Flucht aus Afghanistan: Das Geschäft mit der Verzweiflung

Nr. 32 –

Seit die Taliban vor zwei Jahren wieder an die Macht gekommen sind, versuchen unzählige Menschen, aus Afghanistan zu fliehen – und werden dabei oft Opfer von Betrügern. Drei Getäuschte erzählen.

Das Leben unter der Kontrolle der Taliban ist für viele unerträglich.
Das Leben unter der Kontrolle der Taliban ist für viele unerträglich. Foto: Ali Khara, Keystone

Sobald Chalek Ahmadi* über das spricht, was ihm widerfahren ist, wirkt er nervös und angespannt. Scham und Reue machen sich bemerkbar. Vor rund einem Jahr erhielt der 36-jährige ehemalige Beamte aus der südafghanischen Stadt Kandahar ein E-Mail: Die Absender gaben sich als Vertreter der kanadischen Regierung aus und boten an, ihm, der aufgrund seiner früheren Tätigkeit als ziviler Helfer des kanadischen Militärs von den Taliban bedroht wurde, zu helfen. Ahmadi verspürte Hoffnung. Man habe ihn und seine Familie doch nicht vergessen, dachte er sich.

Im August 2021 zogen die internationalen Truppen unter der Führung der USA aus Afghanistan ab – und überliessen das Land dadurch den militant-islamistischen Taliban. Jenen Extremisten, die die US-Truppen und ihre Verbündeten am Hindukusch zwei Jahrzehnte lang bekämpft hatten. Zehntausende Afghan:innen wurden evakuiert. Ahmadi und seine Familie waren nicht darunter.

Seitdem war da stets die Hoffnung, dass man eines Tages vielleicht doch noch abgeholt würde. «Ich habe brav dem System gedient, das der Westen hier errichtet hatte. Ich stand dafür ein», erzählt der Vater von drei Kindern. Das gefiel vor allem jenen nicht, die ebendieses System stürzen wollten. Lange vor der Rückeroberung Kabuls durch die Taliban wurden Regierungsbeamt:innen im ganzen Land bedroht, gejagt und getötet.

Teure Versprechen

Mittlerweile setzt das wiedergeborene Emirat teils auf die Beamten der gefallenen Republik. Denn es fehlt ihm an Personal: Die Gotteskrieger haben meist nur den Kampf gelernt, von Bürokratie haben sie keine Ahnung. Doch während in den Ministerien in Kabul tatsächlich viele Verwalter des alten Regimes arbeiten, sind diese anderswo Gefahren ausgesetzt. Gerade in Kandahar, wo die eigentliche Talibanführung heute sitzt, sind die Extremisten weniger pragmatisch. Menschen wie Ahmadi bekommen das direkt zu spüren. Sie müssen sich verstecken – und versuchen weiterhin, das Land zu verlassen.

Die Nachricht aus Kanada hätte Ahmadi den Sprung in die Freiheit ermöglichen sollen. Doch sie war ein Sturz ins Verderben. Anfangs habe alles normal gewirkt, ja fast schon seriös und professionell, erzählt er. In fliessendem Englisch habe der Absender Dokumente von ihm und seiner Familie verlangt: Geburtsurkunden, Passkopien und Arbeitsnachweise. Die E-Mail-Adresse glich jenen des kanadischen Aussenministeriums, wie Ahmadi beim Recherchieren im Internet feststellte. Er habe sich erleichtert gefühlt und in sicheren Händen.

Dann aber hätten die «Kanadier» einen Vorschuss von 5000 US-Dollar verlangt – pro Person. Für Ahmadi und einige seiner Kollegen sowie deren Familien belief sich der Gesamtbetrag auf über 100 000 Dollar. Anfangs hätten sie gezögert, sagt Ahmadi, doch dann hätten sie die verlangten Summen hinterlegt. Ansonsten, so hiess es seitens des Absenders, würde man auf einer Warteliste landen.

Inzwischen fand der Austausch auch telefonisch statt. Er habe Anrufe von anonymen Nummern erhalten, Leute hätten sich ihm auf Farsi und Paschtu als Teil des kanadischen Teams in Kabul vorgestellt. Aufgrund der sprachlichen Barrieren sei es nichts Aussergewöhnliches, mit ausländischen Stellen über afghanische Mittelsleute in Kontakt zu stehen, sagt Ahmadi. Niemand habe deswegen Verdacht geschöpft. Wenige Tage nach der ersten Zahlung wurde abermals Geld verlangt: Ein weiteres Teammitglied habe angerufen und erklärt, dass nun die Flugtickets bezahlt werden müssten. Via Doha würde es nach Toronto gehen, für 1000 Dollar pro Kopf, so sei nun mal das Prozedere. Bereits sah sich Ahmadi im Flieger sitzen und bald darauf in einem Haus in Kanada, Kaffee trinkend, einen Jeep fahrend. So, wie er es aus dem Leben jener Afghan:innen mitbekam, die es dorthin geschafft hatten.

