Verwahrung: «Waschen, kochen, kann ich das überhaupt noch?»

Nr. 32 –

Ein Anwalt fordert vor Bundesgericht, dass Verwahrte nicht wie Strafgefangene untergebracht werden dürfen, und erringt einen wichtigen Etappensieg. Sein Klient erzählt, was es mit einem macht, wenn man dreissig Jahre lang keine Tür selber öffnen darf.

Toni Krucker
Toni Krucker lebt seit über dreissig Jahren im Gefängnis: «Erst nachdem ich im Haus C der JVA Solothurn eingezogen war, realisierte ich, wie normal der Strafvollzug für mich geworden war.»

Frau Krucker stellt selbstgebackenen Kuchen auf den Tisch, hält einen Moment inne und sagt: «Wissen Sie, das Wichtigste wäre, dass er endlich mal herkommen dürfte und sagen könnte, was ich wegwerfen kann und was er noch behalten möchte.» Ein harmlos klingender Satz, der es in sich hat. Wenn man Frau Krucker bittet, die Geschichte ihres Sohns Toni von Anfang an zu erzählen, kämpft sie gegen Tränen an. Dabei ist der Mord schon vor über dreissig Jahren geschehen. Sie fragt sich bis heute, was sie vielleicht falsch gemacht hat. Eine Frage, die sich nicht beantworten lässt.

Frau Krucker trägt eigentlich einen anderen Namen, und Toni heisst nicht Toni. Er wird später im Gespräch sagen, seine Mutter treffe sicher keine Schuld, er habe das alles selber zu verantworten.

Kurz zusammengefasst bringt Toni Krucker im Herbst 1989 eine ältere Dame um. Als sie schon tot ist, vergeht er sich sexuell an ihr. Es war kein geplanter Mord, aber eine brutale, schreckliche Tat, wie er heute selber sagt. Krucker ist damals zwanzig Jahre alt. Seine Mutter sagt, er sei ein problemloses Kind gewesen, gut in der Schule, stets freundlich. Für sie kam es völlig überraschend, als die Polizei damals an ihrer Haustür klingelte und Toni mitnahm. Seither war er nie mehr zu Hause, und Frau Krucker hütet bis heute all die Sachen, die er in seinem Zimmer hatte.

Das Gericht verurteilte Toni Krucker zu sechzehn Jahren Haft. Gemäss dem psychiatrischen Gutachten gilt er als gefährlich, weil er für sein Opfer keine Empathie empfunden habe. Das ist mit ein Grund, weshalb er 2005 – nachdem er seine Strafe abgesessen hat – nicht freikommt, sondern nachträglich verwahrt wird und bis heute weggesperrt ist.

Frau Krucker besucht ihren Sohn regelmässig. Sie hat viele Gefängnisse kennengelernt, weil er mehrmals verlegt wurde. Bei den einen darf man während des Besuchs nicht aufs WC gehen. Bei anderen sind die Angestellten unfreundlich. In Deitingen, in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Solothurn, sei das anders, sagt Frau Krucker. Dort seien sie höflich und sehr zuvorkommend. Seit Dezember 2021 ist Krucker in dieser Justizvollzugsanstalt am Fuss des Jura untergebracht. Erwirkt hat das der Zürcher Rechtsanwalt Stephan Bernard. Frau Krucker hatte ihn kontaktiert. Bernard schaute sich den Fall an und kam zum Schluss: Was die Behörden mit Krucker machen, verstösst gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Er beschliesst, den Fall zu übernehmen und wenn nötig bis nach Strassburg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu ziehen.

