Literatur: Von Schwänen verschluckt

Nr. 26 –

Saskia Winkelmann ist mit ihrem Romandebüt eine fesselnde Geschichte über den freien Fall gelungen: Ein literarischer Rausch mit einer lebensmüden Achtzehnjährigen in der Hauptrolle.

Portraitfoto von Saskia Winkelmann
In einer sorgfältig gewählten Sprache erzählt Saskia Winkelmann von Aufbegehren und Begehren, von Überdruss und Leere. Foto: Eglė Šalkauskyte

Ruhe vor den eigenen Gedanken hat die namenlose Ich-Erzählerin nur beim stundenlangen Herumschlendern oder wenn sie im Mittelmeerhaus des Botanischen Gartens zwischen Feigenbäumen und Sukkulenten liegt. «Draussen ist es wie in einer Hose, die viel zu eng ist. Hier kann ich sie aufmachen.» So beschreibt sie den Zufluchtsort, in den sie sich auch mal über Nacht einschliessen lässt.

Eine Decke aus Langeweile

Ansonsten schläft sie schlecht, träumt von Schwänen, die sie verschlucken und in Hochhäusern wieder ausspucken. Die Gymnasiastin lebt mit der Mutter, die das Haus kaum verlässt, isoliert am Stadtrand. Die Mutter – immer da, aber doch nie anwesend – kämpft mit eigenen Monstern. Langeweile hat sich über das Leben der Ich-Erzählerin gelegt wie eine bleierne Decke. Sie sucht, weiss aber nicht genau, wonach. Rückblickend wird sie über diese Zeit sagen: «Es kommt mir vor, als wäre ich blind tastend rumgelaufen, und ich habe mir gewünscht, auf etwas zu stossen, an das ich wirklich glauben könnte. Oder etwas, das mich zumindest begeistern würde, das ich in mich einschliessen und dem ich mich ganz hingeben könnte.»

Es ist ein trostloses Setting, in das die Berner Autorin Saskia Winkelmann ihre Protagonistin einbettet. Bis Jo auf der Bildfläche erscheint. Sie kommt neu in die Klasse, eine Narbe auf ihrem Unterarm erzählt von einem Suizidversuch. Die Romanfigur ist elektrisiert von Jo, geradezu in ihren Bann gezogen, Jo wird das «Du» in der Geschichte: «Deine Pupillen sind so gross und schwarz, dass ich hineinsteigen möchte.» In ihrer Nähe fühlt sich die Romanfigur verträumt und verwegen. «Ich war in einem Rausch von Tag eins an.»

Eine körperliche Sprache

Jo zieht sie nicht nur in ihren Bann, sie öffnet ihr auch eine Betontür zu einem illegalen Kellerclub und nimmt sie mit in die Welt wummernder Bässe, stampfender Menschen, des Nebels und des Rauchs. Hier ist die Musik so laut, dass sie ihre eigenen quälenden Gedanken nicht mehr hören kann. Und längst nicht nur das Dröhnen hilft dabei: Die Protagonistin lernt die Muntermacher und Runterkrieger, die Linien fürs Selbstvertrauen und die Plättchen fürs Hoch kennen.

«Höhenangst» kommt von einer Autorin, die genau weiss, wie elektronische Tracks aufgebaut sind, in denen die Leute versinken wollen: Die 32-jährige Saskia Winkelmann steht als Kia Mann hinter dem DJ-Pult. Vermutlich liegt es daran, dass die Clubszenen im Buch so authentisch wirken. In Biel hat die Autorin literarisches Schreiben und in Wien Sprachkunst studiert, sie ist Regionalverantwortliche für die Berner Sofalesungen und verfasste unterschiedlichste Texte – auch für die WOZ hat sie schon geschrieben. «Höhenangst» ist ihr erster Roman.

Die zunehmende Abhängigkeit von Jo beschreibt Winkelmann in bemerkenswert körperlichen Schilderungen. Sie lässt mit Eiter gefüllte Blasen im Bauch der Protagonistin platzen, wenn diese von ihr keine Aufmerksamkeit bekommt. Die Eifersucht wiederum legt sie ihr wie eine Taubheit über den Körper. Und das gemeinsame Trinken fühlt sich für die Hauptfigur so an: «Es ist mir, als würdest du mir etwas von dir selbst einflössen, einen Saft, der produziert wird von einem inneren Organ, das du angezapft hast, um mich damit zu nähren.»

Wer springt, braucht Mut

Auch die metallisch schmeckenden Plättchen sind jetzt im Alltag der Protagonistin angekommen. Und wir tauchen mit ihr ein in einen Strudel von Bildern und Gefühlen, die sie hervorbringen. In der Jagdhütte, die Jos Grossvater gehörte und in die sich die beiden nun öfter zurückziehen, kommt es zu kontemplativem Nachdenken über die Natur, das Gefühl der Selbstauflösung, aber auch zu blanker Panik. Jo schafft es, die solitäre Hauptfigur aus sich rauszuholen: «Ich wollte mich umkehren, du wolltest mich behalten.» Sie lässt sie befreit in die Berglandschaft schreien, steht aber auch mal mit einem geladenen Gewehr vor ihr.

Dass Jo gefährlich werden kann, ahnen die Leser:innen schnell. Sie versetzt auch die Protagonistin in Angst. Die beiden prallen aufeinander, stossen sich ab, aber viel mehr noch ziehen sie sich an. Die Tage und Trips verschwimmen, genau wie die körperlichen Grenzen: «Es erscheint mir möglich, dass wir zu zweit in einem Körper leben, dass du in einem Teil von mir haust», stellt die Romanfigur irgendwann fest. Und imaginiert ein Nest in ihrem Bauch, in das sich Jo hineinlegen könnte «wie eine junge Maus noch ohne Haare».

In der Erzählung nimmt Saskia Winkelmann Lücken in Kauf, springt in den Zeiten wild hin und her. Das passt gut zu der hypnotischen und drogendurchzogenen Geschichte, von der von Anfang an klar ist, dass sie auf ein unheilvolles Ende hinsteuert. Winkelmanns Erstling erzählt in einer sorgfältig gewählten Sprache, bei der kein Wort überflüssig wirkt, von Aufbegehren und Begehren, von Überdruss und Leere, von der Sehnsucht nach Einswerdung und vom schmalen Grat zwischen Lebenshunger und Lebensmüdigkeit. Vor allem aber erzählt er vom Mut, in innere Abgründe hineinzuspringen, trotz oder vielleicht gerade wegen der Höhenangst.

Buchcover von «Höhenangst»
Saskia Winkelmann: «Höhenangst». Roman. Verlag Die Brotsuppe. Biel 2023. 196 Seiten. 32 Franken.