Eskalation in Nahost: Die israelische Demokratie stirbt auch im Westjordanland

Nr. 28 –

In Israel flammen die Proteste gegen die geplante Justizreform wieder auf. Derweil annektiert Israel de jure das Westjordanland.

Die letzten Monate dürften die blutigsten gewesen sein, die der Landstrich zwischen Mittelmeer und Jordan seit dem Ende der Zweiten Intifada gesehen hat. Zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren griff Israel Ziele im besetzten Westjordanland aus der Luft an und setzte Kampfdrohnen ein. Anfang Juli führte das israelische Militär in Jenin eine gross angelegte Militäroperation durch. Das erklärte Ziel: die Gleichung in Sachen Terrorismus verändern. Das Flüchtlingslager in Jenin gilt auf israelischer Seite als Brutstätte des Terrorismus – auf palästinensischer als Hochburg des Widerstands.

Militäroperationen in etwas kleinerem Massstab als die in Jenin sind im Westjordanland derzeit ebenso an der Tagesordnung wie Angriffe auf Israelis. Traurige Höhepunkte: Pogromartige Ausschreitungen im Februar und Juni in Huwara und anderen palästinensischen Dörfern, bei denen Siedler:innen Häuser und Autos von Palästinenser:innen in Brand setzten. Der Rückendeckung von Teilen der Regierung konnten sie sich sicher sein: Die Siedler:innen deklarierten die Angriffe als gerechte Vergeltung für einen Anschlag, bei dem zwei Israelis von Palästinensern getötet worden waren.

Neuer Sonderposten

Gleichzeitig sind Anfang Woche überall in Israel erneut Massenproteste ausgebrochen: Die Regierungskritiker:innen blockierten Autobahnen und Knotenpunkte, entfachten Feuer auf den Strassen. Auslöser war, dass die Regierung am Montag in erster Lesung einen ersten Teil der umstrittenen Justizreform gebilligt hat. Kommt das Gesetz durch, werden die Befugnisse des Obersten Gerichts signifikant eingeschränkt. Bei den Protesten geht aber eines unter: Die israelische Demokratie ist nicht nur von der Justizreform bedroht, sondern auch durch das israelische Vorgehen im Westjordanland.

Während alle Augen auf die Pläne der Regierung gerichtet sind, die Gewaltenteilung aufzuheben und die Macht des Obersten Gerichts zu schwächen oder ganz zu tilgen, erregte im Februar ein bürokratischer Schritt mit enormer politischer Tragweite wenig öffentliche Aufmerksamkeit: Die Regierung hat den Posten eines Sonderministers innerhalb des Verteidigungsministeriums eingerichtet und diesen dem rechtsradikalen Hardliner und Siedlerführer Bezalel Smotrich übertragen. Auf diesem Posten (Smotrich ist auch Finanzminister) erhielt er weitreichende Befugnisse über zivile Angelegenheiten in grossen Teilen des Westjordanlands. Bislang waren dort auch zivile Aufgaben ausschliesslich dem israelischen Militär vorbehalten.

Verschiedene Menschenrechtsorganisationen schlugen Alarm, unter ihnen die besatzungskritische Organisation ehemaliger Soldat:innen, Breaking the Silence. Der Schritt käme einer Erklärung der israelischen Souveränität über das Westjordanland gleich – also einem Verstoss gegen das in der Uno-Charta verankerte Verbot von Gebietseroberungen. Die Übertragung der Zuständigkeiten auf das Verteidigungsministerium zerstöre die Illusion, dass Israels Besetzung des Westjordanlands nur vorübergehend sei, so Breaking the Silence. Stattdessen verfestige sie ein ungleiches, zweistufiges Rechtssystem für Israelis und Palästinenser:innen.

Ein Beispiel: Smotrichs Zivilverwaltung soll für die Wasserzuteilung für Jüdinnen und Juden im Westjordanland zuständig sein, das Wasser für die Palästinenser:innen wird aber weiterhin das israelische Militär zuteilen – die ungleiche Verteilung ist vorprogrammiert.