Sinn des Strafens

Vier Jahre nachdem Krucker seine Tat begangen hat, geschieht am Zollikerberg ein anderer Mord, der den Strafvollzug radikal umwälzen wird. Ein Häftling auf Freigang bringt die Pfadiführerin Pasquale Brumann um. Plötzlich wird man in der breiten Öffentlichkeit gewahr, dass manche Täter – insbesondere Sexualdelinquenten – auch nach Verbüssung der Strafe noch gefährlich sein können. Gefährliche sollen deshalb künftig nach der verbüssten Strafe nicht freikommen. Die Verwahrung ist explizit keine Strafe, die betroffenen Personen werden jedoch zum Schutz der Gesellschaft unbefristet gesichert untergebracht. Das neue Verwahrungsgesetz tritt allerdings erst Jahre nach Kruckers Verurteilung in Kraft.

Anwalt Bernards Ziel ist nicht, seinen Klienten freizubekommen. Er will erreichen, dass Verwahrte in der Schweiz nicht länger wie Strafgefangene leben müssen, da sie ihre Strafe ja verbüsst haben. Um zu verstehen, worum es geht, muss man sich die Logik des Systems vergegenwärtigen: Jemand begeht eine Tat, kommt vor Gericht, das verhängt je nach der Schwere der Tat eine Strafe. Man spricht von Verschuldensstrafrecht – je schwerer die Tat, desto schwerer die Schuld und desto länger die Strafe. Täter:innen büssen, indem sie während des Strafvollzugs ein karges, fremdbestimmtes Leben führen müssen. Sie dürfen nicht über ihre Zeit verfügen, dürfen sich nicht frei bewegen, dürfen nur eingeschränkt mit Menschen Kontakt halten. Verwahrte wie Krucker haben ihre Strafe verbüsst, werden aber – eben um die Gesellschaft zu schützen – nicht entlassen. Jurist:innen reden von einem «Sonderopfer», das die Verwahrten zu erbringen haben. Schlüssig wäre, dass sie nach der Strafe nicht freikommen, jedoch in einer gesicherten Institution ein so weit wie möglich normales Leben führen können. In der Schweiz geht das nicht, weil Verwahrte im normalen Strafvollzug verbleiben.

Stephan Bernard will das ändern. Im Sommer 2021 stellt er für seinen Klienten beim zuständigen Amt für Justizvollzug ein Gesuch. Er fordert eine bessere Unterbringung ausserhalb des normalen Strafvollzugs. Das Amt reagiert rasch und teilt knapp zwei Wochen später mit: Man bemühe sich, Krucker in die Wohngruppe «Verwahrungsvollzug in Kleingruppen» in der JVA Solothurn zu verlegen. Ende 2021 zieht Krucker ins sogenannte Haus C ein. Für ihn beginnt ein neues Leben.

Der Verwahrte

Toni Krucker ist nicht sehr gross, kräftig gebaut, trägt einen gepflegten Bart und hat ein offenes Lächeln. Das erste Treffen findet in einem der normalen Besucher:innenzimmer der JVA statt, ein schmuckloser Raum mit zwei Stühlen und einem Tisch. Krucker redet mit ruhiger, sonorer Stimme. Man merkt, dass er schon viel über sich, seine Tat und die Verwahrung nachgedacht hat. Wenn man ihn fragt, wie ein junger Mann dazu kommt, etwas so Schreckliches zu tun, weicht er nicht aus. Ganz erklären kann er den Mord nicht. Er sei nicht mehr derselbe, habe viel gelernt und würde nie mehr eine solche Tat begehen, davon sei er überzeugt. Doch um die Tat geht es jetzt nicht, sondern um seine Unterbringung.

Im früheren Direktorenhaus der Justizvollzugsanstalt Solothurn leben heute sechs Männer, die voraussichtlich nie mehr freikommen.
Im früheren Direktorenhaus der Justizvollzugsanstalt Solothurn leben heute sechs Männer, die voraussichtlich nie mehr freikommen.

