Energiepolitik: Der Putsch im Biotop

Nr. 37 –

Die Umweltkommission des Ständerats will den Landschaftsschutz radikal beschneiden: Sie plant eine «Energiewende» auf Kosten der ökologisch wertvollsten Gebiete der Schweiz.

Panorama-Landschaft-Aufnahme der Greina-Ebene
Die wertvollsten Schutzgebiete, hier die Greina, umfassen zwei Prozent der Landesfläche, beherbergen aber ein Drittel aller bedrohten Tierarten. Foto: Michael Szönyi, Alamy

Lisa Mazzone ist empört: «Das ist ein Bull­dozervorschlag, der grob und radikal ohne Hemmung bestehende Umweltschutzrichtlinien über den Haufen fahren will.» Die Genfer Ständerätin der Grünen ist Mitglied der dreizehnköpfigen Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Ständerats (Urek-S). Die Kommission hat am Freitag ihren Entwurf zur Revision des Energie- und Stromversorgungsgesetzes publik gemacht. Mazzone unterlag mit drei Kol­leg:in­nen der SP und der Grünen und einem SVP-Ständerat der bürgerlich-rechten Kommissionsmehrheit.

Die Ständeratskommission setzt die Ziele für erneuerbare Energien in der längst überfälligen Gesetzesrevision höher an als vom Bundesrat vorgeschlagen – wie es die Klimabewegung seit langem fordert. Doch die Urek-S will dafür den Umweltschutz, wie wir ihn heute kennen, abschaffen: Der Vollzug von Umweltbestimmungen dürfe den Bau von Anlagen zur Produktion von erneuerbaren Ener­gien «weder erschweren noch verunmöglichen». Energiebauten sollen grundsätzlich Vorrang haben vor Schutzinteressen. Und sie sollen überall möglich sein, sogar in den ökologisch wertvollsten Gebieten der Schweiz: den Biotopen von nationaler Bedeutung.

Das sind Moore, Trockenwiesen, Auen- und Amphibienlaichgebiete. Der Bund hat sie in einem Inventar erfasst. Dazu gehören berühmte Landschaften wie die Auen im Gasteretal, in der Rheinschlucht oder zwischen Bern und Thun, die Greina oder das Moor von Rothenthurm. «Wir sind schockiert», sagt Franziska Grossenbacher von der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. «Das sind unsere allerwertvollsten Schutzgebiete, die nur gerade zwei Prozent der Landesfläche ausmachen, aber ein Drittel aller bedrohten Tier- und Pflanzenarten beherbergen», ergänzt Julia Brändle, Gewässerschutzexpertin des WWF. «Der Nutzen für die Stromproduktion steht dabei in keinem Verhältnis zum irreparablen Schaden an der Natur.»

Keine Interessenabwägung

Der Affront der Kommission ist umso grösser, als die Biotope von nationaler Bedeutung mit der Energiestrategie 2050 explizit strenger geschützt wurden. In solchen Biotopen seien neue Energieanlagen «ausgeschlossen»: Das war damals die Zusicherung an die Umweltverbände. Im Gegenzug akzeptierten die Um­welt­schüt­zer:in­nen Eingriffe in die weniger streng geschützten Landschaftsschutzgebiete, die sogenannten BLN-Gebiete. Die Energiestrategie wurde 2017 an der Urne angenommen.

Mit dem jetzigen Vorschlag, das Umweltrecht einseitig der Energieproduktion unterzuordnen, kämen alle Schutzgebiete und der Schutz gefährdeter Arten und Lebensräume unter Druck, sagt Julia Brändle – «weil die Interessenabwägung – ein Grundpfeiler der Schweizer Gesetzgebung – ausgehebelt würde». Auch weil bei der Umsetzung Widersprüche zu verschiedensten geltenden Gesetzen entstünden, seien Probleme bei der Realisierung programmiert.

Für die letzten wilden Berg­täler könnten alte Projekte aus der Schublade geholt werden.

Seit der Annahme der Energiestrategie 2050 gelten Anlagen für erneuerbare Energien unter gewissen Bedingungen als «nationales Interesse». Die Hürden für diese Einstufung seien bereits heute sehr tief, sagt Brändle. Der Vorschlag der Urek-S würde diese noch weiter senken. «Wird dazu der Schutz der Biotope von nationaler Bedeutung wie vorgeschlagen gestrichen, können dort selbst Kleinkraftwerke ohne wesentlichen Beitrag zur Versorgungs­sicherheit gebaut werden», sagt sie. «Notabene ohne Massnahmen, um die Schäden abzumildern.» Für die letzten noch wilden Bergtäler wie das Val Roseg, das Zinaltal oder das Maderanertal – heute alle aufgrund ihres essenziellen Beitrags zum Erhalt der Biodiversität geschützt – könnten alte Projektideen wieder aus der Schublade geholt werden, befürchtet Brändle. «Der Schaden an der Schweizer Biodiversität wäre irreversibel und geht über die Eingriffe der Kraftwerksanlagen selbst hinaus: Die Täler müssten mit Strassen, Seilbahnen und Infrastruktur für die jahrelangen Riesenbaustellen erschlossen werden.»

