieben – war es zudem einfacher, Härte zu fordern: Im Rausch von Friedmans Wirtschaftsdoktrin schraubte US-Notenbankchef Paul Volcker die Zinsen auf rund zwanzig Prozent. Damit schickten die Zentralbanken weltweit Millionen Arbeiter:innen in die Arbeitslosigkeit – und halfen so, die von ihnen gewonnene wirtschaftliche Macht zu zerschlagen.

1985 liess Thatcher zudem den Streik der Bergarbeiter mit Polizeiknüppeln beenden. Seither jagt in allen Ländern eine Deregulierung des Arbeitsrechts die nächste. Die Arbeitsmärkte wurden so umgekrempelt, schrieb die Bank für Internationalen Zahlungsverkehr (BIZ) kürzlich, dass die «Macht der Arbeit, Preise zu setzen», entschieden geschwächt worden ist.

Die Welt, die Truss bei Amtsantritt vorfand, ist trotz äusserlicher Ähnlichkeiten mit den siebziger Jahren nicht mehr dieselbe. Die Politik der letzten vierzig Jahre hat die Ungleichheit in den Industrieländern drastisch verschärft, wie unzählige Studien belegen, was zu einem steilen Anstieg der Schulden geführt hat: Da die sinkenden Löhne der unteren Schichten den Konsum und damit das Wachstum gefährdeten, kompensierten die Staaten dies unter anderem mit Sozialleistungen. Weil sie jedoch gleichzeitig die Steuern senkten, mussten sie dafür Schulden aufnehmen. Statt Reiche zu besteuern, lieh man sich nun das Geld lieber bei ihnen.

Insbesondere Grossbritannien kurbelte den Konsum an, indem es den Leuten durch die Deregulierung der Banken erlaubte, sich selber zu verschulden. Als diese Schuldenblase 2008 in der Finanzkrise platzte, lud sich die Regierung zur Rettung der Banken einen Teil der Schulden auf die eigenen Schultern, sodass die Staatsschuld innert Kürze von 42 auf 87 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sprang. Weltweit sind die Schulden von Staaten und Privathaushalten laut Internationalem Währungsfonds von rund 60 auf heute 160 Prozent geklettert.

Damit die Leute und die Staaten ihre Schulden stemmen konnten, senkten die Zentralbanken die Zinsen ab den achtziger Jahren wieder allmählich – bis sie nach 2008 auf null fielen. Mit der schuldengetriebenen Nachfrage wurde lediglich die Nachfrage ersetzt, die durch den sozialen Kahlschlag weggefallen war. Entsprechend blieb die Inflation tief.

An einem «dunklen Ort»

Mit einer Staatsschuld von heute über 100 Prozent des BIP im Nacken blieben Truss’ Steuersenkungspläne chancenlos. Dies zumindest vor dem aktuellen Hintergrund, wo die Zentralbanken die Zinsen erhöhen wollen, um die Inflation zu senken. Wobei die Inflation gerade den Banken als Vorwand dient, um nach fünfzehn Jahren Nullzinspolitik endlich wieder höhere Zinsen zu fordern: Je höher die Zinsen, desto mehr Geld lässt sich verdienen.

Seit 2008 sind unter der Nullzinspolitik die britischen Schulden um über sechzig Prozent des BIP angestiegen, ohne dass dies ein:e Regierungschef:in bisher den Kopf gekostet hätte: Solange die Banken bei der Zentralbank gratis Geld erhielten, waren sie bereit, dem Staat immer weiter Geld zu leihen; umso mehr, als die Zentralbank ihnen die Schuldpapiere abkaufte. Truss stürzte jetzt, weil Zentralbankchef Bailey die Zügel angezogen hat. Sie wurde Opfer einer Zentralbank, die nicht nur unabhängig und mächtig ist, wie vom Thatcherismus angestrebt, sondern eine ebenso eiserne Politik verfolgt. Die britische Politik befinde sich an einem «dunklen Ort», twitterte die eher linke Wirtschaftsprofessorin Daniela Gabor.