Der Alltag im Haus C tue ihm gut, sagt er. Das Haus war vor Urzeiten einmal der Wohnsitz des Gefängnisdirektors, ein Einfamilienhaus auf dem Territorium der Strafanstalt. Sechs Verwahrte wohnen darin in einer Wohngemeinschaft zusammen. «Mir wurde erst hier bewusst, wie abgestumpft ich in all den Jahren Strafvollzug geworden bin», sagt Krucker. «Es gibt hier viel mehr Selbst- und Mitbestimmung. Es sind kleine Sachen wie selber waschen oder kochen. Man kann darüber lachen, aber am Anfang hatte ich vor gewissen Sachen Angst und fragte mich: Kann ich das überhaupt? Erst nachdem ich hier eingezogen war, realisierte ich, wie normal der Strafvollzug für mich geworden war.» Er veranschaulicht, was er damit meint: «Ich kann mich erinnern, wie ich vor einer geschlossenen Tür stand und wartete, dass man sie mir aufschliesst. Ich habe gar nicht realisiert, dass die Tür nicht abgeschlossen war und ich sie selber öffnen konnte.»

Die Beschwerde

Abgesehen von der Verlegung ins Haus C blitzt Rechtsanwalt Bernard mit seiner Beschwerde bei allen kantonalen Instanzen ab. Im November 2022 zieht er den Fall vor Bundesgericht. Die Beschwerdeschrift enthält eine detaillierte Übersicht über die internationalen Normen und die entsprechende Rechtsprechung zur Verwahrung. Vor einigen Jahren fällte der Gerichtshof für Menschenrechte einen wichtigen Entscheid. Darin hielt er fest, bei der Verwahrung handle es sich um eine Strafe, da sich der Verwahrungsvollzug nicht wesentlich vom Strafvollzug unterscheide. Das verstosse gegen die Menschenrechtskonvention, weil es nicht rechtens sei, jemanden für eine Tat zweimal zu bestrafen. Oder um es mit Toni Kruckers Fall zu veranschaulichen: Nachdem er seine Strafe verbüsst hatte, änderte sich an seiner Haftsituation nichts, ausser dass er in der Statistik nun unter den Verwahrten geführt wurde. Real verbüsst er also ein zweites Mal eine Strafe von sechzehn Jahren – erst als er ins Haus C verlegt wird, normalisiert sich sein Alltag.

Toni Kruckers Garderobe.
Toni Kruckers Garderobe.

Das besagte Urteil des EGMR war von einem Verwahrten aus Deutschland erwirkt worden. Das Land hat heute einen anderen Umgang mit Verwahrten. Es gilt das sogenannte Abstandsgebot. Den Begriff prägte das Bundesverfassungsgericht, das entschieden hatte, die unbefristete Verwahrung sei zwar rechtens, aber so, wie sie umgesetzt werde, verstosse sie gegen die Verfassung. Der entscheidende Satz des Urteils: Im Ergebnis müsse «sichergestellt sein, dass ein Abstand zwischen dem allgemeinen Strafvollzug und dem Vollzug der Sicherungsverwahrung gewahrt bleibt». Verwahrte dürfen demnach nicht zusammen mit Strafgefangenen eingesperrt werden und haben Anspruch auf ein möglichst normales Leben.

Deutschland hat danach diverse neue Abteilungen für Verwahrte gebaut, in denen diese mehr Freiraum geniessen als in normalen Gefängnissen. Sie haben grössere Zimmer mit Dusche und WC, haben Anspruch auf begleiteten Ausgang, können mehr oder weniger frei nach draussen telefonieren, dürfen selber kochen, öfter Besuch empfangen. Und es muss ihnen eine Entlassungsperspektive geboten werden. Alles Dinge, die Anwalt Bernard mit seinem Klienten Krucker auch für Schweizer Verwahrte erreichen möchte.

Das Haus C

Ein zweites Treffen mit Toni Krucker steht an, diesmal im Haus C. Charles Jakober, Direktor der JVA Solothurn, hat vorgängig die Bewohner gefragt, ob sie einverstanden seien, wenn eine Journalistin und eine Fotografin kämen. Das Haus C liegt in der westlichen Ecke der JVA, gleich neben der betriebseigenen Gärtnerei. Rundherum Gitter, keine Mauern. Dahinter hört man den Verkehr auf der Autobahn Bern–Zürich rauschen.

