Fluchthilfe in Russland: Die Trümmer aufklauben

Nr. 36 –

Reiserouten erstellen, Geld sammeln, Impfungen für Haustiere organisieren: Gleich nach Beginn des russischen Angriffskriegs haben sich Hunderte Freiwillige zusammengeschlossen, um Ukrainer:innen zu unterstützen. Innenansichten einer klandestinen Operation.

Olga sitzt verdeckt auf einer Bank vor einem Kaffee
«Den Krieg nenne ich Krieg und nicht Spezialoperation, es geht einfach nicht, zu verschleiern, was sich nicht verschleiern lässt»: Olga engagiert sich in einem Netz, das in Russland aus der Ukraine Geflüchtete unterstützt.

«Als Erstes begegnete ich einem Achtzehnjährigen aus Mariupol»: In Olgas Gedächtnis hat sich jener Tag im März 2022 fest eingeprägt. Gleich zu Beginn der russischen Bombardierungen wurde das Haus des jungen Mannes zerstört, kurz darauf fand er sich jenseits der Grenze wieder – zunächst in Taganrog, dann in St. Petersburg. Einen «ziemlich verstörten» Eindruck habe er gemacht, den Menschen immer tief in die Gesichter geschaut. Wie die russische Bevölkerung zum Krieg stehe, wollte er wissen, aber niemand habe auf seine Blicke reagiert. «Mir schien, das hat ihm schwer zu schaffen gemacht», erinnert sich Olga, die ihren Nachnamen aus Angst vor Repression nicht in der Zeitung lesen will. Die Familie des jungen Mannes blieb in Mariupol zurück, er reiste von St. Petersburg aus weiter nach Estland.

So wie Olga hatten etliche Menschen in Russland gleich zu Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine den Gedanken, aktiv zu werden – zunächst jedoch ohne konkrete Idee, wie sie sich nützlich machen können. In den sozialen Medien wurden sie schliesslich fündig: Auf Twitter tauchten Suchanfragen nach Helfer:innen auf, die Sachspenden auftreiben und ukrainische Geflüchtete bei der Weiterfahrt unterstützen sollten, die auf russischem Gebiet gelandet und auf Hilfe angewiesen waren.

Prompt koordinierten sich mehrere Hundert Gleichgesinnte in verschiedenen Städten in einem Telegram-Kanal. Aljona Kalagina* ist seit der Gründungsphase mit vollem Engagement dabei – wenngleich sie anfangs skeptisch gewesen sei: «Wir hielten das zunächst für Quatsch: Wer flüchtet schon nach Russland?» Doch die frisch auf die Beine gestellte Initiative kam genau zur richtigen Zeit.

Ein verzerrtes Bild

Das oberste Gebot lautet: Geholfen wird sowohl jenen, für die Russland nur Transitland ist, als auch jenen, die – aus welchen Gründen auch immer – vorerst oder dauerhaft bleiben wollen. Zehntausende Male begleiteten Helfer:innen in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten Geflüchtete aus der Ukraine bei ihrem kriegsbedingten Weg durch Feindesland. Vielen bleibe gar keine andere Wahl, betont Kalagina. «Die besetzten Gebiete kann man schlichtweg nicht in die andere Richtung verlassen.»

Um wie viele Ukrainer:innen es sich handelt, weiss niemand so genau. Die russische Nachrichtenagentur Tass nannte im März die Zahl von 5,4 Millionen, die innert eines Jahres aus der Ukraine nach Russland geflüchtet sein sollen. Zu dem Zeitpunkt hielten sich in staatlichen Aufnahmezentren knapp 40 000 Menschen auf.

Die Moskauer Flüchtlingsorganisation Civic Assistance Committee, die ebenfalls ukrainischen Geflüchteten hilft – und dafür als sogenannter ausländischer Agent gebrandmarkt wird –, kommt nach einer Analyse aller migrationsrelevanten öffentlich zugänglichen Daten allerdings zum Schluss, dass die Tass-Angaben ein völlig verzerrtes Bild lieferten. Am ehesten entsprechen sie der fixierten Gesamtzahl an Grenzübertritten innerhalb des angeführten Zeitraums, die in der Statistik jedoch nur nach Staatsangehörigkeit aufgeschlüsselt werden. Nicht entnehmen lässt sich daraus beispielsweise, wie häufig ein und dieselbe Person die Grenze überquert hat.

