Literatur: Schimpfen und Fluchen auf der Donauinsel

Nr. 2 –

Ein Dorf und seine Niedertracht: Der ungarische Autor Péter Nádas hat mit «Schauergeschichten» einen grossartig derben Roman geschrieben, der die Wurzeln des Orbanismus freilegt.

Dieses Buch ist eine Überraschung: Vor fünf Jahren erklärte der ungarische Autor Péter Nádas, dass er von der Fiktion Abschied nehme. Nach über fünfzig Jahren des Schreibens von Geschichten und Romanen habe er genug davon. «Die Realität war mir schon immer wichtig», so Nádas in einem Radiogespräch, «und ich pendelte zwischen Realität und Fantasie. Realität hat eine Kontrollfunktion, und Fantasie ist Freiheit.» Damals erschien das Buch «Aufleuchtende Details», in dem er präzis und berührend von seinen ersten zwölf Lebensjahren berichtete sowie von der Geschichte seiner Eltern und des Landes. In jenen «Memoiren eines Erzählers» wollte er quasi dokumentarisch prüfen, «welche meiner Erinnerungen stimmen».

Nun ist Nádas, der vor kurzem achtzig geworden ist, doch wieder zur Fiktion zurückgekehrt. Mit «Schauergeschichten» legt er einen virtuosen vielstimmigen Roman vor, der Mitte der sechziger Jahre in Ungarn spielt, während der Zeit des sogenannten Gulaschkommunismus unter KP-Chef János Kádár als Ministerpräsidenten.

Zum Teufel mit allem

Hatte Nádas in seinen grossen Romanen «Das Buch der Erinnerung» (1986) und «Parallelgeschichten» (2005) vorab das Stadtleben unter Faschismus und Kommunismus geschildert, führen uns die «Schauergeschichten» in ein fiktives Dorf auf der grossen Donauinsel im Norden von Budapest. Das Dorf wird oft von Hochwassern überschwemmt, und im Sommer ist es dort dürr und unerträglich heiss. Nádas weiss, wovon er spricht: Er hat als junger Mann auf jener Donauinsel gelebt, und neben seinem Stadtdomizil in Buda bewohnt er seit Jahrzehnten ein Haus in einem winzigen westungarischen Dorf.

Die Bewohner:innen der namenlosen Ortschaft in «Schauergeschichten» verstehen sich vor allem auf eines: Schimpfen und Fluchen. Alles wird und alle werden pausenlos geschmäht und verwünscht: die Nächsten ebenso wie die Nachbar:innen, der Himmel mit katholischem oder calvinistischem Gott, die verhassten kommunistischen Behörden genauso wie die Grosskopferten aus der Stadt. Bosheit, Grausamkeit, Häme, Neid, Niedertracht und Verlogenheit kennzeichnen den Umgang der Menschen untereinander – Empathie bleibt ein Fremdwort. Nádas beschreibt das in einer ungezügelten, deftigen, obszönen Fäkal- und Genitalsprache, erbarmungslos und krude: alles ist «verfickt» und soll «zum Teufel» gehen, «Gott scheisst den Himmel vom Himmel herunter» lautet gleichsam das Motto.

Wer erzählt? Das erschliesst sich zu Beginn nicht leicht; es ist eine Art Stimme des Kollektivs, ein allwissendes Wir: «Bei uns gibt es nichts, was wir nicht wüssten», heisst es einmal. Daraus lösen sich dann einzelne Figuren, die mit eigener Stimme ihre Erfahrungen, Erinnerungen, Traumbilder schildern.

Der Autor fokussiert dabei nicht auf die dumpfe, duckmäuserische Mehrheit, sondern auf ein halbes Dutzend Menschen am Rand. Da ist Teres Varnagy, eine «greise, nichtsnutzige, schlaue, böse Alte», die, von ihrer ehrenwerten Familie nach einem Fehltritt verstossen, als Putzkraft in der geschlossenen Psychiatrie und als Dienstmagd in der Budapester Bourgeoisie überlebt hat. Was sie da von den Ansprüchen ans Dienstpersonal akribisch notiert, ist so schauerlich, dass es für sich allein schon die Lektüre wert ist.