Tatsächlich will die Mehrheit der Urek-S die Schutz-, Wiederherstellungs-, Ersatz- und Ausgleichsmassnahmen für Anlagen für erneuerbare Energien in heutigen Schutzgebieten komplett streichen. So müssten nicht einmal Eingriffe durch Stras­sen, Bauplätze oder Deponien während des Baus renaturiert werden. «Beim aktuellen Vorschlag ist jegliches Mass verloren gegangen», sagt Brändle.

Nicht nur die Schutzgebiete, auch der Gewässerschutz soll ganz der Energieproduktion untergeordnet werden: Die Urek-S will einen Teil des Gewässerschutzgesetzes sistieren. Die Bestimmungen zum Restwasser, das nach Abzweigen von Wasser für Kraftwerke in den Flüssen übrig bleibt, sollen bis 2035 nicht mehr gelten. Bereits schlägt der Schweizerische Fischereiverband Alarm: ohne Restwasser keine Fische und keine natürlichen Gewässer! Auch Salome Steiner, Geschäftsleiterin der Gewässerschutzorganisation Aqua Viva, sagt: «Das ist inakzeptabel. Die heute geltenden Restwasserauflagen sind das absolute Minimum.» Studien hätten gezeigt, dass sogar diese nicht immer ausreichend seien für den Erhalt des Ökosystems Fluss, Lebensraum von Fischen und Insekten. Mit der Klimaerhitzung steigt die Temperatur der Flüsse – und seichtere Flüsse erwärmen sich noch schneller. Für viele Tierarten kann das lebensbedrohlich sein.

Kompromisse angegriffen

Auch heute sind trotz Bundesauftrag noch nicht alle Wasserkraftwerke entsprechend den Restwasservorgaben saniert worden. Was eine ausbleibende Sanierung bedeutet, zeigt sich etwa beim grossen Flusskraftwerk Rheinau unterhalb des Rheinfalls: Um trotzdem einen Mindestwasserstand zu erreichen und das Austrocknen des Flusses zu verhindern, wurde der Rhein unterhalb der Wasserentnahme aufgestaut. Dadurch ist er in diesem Abschnitt aber zum Stausee geworden – auf Kosten der Biodiversität. Flussfische wie Äsche, Barbe und Nase sind dort laut Aqua Viva fast komplett verschwunden.

Auch die Bestimmung zur Restwassermenge in Flüssen war bereits ein Kompromiss: Wegen ihr zog der Fischereiverband vor zwölf Jahren seine Initiative «Lebendiges Wasser» zurück. Und der letzte grosse Kompromiss der Umweltverbände ist erst einige Monate her: der «Runde Tisch Wasserkraft». Im Dezember haben sich WWF und Pro Natura mit Simonetta Sommarugas Umweltdepartement sowie Vertreter:innen der Energiewirtschaft und der Kantone auf fünfzehn mögliche Wasserkraftprojekte geeinigt. Andere Umweltorganisationen wie Aqua Viva und der Grimselverein kritisierten den Runden Tisch: Er setze einseitig auf Wasserkraft (siehe WOZ Nr. 9/22). Doch er war immerhin ein Versuch, Interessen abzuwägen. Die Urek-S setzt sich mit ihrem Vorschlag über solche Instrumente einfach hinweg.

Solarausbau statt noch mehr Staumauern: Das fordern viele Umwelt- und Land­schafts­schüt­zer:in­nen seit langem. Allerdings nicht so, wie es sich die Urek-S vorstellt: Die Kommis­sion will Solaranlagen auf freien Flächen im Gebirge ohne jede Einschränkung ermöglichen, auch ohne Umweltverträglichkeitsprüfung. Inakzeptabel für Franziska Grossenbacher von der Stiftung Landschaftsschutz: «Wenn das durchkäme, wäre es eine Bankrotterklärung für die Raumplanung.» Auch sie befürworte den Solarausbau, «aber Priorität sollten Solaranlagen auf Gebäuden und Infrastrukturen ohne Schutzstatus haben». Sie schliesse auch Solaranlagen auf Freiflächen nicht aus. Aber diese müssten sorgfältig überregional geplant und regional konzentriert sein: «Sie sollen dort hinkommen, wo die Landschaft schon durch andere Infrastrukturen beeinträchtigt ist.» Biotope nationaler Bedeutung seien tabu: «Klima-, Biodiversitäts- und Landschaftsschutz dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.»

