Eine Stadt als Waffenhub: «Kleinbrüssel» in der Provinz

Nr. 9 –

Das südostpolnische Rzeszów ist zum Drehkreuz für westliche Waffenhilfe an die Ukraine und Stationierungsort von US-Soldat:innen geworden. Zwischen Stolz und Angst leben die Einwohner:innen in einer vom Krieg veränderten Stadt.

Ein US-Militärjet und eine US-Regierungsmaschine am Flughafen von Rzeszów.
Warten auf Joe Bidens Rückkehr aus der Ukraine: Ein US-Militärjet und eine US-Regierungsmaschine am 20. Februar im Flughafen von Rzeszów.


Da war er wieder, der hohe Gast aus den USA. Schon zum zweiten Mal innerhalb von nur elf Monaten machte US-Präsident Joe Biden auf dem Flughafen Jasionka halt, diesmal beim Zwischenstopp auf seinem Weg nach Kyjiw und von dort nach Warschau. Grosses Aufheben gab es nicht darum in der Stadt, zu der der Regionalflughafen gehört. Das Leben im 200 000 Einwohner:innen zählenden Rzeszów ging weiter wie gewohnt. «Wir spüren den Krieg und spüren ihn gleichzeitig nicht», sagt die Journalistin Barbara Kędzierska beim Gespräch im Zentrum der Stadt. «Wir wachen jeden Tag mit dem Wissen auf, dass er nah ist, doch durch die Anwesenheit der Amerikaner fühlen wir uns sicher.» Kędzierska betreibt seit einigen Jahren das lokale Onlineportal czytajrzeszow.pl, das über Politik, Geschichte und Kultur berichtet. «Rzeszów ist so eine Art polnisches Ramstein geworden – und das schafft ein Plus an Sicherheit.»

Der Vergleich mit der deutschen US-Basis hinkt zwar: Ramstein ist grösser, hat mehr US-Personal, mehr technisch-militärische Möglichkeiten. Trotzdem: die aktuelle Bedeutung Rzeszóws ist immens. Und die Asphaltpiste des Flughafens ist mit 3200 Metern genauso lang wie die in Ramstein. In den letzten Monaten sind hier vor allem Transportflugzeuge gelandet, voll beladen mit Waffen, die in die rund achtzig Kilometer östlich liegende Ukraine gebracht werden. US-Einheiten tauchten hier bereits kurz vor Ausbruch des Krieges auf, später kamen Soldat:innen anderer Nato-Staaten hinzu.

Die Bedeutung der Stadt als Waffenhub bewog den russischen Duma-Abgeordneten Konstantin Zatulin in einer Fernsehsendung Ende Januar dazu, eine «terroristische Attacke» zu erwägen. «Wir müssen in einer Weise agieren, dass man uns nicht demaskieren kann. Ein Angriff mit Raketen auf Rzeszów wäre zu viel. Wir können schaffen, dass etwas explodiert», sagte Zatulin. Auch wenn der Politiker in Russland keine bedeutende Figur ist – für verdeckte Sabotageaktionen jenseits der Ukraine wäre der Knotenpunkt Rzeszów ein logisches Ziel.

Das weiss auch General Tomasz Bąk, Professor an der privaten Hochschule für Recht und Verwaltung in Rzeszów. Als praxiserfahrener Militär unterrichtet er seit Jahren den Studiengang «Innere Sicherheit», der künftige Kader für die Zivilverwaltung und die uniformierten Dienste ausbildet. Zu den Studieninhalten zählen Krisenmanagement oder der Umgang mit hybriden Bedrohungen. «Natürlich könnte Russland in einer Wahnsinnstat Rzeszów attackieren», sagt Bąk auf dem modernen Hochschulcampus. «Doch wir müssen uns klarmachen: Moskau verfügt über Waffen, die Angriffe auf das gesamte Gebiet Polens ermöglichen.» Wahrscheinlich sei ein Angriff aber nicht. «Der Kreml weiss: Jede etwaige Attacke könnte auch Bürger anderer Staaten treffen – und einen globalen Konflikt lostreten.» Zwar sei auch in Rzeszów eine gewisse Erregung und Sorge bemerkbar. «Doch ich beobachte keine besonders nervösen Handlungen, die zeigen würden, dass die Menschen verängstigt und paralysiert sind.»

Medien, NGOs, Uno-Leute

Die ersten US-Soldat:innen kamen zunächst in einer riesigen Kongresshalle am Flughafen unter, inzwischen sind sie in eine eigene provisorische Basis ein paar Kilometer nördlich davon gezogen. Einige wohnen auch in Hotels der Gegend. Hinzu kommen Medien aus der ganzen Welt, Mitarbeiter:innen staatlicher und nichtstaatlicher Hilfsorganisationen, Vertreter:innen der Uno und der EU: Rzeszów hat im vergangenen Jahr deutlich an Bedeutung gewonnen. «Kleinbrüssel» nennt Oberbürgermeister Konrad Fiołek seine Stadt inzwischen.

