Zwangsarbeiterinnen: Ins Toggenburg verschleppt

Nr. 28 –

Yves Demuth erzählt eine eindrückliche und furchterregende Geschichte über administrative «Versorgung» in Schweizer Fabriken.

Im Februar 1971 schreibt der Arbeitgeberverband der Textilindustrie an den Bundesrat. Er beklagt die Situation von Schweizer Spinnereien mit angefügten «Mädchenheimen», die aufgrund der restriktiven Ausländer:innenpolitik bald nicht mehr betrieben werden könnten. Es ist kurz nach der sogenannten Schwarzenbach-Initiative, die 350 000 Ausländer:innen per sofort aus der Schweiz ausweisen wollte. Wegen der knappen Ablehnung der Initiative durch das Stimmvolk hat der Bundesrat die Bewilligungen für ausländische Arbeitskräfte plafoniert.

In den «Mädchenheimen» der Textilindustrie wurden seit dem 19. Jahrhundert junge italienische Frauen interniert, die man ihren Eltern mit oft falschen Versprechungen für die Fabrikarbeit abgeworben hatte. Klosterfrauen bewachten sie, behändigten den Lohn und errichteten ein strenges Regime über sie. Auch junge Frauen aus Schweizer Armutsregionen und Spanierinnen waren zeitweise in solchen Heimen interniert. Bereits um 1905 sorgten die «Fabrikklöster» für öffentliches Aufsehen, als die St. Galler Arbeitersekretärin Angelica Balabanoff in Aufsätzen und Vorträgen auf die rechtlose Situation der Frauen aufmerksam machte. Doch «Mädchenheime» oder «Arbeiterinnenheime» existierten weiter: Im Brief von 1971 zählt der Arbeitgeberverband neun solche Häuser mit 1072 Plätzen auf, von denen wegen der neuen Ausländer:innenpolitik leider nur 289 besetzt seien.

Spinnen für Bührle

So weit ist die Geschichte einigermassen bekannt. Als 2021 die schweizerische und die internationale Öffentlichkeit über die Kunstsammlung des Waffenhändlers Emil Bührle diskutierte, wandte sich die 85-jährige Zürcherin Elfriede Steiger an die Zeitschrift «Beobachter» und erzählte dem Journalisten Yves Demuth eine andere Variante: Sie wurde als achtzehnjährige Tochter einer armen Familie von der Fürsorge 1954 in ein Toggenburger «Mädchenheim» eingesperrt und leistete in der zum Bührle-Konzern gehörenden Spinnerei in Dietfurt Zwangsarbeit. Eine klassische Heimgeschichte mit Kindswegnahme durch die Fürsorgebehörde, Zwangsversorgung, auch einen sexuellen Übergriff durch einen «Armenhausvater» hatte sie erlebt, und als sie eine Stelle als Dienstmädchen in Genf verliess, wurde sie – unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – schliesslich ins «Marienheim» von Bührles Fabrik verschleppt. Bei ihrer Volljährigkeit mit zwanzig musste man sie dort entlassen. Die Oberin – Mitglied des Ordens «Barmherzige Schwestern vom Heiligen Kreuz» aus Ingenbohl – händigte ihr fünfzig Franken und einen Fahrschein nach Zürich aus. Das war die ganze Bezahlung für mehr als ein Jahr harter Schichtarbeit.

Demuth recherchierte, fand weitere Fälle, publizierte im «Beobachter» eine Serie und hat kürzlich das Buch «Schweizer Zwangsarbeiterinnen» veröffentlicht, das der Schweizer Fürsorge-, Armuts- und Geschlechtergeschichte ein weiteres furchterregendes Kapitel anfügt.

Fürsorgerisch-industrieller Komplex

Jahrzehntelang benützten Behörden das Instrument der administrativen «Versorgung», um soziale Problemfälle kostengünstig aus dem Weg zu räumen. Zu diesen Fällen gehörten aus Sicht der Behörden bekanntlich die Fahrenden, denen das Hilfswerk Pro Juventute bis 1973 unter anderem systematisch die Kinder wegnahm. Zu den Fällen gehörten unehelich geborene Kinder sowie ihre Mütter, die bevormundet wurden und bei Fehlverhalten in einer Anstalt landeten. Dazu gehörten Scheidungskinder, Kinder von Armen, unangepasste, aufmüpfige Erwachsene, sobald die Behörden auch nur befürchteten, diese könnten der Fürsorge zur Last fallen. Tausende Jugendliche hat man als «Verdingkinder» zu Bäuer:innen verstellt, die sie oft wie kleine Sklav:innen hielten. Buben und Mädchen füllten die Kinderheime, Männer und Frauen die sogenannten Arbeitserziehungsanstalten.

Der Forschung ist bisher aber entgangen, dass die Fürsorgeämter auch Fabriken mit billigen Arbeitskräften belieferten: darunter junge Frauen wie Elfriede Steiger, die ihre zugewiesene Stelle verliess. Oder die Schaffhauserin Irma Frei, ein Scheidungskind, die als arbeitsscheu qualifiziert in Bührles – aus einem jüdischen Notverkauf stammender – Spinnerei landete. Yves Demuth hat ihnen eine Stimme gegeben. Die Gemeinden konnten dank der Fabrikheime ihre Sozialfälle günstig «versorgen», die Industrie erhielt in der Hochkonjunktur sehr billige Arbeitskräfte. Demuth spricht vom fürsorgerisch-industriellen Komplex und zeigt, dass die praktizierte Form der Zwangsarbeit seit mindestens 1941 aufgrund internationaler Abkommen illegal war.

Ein auffälliger Aspekt dieses Fürsorgeterrors ist auch die ständige Angst der Behörden vor der weiblichen Sexualität. Schon das Schminken der Augen bewirkte Sanktionen, Kontaktaufnahme mit Männern führte ins «Heim für gefallene Mädchen» oder eben ins Fabrikheim, während sexuelle Übergriffe durch Männer den Frauen selber angelastet wurden. «Wenn ich das gewusst hätte, dass du ein uneheliches Kind hast, hätte ich dich gar nie aufgenommen», sagte eine Barmherzige Schwester zu einer jungen Mutter, der man das Kind entzogen hatte, «du verdirbst mir die anderen!»

Buchcover von «Schweizer Zwangsarbeiterinnen. Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit»
Yves Demuth: «Schweizer Zwangsarbeiterinnen. Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit». Beobachter-Edition. Zürich 2023. 200 Seiten. 36 Franken.