Inzwischen bald achtzig Jahre alt, ist Teres ins Dorf zurückgekehrt, wo sie nebst dem Garten einen kleinen Weinberg bewirtschaftet. Zur Hand geht ihr dabei einzig die Tagelöhnerin Rosa. Diese ist Epileptikerin und kognitiv beeinträchtigt, abends wird sie regelmässig im Hinterzimmer der Dorfkneipe missbraucht. Schon mehrfach wurde sie dabei geschwängert, die Neugeborenen hat man ihr stets weggenommen, und nach einer Totgeburt wird sie ins Gefängnis gesteckt.

Dann gibt es die nur «Zwergin» genannte Wirtin, die wie zum Hohn einen hünenhaften Sohn, Imre, hat. Dieser macht der einzigen lichten Figur den Hof: der heilpädagogisch und diagnostisch begabten Psychologiestudentin Piroschka. Als der unbeholfene Brutalo in einer endlosen Szene, in der reissenden Donau stehend, einen kleinen Hund quält und damit auch Piroschka, bringt sie den Übeltäter zum katholischen Pater. Dieser nimmt bei ihm eine – im Sozialismus streng verbotene – Teufelsaustreibung vor. Dabei registriert Piroschka mit Schaudern, wie ihr Ekel vor Imre – «ein Schwein, eine Wildsau, ein Tier» nennt sie ihn – plötzlich in Anziehung kippt: «Unverblümt gesagt, hatte sie Lust auf ihn bekommen, für sie keine bekannte physische Erfahrung.»

Tatsächlich gilt Piroschkas Liebe dem blitzgescheiten Mischike, der an Muskelschwund leidet und im Rollstuhl sitzt. Er fährt jeweils mit seiner Mutter aus Budapest in die Sommerfrische zur alten Teres. Piroschka und er begegnen sich quasi unschuldig während der Messe in der Kirche, sie spielen Schach und erörtern philosophische und naturwissenschaftliche Fragen.

Nádas kann ansatzlos vom fluchenden Gebrabbel von Teres oder des missgünstigen Dorfchors zu hochfliegenden Diskursen wechseln. Wie mit Zauberhand entwickelt er einen erzählerischen Sog, dem die Lesenden gebannt folgen, und wie er dabei Scheussliches und Schönes, Fantastisches und bitter Reales in seiner tragikomischen Vielfalt sprachlich und gedanklich verschränkt, das ist mit einem Wort: Weltliteratur.

Was wäre, wenn?

Am Ende steht, einer Sturmflut gleich, ein gigantisches Finale. Danach sind, wie in einer Tragödie von Shakespeare, eine Handvoll Hauptfiguren tot. Doch das scheint das Dorf kaum zu erschüttern. Im Schlussbild sehen wir zwei Aufrechte, den ernüchterten Lehrer und den reformierten Pfarrer, beim Sichten alter Schriftstücke aus den Kirchenakten des Dorfes. Konfrontiert mit der Erkenntnis, dass die moralischen Richtschnüre eines Immanuel Kant nicht mehr greifen, bleibt ihnen die ewige Frage, die am Anfang allen Erzählens steht: «Was wäre gewesen, wenn es nicht so geschehen wäre, wie es geschehen ist?»

Wer sich fragt, weshalb der Autor Nádas mit diesem staunenswerten Roman nochmals zur Fiktion zurückkehrt, findet die Antwort vielleicht in seinem 2006 erschienenen Text «Behutsame Ortsbestimmung». Dort gibt er verstörende Einblicke ins vielfach archaisch geprägte Leben in «seinem» Dorf, in die alles durchdringende Korruption, in die Abwesenheit jeglichen Wissens vom Sinn und Inhalt politischer Freiheit, in Akte grausamer Selbstjustiz und allgemein akzeptierter Betrügereien gegenüber dem verhassten Staat. Ähnlich wie jetzt in den «Schauergeschichten» heisst es dort: «Ausser dem Wissen des Dorfs gibt es kein Wissen.»

Der korrupte Autokrat Viktor Orbán findet seine Wähler:innen bekanntlich überwiegend in den ländlichen Regionen. Wir erkennen eine gespenstische Kontinuität: Péter Nádas spürt in seinem neuen Roman den Wurzeln, der heillosen Ahnenschaft des von aussen oft schwer verständlichen Orbanismus unserer Tage nach. Dass er dies nicht in einem Essay, sondern in einem fulminanten Prosapanorama unternimmt, ist dann doch weniger überraschend und ein Glücksfall.

Buchcover von «Schauergeschichten»

Péter Nádas: «Schauergeschichten». Roman. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Rowohlt Verlag. Hamburg 2022. 575 Seiten. 45 Franken.