Insgesamt hatten Ahmadi und seine Gruppe nun weit über 120 000 Dollar in ihre Evakuierung investiert. Eine riesige Summe, die in Afghanistan nicht leicht aufzutreiben ist. Sein jahrelang Erspartes reichte nicht weit, weshalb Ahmadi sein Auto und die Grundstücke seiner Familie verkaufte und sich bei zahlreichen Freunden und Verwandten verschuldete.

Dann aber, nach der «Buchung» der Flugtickets, war das ganze Team, mit dem Ahmadi wochenlang in Kontakt gestanden hatte, plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. E-Mails und Anrufe blieben unbeantwortet. Ein Kollege habe vorgeschlagen, die kanadische Botschaft in Pakistans Hauptstadt Islamabad zu kontaktieren. «Wir wollten endlich wissen, wann wir abreisen würden», erzählt Ahmadi, «und dann kam der Schock»: Vonseiten der kanadischen Vertretung war nie eine Evakuierung in die Wege geleitet worden.

Chalek Ahmadi und seine Kollegen waren auf eine Gruppe von Betrügern hereingefallen. Selbst die Botschaftsmitarbeiter:innen hätten ihm gesagt, dass einige der E-Mails und Signaturen täuschend echt wirkten. «Wir verstecken uns weiterhin und haben nichts mehr», sagt er. «Diese Menschen haben unser Leben zerstört.»

Verklagt und ausgeschafft

Ahmadis Geschichte ist kein Einzelfall. Seit der Rückkehr der Taliban boomt das Geschäft mit der Flucht, und neben den klassischen Schleppern und Schmugglern, die Menschen eigenhändig über Staatsgrenzen bringen, agieren zunehmend auch vermeintliche Evakuierungsteams, die vorgeben, im Auftrag westlicher Regierungen zu handeln, sowie selbsternannte Reiseagenturen, die behaupten, Visadokumente beschaffen zu können. Weil Letztere meist deutlich geringere Beträge verlangen, ist ihr Kund:innenpool entsprechend grösser. «Mir wurde ein rumänisches Visum für 1500 Dollar versprochen», erzählt Muhammad Hamid* aus Kabul. «Ich habe gezahlt, doch bekommen habe ich nichts», so der 25-jährige Informatikstudent.

Niemand habe ihn bedroht, sagt Hamid, und trotzdem wolle er bloss weg aus der «ewig anhaltenden Misere» in Afghanistan. Noch während eine Agentur in Kabul sich angeblich um sein rumänisches Visum gekümmert habe, sei er illegal ins Nachbarland Iran ausgereist, erzählt er. «Es hiess, dass man mir das Dokument schicken würde.» Stattdessen geschah gar nichts. Irgendwann habe er realisiert, dass sein Geld weg war.

Nach der Rückkehr nach Afghanistan habe er auf Empfehlung einiger Bekannter mit einer anderen Agentur Kontakt aufgenommen: Diesmal ging es um ein türkisches Visum für 5000 Dollar. Abermals seien Beziehungen zur Botschaft vorgegaukelt worden. Und erneut sei der Kontakt nach einiger Zeit einfach abgebrochen worden. Eine andere betrügerische Agentur, die Hamid um weitere 1500 Dollar brachte, verschaffte ihm dann immerhin ein Dokument: einen gefälschten griechischen Geflüchtetenausweis. Damit, so sei ihm versprochen worden, könne er zumindest problemlos nach Griechenland reisen.

Hamid reiste noch einmal in den Iran, um von dort in die Türkei zu gelangen. Dort sei er von den Behörden allerdings verhaftet und wegen Dokumentenfälschung verklagt worden, erzählt er. Zuerst habe er ein Bussgeld in Höhe von umgerechnet rund 3000 Dollar bezahlen müssen, dann sei er nach Afghanistan ausgeschafft worden. «Heute verkaufe ich auf dem Basar Kartoffeln. Tolles Leben, oder?», sagt er selbstironisch. Wegen seiner missglückten Fluchtversuche habe er rund 15 000 Dollar Schulden, die er nicht begleichen könne, sagt Hamid.