Seit Jahrzehnten gehört es zur israelischen Regierungspolitik, den israelischen Einfluss auf die palästinensischen Gebiete zu sichern. Doch der aktuelle Schritt hat eine neue Qualität: Er kommt einer De-jure-Annexion des Westjordanlands gleich. Ein Aufschrei innerhalb der israelischen Bevölkerung blieb aus.

Schwacher Abbas

Fakten im Westjordanland schafft die israelische Regierung auch auf anderer Ebene. Das Tempo, in dem die Koalition neue Siedlungen genehmigt und wilde Siedlungen legalisiert, sei beispiellos, erklärte kürzlich die israelische Friedensorganisation Peace Now. Die Regierung steuere «Hals über Kopf auf einen Annexionsstreich» zu, so die Organisation.

Die Eskalation im Westjordanland hat auch Einfluss auf Israelis, denn auch die palästinensischen Anschläge, vor allem gegen Siedler:innen und Soldat:innen, häufen sich. Benjamin Netanjahu behauptet zwar, das Militär bekämpfe mit Angriffen wie dem auf Jenin gezielt den Terrorismus. Doch noch während der Operation verübte ein Palästinenser einen Anschlag, bei dem sieben Israelis verletzt wurden, einige von ihnen schwer, eine schwangere Frau verlor ihr ungeborenes Kind. Gegen Ende der Operation flogen Raketen aus dem Gazastreifen auf israelisches Gebiet. Gewaltvolles Vorgehen im Israel-Palästina-Konflikt hat bislang noch immer Gegengewalt hervorgebracht.

Dass das Militär unabhängig von der Regierung gehandelt hat – daran haben viele Zweifel. Die Regierung treibe das Militär vor sich her, so Regierungskritiker:innen, schliesslich folgte die Operation fast unmittelbar auf die Forderung des rechtsextremen Ministers für Innere Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, nach einer gross angelegten Militäroperation. Er forderte diese als Antwort auf einen Anschlag Ende Juni, bei dem ein Palästinenser vier Israelis getötet hatte.

Auf der anderen Seite hat Palästinenserführer Mahmud Abbas angesichts der desolaten Situation im Westjordanland Schwierigkeiten, seine Herrschaft aufrechtzuerhalten. Das ist nicht allein, aber auch der israelischen Politik zu verdanken. Man kann dabei zusehen, wie die korrupte und unter vielen Palästinenser:innen unbeliebte Palästinensische Autonomiebehörde (PA) gerade in Flüchtlingslagern des Nordens – in Jenin und Nablus – an Einfluss verliert und stattdessen islamistisch-militante Gruppierungen wie die Hamas und der Islamische Dschihad an Beliebtheit gewinnen.

Verlängerter Arm der Besatzung

Israel hat lange nach dem Motto «Spalte und herrsche» gehandelt, hat versucht, den Keil zwischen der Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, und der Palästinensischen Autonomiebehörde möglichst tief zu treiben. Je schwächer nun die PA wird, je grösser die Korruption und desolater die Situation im Westjordanland, desto grösser wird auch die Wut der palästinensischen Bevölkerung auf ihren Anführer Mahmud Abbas. Der regiert, alt und krank, mit autoritärer Hand. Die Sicherheitskooperation mit Israel kündigt er zwar in Momenten der Eskalation immer wieder auf, wenn er diese Zusammenarbeit vor seinen Palästinenser:innen nicht mehr rechtfertigen kann – Taten folgten der Ankündigung jedoch nie. Die meisten Palästinenser:innen bezeichnen die Autonomiebehörde inzwischen als «verlängerten Arm der Besatzung».

Angesichts des versuchten Abbaus der demokratischen Strukturen durch die Regierung brennen derzeit in Tel Aviv die Reifen – und um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Das ist dringend nötig. Und doch: Die Situation der Palästinenser:innen wird ignoriert. Im Westjordanland? Nichts Neues. Dabei hat auch das sehr viel mit Demokratie zu tun.