Dabei spiegeln viele Ecken eher provinzielle Tristesse als grossstädtische Ambitionen – das kleine zivile Passagierterminal des Flughafens etwa oder die Gegend rund um den Hauptbahnhof. Südlich des Stadtzentrums stehen indes einige imposante Hochhäuser, ein paar weitere sind im Bau. Auf den ersten Blick wirken sie wie eine Nummer zu gross. Auf den zweiten etwas weniger. Zumal die Hochschulen mit ihren derzeit knapp 50 000 Student:innen der Stadt spürbar Leben einhauchen – sie sind Kaderschmieden, nicht zuletzt für die in der Region ansässige Luftfahrtbranche. Die Arbeitslosigkeit lag in Rzeszów Ende 2022 bei nur 4,2 Prozent – in der umliegenden Region ist sie doppelt so hoch, die Einkommen sind dort rund zwanzig Prozent tiefer als in der Stadt.

Allenthalben werden Strassen ausgebaut. Die aktuelle Präsenz internationaler Organisationen dürfte nicht nur für kurzfristige Umsatzsprünge sorgen, sondern auch langfristige Zukunftschancen eröffnen. Die Stadt könnte auch nach einem erhofften Frieden ein wichtiger Transmissionsriemen zwischen Ost und West bleiben.

Spenden und steigende Mieten

In einer Buchhandlung am historischen Marktplatz arbeitet Wanda Nowarczuk*. «Ich lebe seit neunzehn Jahren in der Stadt, und es wird von Jahr zu Jahr besser», sagt die 44-Jährige, die lieber anonym bleiben möchte. Um die Sicherheit macht sich Nowarczuk keine Sorgen. «Ich denke, wir sind eine der am besten geschützten Städte des Landes», sagt sie und verweist auf die Präsenz der US-amerikanischen Soldat:innen. Ihr Stolz rührt aber noch von woanders: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hatte Rzeszów im Mai mit dem Titel «Retterstadt» ausgezeichnet, als einzige in Polen neben der Grenzstadt Przemyśl, wegen ihrer Verdienste bei der Aufnahme von Geflüchteten. «Die Menschen hier haben sich nicht nur direkt nach Kriegsbeginn mit den Flüchtlingen solidarisiert, sondern tun das auch weiterhin. Eine Freundin von mir hat eine ukrainische Familie aufgenommen. Und bis heute findet man in Supermärkten Spendenboxen – und da ist auch immer etwas drin.»

Zu den 200 000 Einwohner:innen von Rzeszów kommen derzeit 40 000 ukrainische Geflüchtete. Viele haben eine Arbeit und reguläre Wohnungen gefunden. Zugleich sind die Preise für Kauf und Miete von Wohnraum in der Stadt stärker gestiegen als in anderen Orten in der Region. Bei einigen Einwohner:innen sorgt das für Unmut. «Studierende, die in die Stadt ziehen, haben Probleme, eine Wohnung zu finden», sagt ein Taxifahrer. «Denn die Ukrainer können sich die Wohnungen leisten und mieten sie zu höheren Preisen. Es kommen viele Flüchtlinge, die wohlhabend sind.» Er fährt eher lapidar als erbost fort: «Es ist wie immer: Es sind die Armen, die fürs Vaterland kämpfen.»

Seine Worte könnten auch von Grzegorz Braun stammen. Der landesweit bekannte Sejm-Abgeordnete des rechtspopulistischen Parteienbündnisses Konfederacja hat in Rzeszów seinen Wahlkreis. 2021 kandidierte er für den Posten des Stadtpräsidenten, erhielt aber nur neun Prozent der Stimmen. Für ein Gespräch hat er keine Zeit, Fragen per E-Mail beantwortet er trotz vorheriger Zusage nicht. Fragen etwa dazu, warum er auf Kundgebungen den «Stopp der Ukrainisierung Polens» fordere und eine Begrenzung der Hilfen für Flüchtlinge verlange; oder warum er verneine, dass Polen und die Ukraine die gleichen Interessen hätten.

Bis auf Weiteres agieren Braun und sein Parteienbündnis nicht nur in Rzeszów in der Nische, die Zustimmung zur Konfederacja hat im ersten Kriegsjahr laut Umfragen nicht zugenommen. Überhaupt wirkt die Stadt fast seltsam normal dieser Tage rund um den Jahrestag des Kriegsausbruchs.

Im Wanda-Siemaszkowa-Theater gibt es aktuell zwei russische Klassiker zu sehen: «Der Meister und Margarita» des in Kyjiw geborenen russischen Schriftstellers Michail Bulgakow und «Der Kirschgarten» von Anton Tschechow. Jan Nowara ist Direktor und künstlerischer Leiter des Theaters. Er sagt: «Ich will nicht schlecht über Meisterwerke dramatischer Literatur oder Musik aus Russland denken, nur weil ein wahnsinniger Despot sein Land in einen derart riesigen Konflikt mit der Welt führt.» Proteste habe es nicht gegeben, beide Stücke seien gut besucht. «Menschlichkeit», sagt Nowara, «wird für Kunstschaffende immer wichtiger sein als der Schrecken des gewaltsamen Konflikts, der Teil der Weltgeschichte ist.»

Am Tag nach Bidens Zwischenstopp warten etwa hundert Reisende im Passagierterminal von Jasionka. Die zwei Batterien des US-Patriot-Raketenabwehrsystems sind nicht zu sehen, dafür zwei US-Maschinen auf dem Flugplatz – ein graues Militärtransportflugzeug und eine Air-Force-Reservemaschine des US-Präsidenten. Ein Polizist sendet halbherzige Handzeichen, dass keine Fotos gemacht werden dürfen. Alles sicher hier?

* Name geändert.