Ende mit Schrecken

Noch während die USA und ihre Nato-Verbündeten nach zwanzigjährigem Krieg ihre Truppen aus Afghanistan abzogen, eroberten die Taliban das Land zurück: Am 15. August 2021 nahmen sie die Hauptstadt Kabul ein, um vier Tage später ihr Emirat auszurufen.

Bereits am ersten Tag schafften die Taliban das Frauenministerium ab, bald schlossen sie Mädchenschulen, verboten Frauen Studium und Erwerbsarbeit, führten die Pflicht zur Ganzkörperverschleierung wieder ein. Aufgrund abrupt wegfallender internationaler Finanzhilfen kam zudem die Wirtschaft zum Erliegen, was eine gigantische humanitäre Krise zur Folge hatte. Gemäss Uno-Angaben sind mittlerweile fast dreissig Millionen Afghan:innen auf existenzielle Hilfe angewiesen.

Neben progressiven Politikerinnen, Journalisten und zivilen Akteurinnen gerieten Zehntausende Afghan:innen, die für die Islamische Republik und für ausländische Streitkräfte gearbeitet hatten, ins Visier der neuen Machthaber. Unzähligen von ihnen bleibt die Evakuierung bis heute verwehrt.

Fake-Accounts bekannter Personen

Das Schmuggelgeschäft boomt in Afghanistan schon seit Jahrzehnten, das ist an sich keine neue Erkenntnis. «Mittlerweile hat sich allerdings ein neuer Geschäftszweig entwickelt, der den Opfern den Erhalt offizieller Dokumente verspricht und sie damit in die Falle lockt», sagt der afghanische Anthropologe und Publizist Sayed Jalal Shajjan. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Flucht- und Migrationsbewegungen aus Afghanistan. Die Täter:innen setzten vor allem auf digitale Mittel, sie kontaktierten ihre Opfer zunächst per E-Mail oder auf Facebook. Um seriös zu wirken und Vertrauen zu gewinnen, würden Fake-Accounts auch bekannte Persönlichkeiten imitieren, so Shajjan: Journalisten, Aktivistinnen oder Politiker.

Wie auch andere Expert:innen macht Shajjan für die gegenwärtige Situation, die Afghan:innen in die Fänge solcher Fluchtbetrüger treibt, nicht allein das Talibanregime verantwortlich. Er hat auch deutliche Worte für jene Staaten, die in den vergangenen zwanzig Jahren in Afghanistan militärisch operiert haben: «Der Abzug sowie die damit verbundenen Evakuierungsaktionen waren ein einziges Chaos», sagt Shajjan. «Sie haben den Markt befeuert.» Zehntausende Afghan:innen seien im August 2021 am Kabuler Flughafen von den Nato-Truppen evakuiert worden, hauptsächlich vom US-Militär. Oftmals seien auch Menschen ohne Papiere oder mit gefälschten Dokumenten in die Flugzeuge gelangt.

Die ersten Betrüger, die davon profitiert hätten, hätten sich damals mit Laptop und Drucker in unmittelbarer Nähe des Flughafens eingerichtet, um gefälschte Dokumente zu hohen Preisen zu verkaufen: Arbeitsbestätigungen von Nato-Ländern, Presseausweise oder auch Schreiben von NGOs, die es gar nicht gibt.

Den Handel mit solchen Dokumenten gibt es bis heute, und auch er boomt. Aus dem Innern einer «Reiseagentur» in Kabul, die türkische und russische Visa vermittelt, war zu erfahren, dass pro Person meist 2000 Dollar verlangt werden. Die betreffende Agentur verfügt über einen Draht zur russischen Botschaft in Kabul, weshalb sie einfach an Ausbildungsvisa für die zahlende Kundschaft gelangt.

Davon wollte auch Abdul Hadi* aus Kabul profitieren: Wie viele andere wollte er über Russland und Belarus nach Westeuropa gelangen. «Ich habe gezahlt und mein Visum erhalten», sagt Hadi, «doch mittlerweile bin ich nach Afghanistan zurückgekehrt.» Er habe seine Reise als beendet betrachtet, nachdem er gemeinsam mit anderen afghanischen Geflüchteten von belarusischen Sicherheitskräften in einem Wald an der polnischen Grenze aufgespürt worden sei. Man habe sie ausgezogen, geschlagen und ohne jegliche Kleider am Leib nach Russland abgeschoben. «Ich wollte einfach nur raus», sagt Hadi. «Doch heute wünsche ich mir, dass das alles nie passiert wäre.»

* Name geändert.
 

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