Toni Krucker und ein WG-Kollege – nennen wir ihn Kurt Koller – erwarten uns, bereit, ihr Haus zu zeigen. Im Parterre links liegt das Büro der Betreuer:innen, rechts eine Kabine mit dem Telefon, das die Bewohner frei benutzen können. Geradeaus befindet sich das Zimmer von Toni Krucker. Es ist nicht sonderlich gross, hat in der Ecke hinter einem Vorhang eine Toilette, rechts hinter dem Schrank steht ein Bett und am Fenster ein Pult mit Computer. Sie würden hier nicht von Zellen, sondern von Zimmern sprechen, sagt Krucker, «das macht es persönlicher». Nachts werden die Türen der Zimmer abgesperrt. Es gebe Diskussionen, ob man die Türen nicht offen lassen könnte. Manche Gefangene haben mit klaustrophobischen Ängsten zu kämpfen. Kruckers WG-Kollege Koller wirft ein, ihm mache das nichts aus, wenn abgeschlossen werde, «dann hat man seine Ruhe». Krucker nickt zustimmend, ihm gehe es gleich.

Das Wohnzimmer in Haus C.
Das Wohnzimmer in Haus C.

Wir gehen eine Treppe höher auf den Zwischenstock, wo sich der Wohnbereich der WG befindet. Links eine moderne Küche, rechts die Stube mit Sofa und Fernseher. Auf diesem Stock kann man raus auf eine grosse Terrasse mit einem Tisch und zahlreichen Blumentöpfen mit Kräutern und Erdbeerstauden.

Kurt Koller steht bereit, um sein Zimmer zu zeigen. Früher war auch er in einem anderen Gefängnis verwahrt, lebt aber schon seit vielen Jahren hier.

«Was ist der Unterschied?»

«Wie Tag und Nacht, es ist sehr gut hier.»

«Was gefällt Ihnen nicht im Haus C?»

«Für mich ist eigentlich alles gut. Ich bin jetzt 68 Jahre alt. Habe hier im Gefängnis eine gute Arbeitsstelle. Alle zwei Monate habe ich begleitete Ausgänge und kann mich mit Angehörigen treffen. Ich brauche nicht mehr.» Ja, der Ausgang könnte etwas länger sein. Fünf Stunden sei etwas kurz.

Er geht hoch zu seinem Zimmer gleich unterm Dach. Es ist etwas grösser als das von Krucker, aber ähnlich eingerichtet. Seit langem leidet Koller unter Rückenproblemen, die in den anderen Gefängnissen nie behandelt worden seien. Hier hätten sie sich darum gekümmert. Seit er die AHV-Rente erhalte, habe er auch keine Geldprobleme mehr. Er habe sich eine Spezialmatratze kaufen können. Jetzt schlafe er «wie ein Herrgöttli».

Stillleben in Kurt Kollers Zimmer.
Stillleben in Kurt Kollers Zimmer.

Die Männer im Haus C können unter Aufsicht übers Internet Dinge bestellen – das dürfen die anderen Gefangenen nicht im gleichen Umfang.

Gibt es nie Streit in der Sechs-Männer-WG? Krucker sagt, manchmal hänge einer das Alphatierchen raus, aber insgesamt kämen sie gut zurecht. Koller erinnert sich an einen, der eine gewisse Zeit im Haus C war. Einer, der sich partout nicht anpassen wollte. «Das war schwierig», sagt er, «wenn der nicht gegangen wäre, hätte ich um eine Verlegung gebeten.» So weit kam es nicht, der Störer wurde verlegt.

