Kayije Kagame: Nähe ohne Worte

Nr. 9 –

Die Schweizer Künstlerin und Schauspielerin Kayije Kagame hat in «Saint Omer» ihre erste grosse Filmrolle. Ein Besuch in ihrem Atelier in Genf, wo alles seinen Anfang nahm.

Portraitfoto von Kayije Kagame
«Dass es Frauen waren, die mich filmten, hat einen Unterschied gemacht»: Kayije Kagame im Cinéma Spoutnik in der Genfer Usine. Foto: Olivier Vogelsang


Langsam dunkelt es über Genf, über der Rue de la Coulouvrenière, wo sich der Eingang zur Usine befindet, einem selbstverwalteten Kulturhaus, das neben Kino und Theater auch verschiedene Ateliers beherbergt. Das Treppenhaus ist spärlich beleuchtet, es riecht nach kaltem Rauch. Auf der Treppe sitzen Menschen, warten, chatten, scrollen durch Instagram. Und steigt man zum ersten Mal bis ganz nach oben, kommt einem der Weg schier unendlich vor, bis man an der Schwelle des Ateliers von Kayije Kagame steht, die mit der Hauptrolle in «Saint Omer» gerade ihren Durchbruch als Schauspielerin feiert.

Im Vergleich zum engen Treppenhaus ist es gross und geräumig hier oben, mit freier Sicht auf die Rhone, auf die Lichter, die nach und nach am Horizont angehen. «Dieser Ort liegt mir sehr am Herzen», sagt Kagame, während sie aus dem Fenster in die Weite schaut. «Vielleicht liegt es daran, dass in diesem Haus alles seinen Anfang genommen hat.» Das gilt auch, aber bei weitem nicht nur für ihre Rolle in «Saint Omer» (vgl. «Mütter sind Monster (aber überaus menschliche)»).

Sie habe lange gleich um die Ecke gewohnt, erzählt sie. «Ich habe viel Zeit hier verbracht, noch bevor ich das Glück hatte, diesen Atelierplatz zu bekommen.» Zwar zog es sie über die Jahre immer wieder in andere Städte: nach Lyon für das Studium an der dortigen Theaterhochschule, später als Artist in Residence nach New York und Paris. Doch sie kam immer wieder zurück nach Genf, in die Usine.

Hier waren mehrere selbstproduzierte Stücke von Kagame zu sehen, darunter etwa «Avec grace» im Jahr 2020, das um Fragen von An- und Abwesenheit kreiste, um die Repräsentationsmöglichkeiten, die einem überhaupt zur Verfügung stehen. «Ich bin eine Schwarze Frau, die in der Schweiz geboren wurde. Repräsentation ist kein bewusst gewähltes Thema, es schwingt immer mit.» Denn was sie tue und wie sie sich äussere, das sei auf eine gewisse Weise immer politisch.

Ein Beispiel dafür ist die Performance «Night Shift» von letztem Jahr in der Fondation Cartier in Paris. Für die Performance, die ausserhalb der gewohnten Öffnungszeiten stattfand, schlüpfte Kagame in die Rolle einer Aufsicht. «Menschen wie ich werden in Museen oft als Angestellte wahrgenommen, aber nicht als mögliche Besucher:innen. Wenn ich als Schwarze Künstlerin eine Aufsicht verkörpere, führt das zu einem Perspektivenwechsel.» Entsprechend sei die Möglichkeit, an einem solchen Ort zu performen, unweigerlich mit politischen Kämpfen und Widerständen verknüpft.

Mit dem Kino versöhnt

Die Usine war für Kayije Kagame nicht nur ein Experimentierfeld für ihre eigenständige künstlerische Praxis; hier begannen auch die Gespräche über «Saint Omer» mit der französischen Regisseurin Alice Diop. «Wir haben uns vor fünf Jahren kennengelernt, gleich unten im Kino Spoutnik», sagt Kagame, in ihrem Ton schwingt Freude und Ungläubigkeit mit. Sie trafen sich im Saal mit den alten, roten Sesseln, als dort die ersten Filme von Alice Diop liefen. «Wir kamen ins Gespräch und fingen auch an, über ‹Saint Omer› zu reden, an dem sie gerade arbeitete. Und dann haben wir uns verliebt.» Kagame schmunzelt, während sie davon erzählt, von der Beziehung zu Alice Diop, aus der offenbar mehr als nur eine berufliche geworden ist. Ihre Erzählungen sind durchsetzt mit langen Pausen, mit nachdenklichen Blicken. Sie sitzt auf dem beigen Sofa in ihrem Atelier, einem der wenigen Möbel in diesem grossen Raum; ihre Ellbogen auf die Knie abgestützt, spielt sie mit ihrer Kette, zieht das kleine Herz hin und her, das daran befestigt ist.