«Völlig unständerätlich»

In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gab es in der Schweiz Dutzende umstrittene Wasserkraftprojekte – wie im Val Madris, einem Seitental des Hochtals Avers, im Val Curciusa oder auf der Greina. Der Widerstand kam von Städterinnen genauso wie von Umweltorganisationen und Alphirten. Vielleicht ist es bald nötig, an deren Erfahrungen anzuknüpfen. «Wenn den Leuten bewusst wird, dass unsere Flüsse auszutrocknen drohen, werden sie sich hoffentlich wehren», sagt Grossenbacher.

Der Vorschlag der Urek-S sei stark von den wirtschaftlichen Interessen der Bergkantone und ökonomischen Interessen geprägt, sagt Lisa Mazzone abschliessend. Das Überbordwerfen eines Rahmenwerks von Abmachungen, Gesetzen und Verfassungsartikeln sei aber «völlig unständerätlich», man habe komplett den Kompass verloren. Im Gesamtständerat wird der Vorschlag voraussichtlich kommende Woche diskutiert. Umweltorganisationen kündigten bereits Kundgebungen vor dem Bundeshaus an.

Strommarkt : Wie nachhaltig ist die Einsicht?

Wer im Jahr mehr als 100 000 Kilowattstunden verbraucht, darf seinen Strom auf dem freien Markt beschaffen: So gilt es in der Schweiz seit der Teilliberalisierung des Strommarkts 2009. Tausende Unternehmen haben sich seither für diese Option entschieden, um möglichst günstigen Strom zu bekommen, während in der Grundversorgung relativ stabile Regeltarife gelten, die sich an den Gestehungskosten orientieren.

Nun aber, nach exorbitanten Preiserhöhungen auf dem freien Strommarkt, wollen viele wieder in den sicheren Hafen der Grundversorgung zurück. «Jetzt muss die Politik schnell handeln», sagte etwa der Tessiner Mitte-Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands Fabio Regazzi gegenüber dem «Blick». Auch aus persönlicher Betroffenheit, weil seine Firma plötzlich mit ­einem Anstieg der Stromkosten auf das Sechzehnfache konfrontiert ist. Der Gewerbeverband fordert entsprechend, dass Unternehmen unter gewissen Auflagen, aber möglichst unkompliziert in die Grundversorgung wechseln können.

Politik und Wirtschaft streiten darüber, ob – und falls ja, in welcher Form – sie das dürfen (vgl. «Parmelins Blockade»). Man ist sich einig, dass die aktuellen Verwerfungen am Strommarkt ohne staatliche Eingriffe teilweise drastische wirtschaftliche und soziale Folgen haben werden. Ist also ein Moment der nachhaltigen Einsicht gekommen? Jahrelang verfolgte der Bundesrat auf Druck der EU die komplette Strommarktliberalisierung als Langzeitprojekt, das er auch gegen den Widerstand der Gewerkschaften  unentwegt vorantrieb.* Die Revision des Energie- und Stromversorgungsgesetzes, das die ständerätliche Umweltkommission letzte Woche beraten hat, sah auch vor, dass Privathaushalte und Kleinbetriebe Strom künftig vom freien Markt beziehen können. Immerhin dieses Ansinnen hat nun aber einen schweren Stand: Die Kommission sprach sich gegen die vollständige Marktöffnung aus.

«Nur ein offener Markt führt zu Wettbewerb, Innovation und Einbindung in den euro­päischen Strombinnenmarkt», heisst es hingegen weiterhin auf der Website des Energiekonzerns Axpo, und auch «Marktverzerrungen auf Konsumenten- und Produzentenseite» würden durch eine komplette Liberalisierung beseitigt. Das klingt heute wie ein Hohn: Um die gewinnmaximierenden Geschäfte der Axpo am europäischen Strommarkt abzusichern, musste ihr der Bundesrat letzte Woche einen Notfallkredit über vier Milliarden Franken bereitstellen.

* Korrigenda vom 20. September 2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion stand fälschlicherweise, die SVP habe zusammen mit SP und den Gewerkschaften die radikale Liberalisierung des Strommarktes verhindert. Das ist nicht richtig. Die SVP hat das entsprechende Referendum nicht unterstützt. Richtig ist hingegen, dass – laut VOX-Analyse – die Vorlage an der Urne abgelehnt wurde, weil auch viele SVP-Wäh­ler:in­nen dagegen stimmten. Wir bitten für diesen Fehler um Entschuldigung.