Die sechs Männer wissen, dass ihre Chancen, jemals entlassen zu werden, gegen null tendieren. Sie wissen aber auch, dass das Haus C der beste Ort ist, den es für Verwahrte in der Schweiz gibt. Das wollen sie hüten und bitten uns, ihre kleinen Privilegien dezent zu beschreiben, um draussen keine Empörung zu entfachen. Sie können in den Werkstätten des Gefängnisses arbeiten, dürfen an den Freizeitaktivitäten der Anstalt teilnehmen und sind ständig in Kontakt mit den anderen Gefangenen. Darunter gibt es ein halbes Dutzend, die ebenfalls verwahrt sind – wie einer der bekanntesten Schweizer Verwahrten, Peter Vogt (siehe WOZ Nr. 13/22).

«Die sehen uns regelmässig und wissen, dass wir Privilegien haben, die sie nicht haben», sinniert Krucker, «das ist manchmal ganz schön schwierig. Es sollte doch viel mehr solche Kleingruppen für Verwahrte geben, damit alle so leben können wie wir.» (vgl. «Neue Abteilungen geplant» im Anschluss an diesen Text)

Der Gefängnisdirektor

Nach dem Besuch in Haus C nimmt sich Direktor Charles Jakober noch Zeit. Er fände es gut, wenn jedes grössere Gefängnis eine vergleichbare Spezialabteilung hätte, sagt er und erklärt, warum: «Einer aus der Verwahrtengruppe hat einmal zu mir gesagt: ‹Ich bin einfach froh, dass wir im Haus C unter uns sind. Vorher war ich mit anderen Gefangenen zusammen, und das war ein ständiger Spiessrutenlauf.› Der Mann schilderte, wie das sonst so abläuft: ‹Man muss sich in der Gruppe eine Position schaffen, damit man seine Ruhe hat – aber kaum hat man sich positioniert, kommt ein Neuer, und die ganze Tortur beginnt von neuem.›»

Die Männer von Haus C haben eine gewisse Berühmtheit. Jeder sei mindestens einmal im «Blick» auf der Titelseite gewesen, sagt Jakober, «das ist etwas, was sich unter Gefangenen herumspricht. Da heisst es schnell: Das ist der und der, und wegen dem gab es diese oder jene Vollzugsverschärfung.»

Jeder Insasse hat einen Schlüsselanhänger. Wenn der am Brett hängt, weiss man, dass die Person im Haus ist.
Jeder Insasse hat einen Schlüsselanhänger. Wenn der am Brett
hängt, weiss man, dass die Person im Haus ist.

Eine WG von sechs Männern müsse aber auch harmonieren, fügt Jakober noch an. Er könne nicht einfach jeden da reinsetzen. «Es braucht eine hohe soziale Kompetenz in einer solchen WG, sonst funktioniert es nicht. Und ich will ja nicht, dass es nur funktioniert, ich will auch, dass die WG für die Leute sicher ist.» Zweimal habe er jemanden wieder rausnehmen müssen. Der eine habe sich an keine Regeln gehalten, der andere habe sich unmöglich benommen. Beide wurden in den Normalvollzug zurückversetzt.

Eine zentrale, grosse Institution für alle Deutschschweizer Verwahrten fände Jakober nicht überzeugend: «Es klingt vielleicht etwas komisch, aber eine Justizvollzugsanstalt wie unsere hat auch ein grosses Potenzial. Das darf man nicht unterschätzen. Es gibt ein grösseres Angebot an Freizeit- und Arbeitsmöglichkeiten. Wir haben eine Metallwerkstatt, eine Schreinerei, einen Fussballplatz und einen Mehrzweckraum, den wir für Sport, Theater oder Kinoabende verwenden können. Bei einer reinen Verwahrtenanstalt weiss ich nicht, ob man das hinbringen würde.» Die Leute hätten ausserdem die Möglichkeit, sich mit anderen Gefangenen auszutauschen, und seien nicht während vieler Jahre mit den immer gleichen Leuten zusammen.