Der Auftritt in «Saint Omer» ist Kagames erste grosse Hauptrolle. Es gab zwar schon kleinere Projekte wie den Kurzfilm «Das Wortgefecht» (2021), in dem es um sexualisierte Gewalt ging, um grenzüberschreitendes Verhalten und um die Sprache, die für das Reden darüber oft fehlt. Und dieses Jahr war sie an den Solothurner Filmtagen im Kurzfilm «Initial» zu sehen. Doch eigentlich hatte sie entschieden, nicht mehr an Castings zu gehen: «Irgendwann merkte ich, wie schwierig es als nichtweisse Künstlerin ist, gecastet zu werden. Also beschloss ich, meine Stücke einfach selbst zu schreiben.» So hatte sie sich lange auf ihre eigene künstlerische Praxis konzentriert – bis zu dieser Begegnung mit Alice Diop hier in der Usine. «Dank Alice habe ich mich mit dem Kino versöhnt. Sie hat mir vor Augen geführt, welches Potenzial darin steckt.»

Der Blick hinter der Kamera

In «Saint Omer» spielt Kayije Kagame die junge Autorin Rama, die im Rahmen ihres Buchprojekts über den Mythos der Medea als Beobachterin an einem Gerichtsprozess teilnimmt. «Ich konnte mich gleich mit der Figur von Rama identifizieren. Viele ihrer Herausforderungen habe ich in meinem eigenen Alltag wiedererkannt: Wie schwer ein künstlerischer Prozess wie das Schreiben sein kann, wie viel Einsamkeit damit einhergeht. Wie man sich selbst darin verlieren, aber vielleicht auch finden kann.»

Während der Verhandlungspausen verbringt Rama die Tage in einem Hotelzimmer – alleine mit ihrer Schwangerschaft, mit ihren Gedanken über Laurence Coly, die des Mordes an ihrem fünfzehn Monate alten Kind angeklagt ist. «Im Film geht es weniger um das Buch, das Rama gerade schreibt, oder um Fragen nach gerechter Strafe, sondern um Mutterschaft», sagt Kagame. Um die vielschichtigen Gefühle also, von denen nur wenige gesellschaftlich akzeptiert sind: nur die Freude, aber nicht die Trauer, die Angst oder die Unsicherheit.

Die Arbeit am Film sei sehr intensiv gewesen: «Ich hatte nur wenig Text zur Verfügung und musste vieles ohne Sprache vermitteln.» Alice Diop habe am Anfang immer zu ihr gesagt: «Versuch einfach nicht zu schauspielern!» Sie lacht, wenn sie daran denkt, dass sie lange nicht wusste, wie sie das nun anstellen, wie genau sie eine Nähe herstellen sollte, die ganz ohne Worte auskommt. Doch eben das ist ihr gelungen: Als stille Beobachterin sitzt sie im Gerichtssaal, signalisiert ihre Betroffenheit mit flüchtigen Blicken und subtiler Mimik; mit schwerem Atem und rastlosen Gesten, sobald sie wieder alleine im Hotel ist. «Es hat mir geholfen, dass bei intimen Szenen, zum Beispiel bei jenen im Hotelzimmer, nur Alice Diop und Kamerafrau Claire Mathon dabei waren. Dass es Frauen waren, die mich filmten, hat einen Unterschied gemacht.»

Wie eng Blicke mit Machtverhältnissen verknüpft sind, mit Entscheidungen darüber, wie und ob eine Person abgebildet und dargestellt wird: Das sind Fragen, die Kayije Kagame nicht nur in ihrem beruflichen Alltag beschäftigen, sondern auch in ihrer künstlerischen Praxis. Sie versinkt kurz in Gedanken, schaut wieder auf: «Ich realisiere gerade, dass dieser Film seit fünf Jahren in meinem Kopf ist. Ich glaube, es ist Zeit, weiterzumachen.»