Nach vierzig Jahren, in denen die Ungleichheit stetig zugenommen hat, leben derzeit zwanzig Prozent der Brit:innen in Armut, und die rasche Teuerung treibt Millionen auf die Strasse zum Protest. So war es für Truss anders als für Thatcher auch nahezu unmöglich, ihre Steuersenkung mit Sparmassnahmen zu kompensieren. Sie sah sich vielmehr gezwungen, sich für die Subventionierung von Erdgas zu entscheiden. Auch Truss’ Nachfolger Rishi Sunak wird es mit seinen Sparplänen nicht leicht haben.

An eine Grenze geraten schliesslich auch die Zinserhöhungen der Zentralbanken: Mit einer globalen Schuld bei Privathaushalten und Staaten von 160 Prozent des BIP steigt die Gefahr von Insolvenzen, die sich zu einer Finanzkrise ausdehnen. Die Uno spricht von einer «gefährlichen Wette» der Zentralbanken, die eine «Kaskade von Insolvenzen» zur Folge haben könnten. Es drohe ein Crash.

Kommt hinzu: Anders als in den siebziger Jahren, als die Inflation – neben den hohen Ölpreisen – stark durch die steigenden Löhne angetrieben wurde, ist zumindest in Europa der Hauptgrund heute das verknappte Angebot, wie in Studien der Europäischen Zentralbank nachzulesen ist. Je knapper Rohstoffe und andere Güter wegen Lockdowns in China oder des Kriegs gegen die Ukraine sind, desto stärker steigen die Preise. Das bedeutet: Mit den Zinserhöhungen soll nicht eine steigende Nachfrage gebremst werden, die das Angebot übertrifft und so zu Inflation führt. Die Nachfrage soll vielmehr auf ein geschrumpftes Angebot runtergestutzt werden, indem Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben werden.

Kurz: Zur Bekämpfung der Inflation sollen die Leute nicht langsamer reich werden, sie sollen ärmer werden. Inzwischen warnt selbst der eher rechte US-Ökonom Gregory Mankiw die US-Notenbank vor «Übertreibung».

Die Nachfrage könnte im Kampf gegen die Inflation auch anders gestutzt werden. Und zwar indem Vermögende höher besteuert werden. Sie stossen durch ihren übermässigen Konsum ohnehin zu viel CO₂ aus: So produzieren die reichsten zehn Prozent der Europäer:innen laut einer im «Nature»-Magazin publizierten Studie jährlich rund 29 Tonnen CO₂ pro Kopf, die untere Hälfte dagegen nur 5 Tonnen. Mit höheren Steuern für Reiche liessen sich auch die erdrückenden Schulden der Privathaushalte und der Staaten reduzieren – ihre Schulden sind die Vermögen der Begüterten. Mit der Hälfte der 211 Billionen US-Dollar, die das weltweit reichste Prozent laut Credit Suisse besitzt, liessen sich sämtliche Staatsschulden auf einen Schlag tilgen.

Truss meint, dass die Reichen mehr investierten, wenn man ihnen mehr in der Tasche lässt. Fakt ist: Obwohl seit 1979 die Unternehmenssteuern von über 50 auf unter 20 Prozent gekürzt wurden, sind die Investitionen laut Weltbank von 25 auf 17 Prozent des BIP geplumpst. Ein Bild, das sich in nahezu allen Industriestaaten zeigt. Das Geld landete vielmehr an der Börse, wo es die Preise der Wertpapiere in die Höhe trieb.

Dass einige noch immer daran glaubten, der Reichtum einiger weniger nütze am Ende allen, mache ihn «krank und müde», twitterte US-Präsident Joe Biden just einen Tag, bevor er Truss vor einem Monat in New York traf. Das sei «Voodoo-Ökonomie», meinte der spätere US-Präsident George Bush senior bereits 1980. Nach vierzig Jahren scheint dieser Voodoo an seine eigenen Grenzen zu stossen.