Das Bundesgerichtsurteil

Im Juni hat das Bundesgericht das Urteil zu Kruckers Beschwerde veröffentlicht. Es befand, die aktuelle Unterbringung von Krucker widerspreche der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht. Die Vorinstanzen hätten es jedoch versäumt, genau hinzuschauen, ob die frühere Unterbringung im normalen Strafvollzug dagegen verstossen habe. Es wies die unteren Instanzen an, diesen Fehler auszubügeln. «Der Entscheid ist wegweisend», resümiert Stephan Bernard: «Das Bundesgericht schliesst nicht aus, dass der Verwahrungsvollzug, wie er sich bei Herrn Krucker während Jahren gestaltete, vor der EMRK nicht standhält – was auch bei Dutzenden anderen Verwahrten gelten würde. Es fordert den zuständigen Kanton auf, sich eingehend damit zu befassen. So weit ersichtlich, wird damit erstmals in der Schweiz grundsätzlich zu prüfen sein, ob der Verwahrungsvollzug ganz grundsätzlich menschenrechtskonform ist.» Damit hat Anwalt Bernard einen beachtlichen Etappensieg errungen.

Der Fall wird nochmals von allen kantonalen Instanzen behandelt werden müssen. Das dürfte bis zu drei Jahre dauern. Für den Ausgang des Verfahrens gibt es zwei Optionen: Die Schweiz anerkennt, dass der bisherige Verwahrungsvollzug die EMRK verletzt, und bringt die Verwahrten künftig anders unter – oder aber sie tut es nicht. Dann wird Stephan Bernard den Fall nach Strassburg weiterziehen.

Frau Kruckers Hoffnung

Frau Krucker liest diesen Text vor der Publikation. Etwas fehle ihr, sagt sie: «Meine grosse Hoffnung ist, dass Toni einmal heimkommen und zwei, drei Stunden mit seinen Geschwistern und Neffen verbringen darf.» Es sei doch unmenschlich, jemanden so lange von seiner Familie getrennt zu halten. «Die Familie ist da für ihn, wir stehen alle voll hinter ihm.» Wenn er nicht einmal einen begleiteten Ausgang bewilligt erhalte, habe er auch nie die Möglichkeit, zu beweisen, dass er sich geändert habe und nicht rückfällig werde.

Bundesgerichtsentscheid: 6b_1291/2022

Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: EGMR Nr. 19 359/04 (2009)

Neue Abteilungen geplant

Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass Verwahrte nicht dem rigiden Strafregime unterworfen sein sollten, da sie ihre Strafe bereits verbüsst haben und nur noch präventiv eingesperrt sind. Die aktuellste Ausgabe von «#prison-info», einer Publikation des Bundesamts für Justiz, widmet sich nun explizit dem Thema Verwahrung und geht auf die «neuen Wege im Verwahrungsvollzug» ein, die die Kantone eingeschlagen haben. Das Haus C der JVA Solothurn wird darin als positives Beispiel erwähnt. Allerdings ist es zurzeit noch die einzige Abteilung in der Schweiz, die den verwahrten Gefangenen ein relativ normales Leben ermöglicht – und sie hat nur Platz für sechs Personen. Künftig sollen jedoch alle Verwahrten die Möglichkeit erhalten, «bei der Ausgestaltung ihres Vollzugsalltags mitwirken zu können», wie es in ««#prison-info» heisst.

Nach den aktuellsten Daten des Bundesamts für Statistik waren 2021 in der Schweiz 145 Personen verwahrt. Es fehlen also viele Plätze, doch tut sich diesbezüglich einiges: Die JVA Bostadel im Kanton Zug wird demnächst umgebaut und erweitert. Der Neubau mit einer Spezialabteilung für alte und verwahrte Gefangene soll in etwa fünf Jahren bezugsbereit sein. Gemäss «#prison-info» sind auch andere Justizvollzugsanstalten daran zu prüfen, ob sie spezialisierte Verwahrtenabteilungen schaffen möchten. Für Frauen wird es keine derartige Sonderabteilung geben, weil aktuell schweizweit nur eine einzige Frau verwahrt ist.