Ohne zu wissen, was genau auf sie zukommt, legte das neue Flüchtlingsnetzwerk in St. Petersburg, Moskau und weiteren Städten einfach los. Zunächst holten engagierte Freiwillige bloss einige ukrainische Familien vom Bahnhof ab und halfen mit dem Notwendigsten aus. Dann wurden die Aufgabenfelder immer diverser; per Buschfunk meldeten sich immer mehr Hilfsbedürftige, die Logistik wurde zunehmend komplexer: Reiserouten mussten erstellt, Bescheinigungen besorgt, Geld musste gesammelt werden. Aber auch die Anzahl der Helfer:innen nahm rapide zu. «Inzwischen ist daraus eine richtig grosse Gemeinschaft erwachsen: dezentralisiert aufgebaut, komplett ohne Hierarchien. Ein regelrecht anarchistisches System», erklärt Kalagina.

Welcher Grenzübergang?

Die Freiwilligen übernehmen Aufgaben, die sie stemmen können. «Mir war es beispielsweise möglich, Menschen zu Hause unterzubringen», erzählt Tania aus Moskau, die ihren Nachnamen ebenfalls nicht nennen will. Seit April 2022 trifft sie frisch eingereiste Ukrainer:innen, die dann eine Nacht bei ihr bleiben, um zu sich zu kommen. Anschliessend begleitet Tania sie etwa zum Bus nach Riga. Ihr sei es wichtig zu wissen, dass die Menschen bald in Sicherheit seien, meint sie.

Es seien keine einfachen Bekanntschaften, sagt Tania: «Manchen fällt es schwer, sich mit mir zu unterhalten.» Und sie tue sich ihrerseits nicht leicht, mit jenen zu sprechen, die eine prorussische Haltung an den Tag legten. Trotzdem bringt sie viel Verständnis auf für alle, die in Russland bleiben wollen. Denn meistens sei das keine Frage der politischen Einstellung. «Sie sind verängstigt, und hier können sie wenigstens die Sprache.» Und von den Kriegsfolgen betroffen seien ohnehin alle gleichermassen.

Aljona Kalagina hat die Erfahrung gemacht, dass sich Geflüchtete selbst nach dem Verlust von Angehörigen so lange zusammenreissen, bis sie erstmals auf jemanden treffen, der ihnen zuhört. «Das ist wahnsinnig schwierig, insbesondere, wenn man darauf nicht vorbereitet ist. Es gibt viele Dinge, von denen ich lieber nie etwas gehört hätte, Folter zum Beispiel», sagt sie.

Praktische Abläufe sind nicht kalkulierbar. Koordinator:innen wie Kalagina, die sich auf die Organisation des für eine Weiterreise nach Europa notwendigen Prozederes konzentrieren, müssen deshalb ständig einsatzbereit sein. Oft fehlen den Geflüchteten gültige Reisedokumente. Und es kommt vor, dass jemand die Grenze nicht passieren darf – entweder wird die Ausreise auf russischer Seite verwehrt oder die Einreise nach Estland, Lettland oder Polen.

Allein die Frage, welcher Grenzübergang im Moment die beste Variante darstellt, bedarf ständiger Nachforschungen. «Das verändert sich täglich», so Kalagina. «Die Menschen denken, Krieg bedeutet nur Kampfhandlungen, dabei hat er Unmengen verschiedener Auswirkungen – auch soziale –, die den Leuten zu schaffen machen.»

Den Staatsschutz im Nacken

Durch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine Anfang Juni kommen derzeit nicht nur mehr Geflüchtete in Russland an, sie treffen auch auf mehr Hürden bei der Weiterreise als noch vor einigen Wochen. Viele von ihnen haben nichts retten können ausser ihren Hunden oder Katzen: Sich nun von diesen trennen zu müssen, ist deshalb eine weitere Katastrophe – und das müssen sie in gewissen Fällen; am 1. Juli haben einige EU-Länder nämlich für Ukrainer:innen geltende Sonderregelungen abgeschafft und die Einreisebedingungen für Haustiere wieder verschärft.

Faktisch bleiben alle Grenzen für die Menschen geöffnet, aber Impfungen und Bescheinigungen für die Tiere zu organisieren, ist aufwendig – und treibt die Kosten für die Helfer:innen in die Höhe. Die ohnehin schwer gestressten Geflüchteten hängen deshalb notgedrungen in Russland fest und müssen später auf EU-Seite wiederum unangenehme Befragungen ob ihres langen Aufenthalts über sich ergehen lassen. «Manchen Grenzern sind schon drei Tage zu lang», so Kalagina.

Die Unterstützer:innen bemühen sich immer wieder, über ihre Kontakte zu europäischen Geflüchtetennetzwerken die EU-Kommission auf solche Probleme hinzuweisen. Als loses Netzwerk haben sie auf internationaler Ebene allerdings nicht die nötige Lobby. In Russland selbst können sie derweil nur still und leise arbeiten und keine lauten Antikriegsstatements von sich geben – was Kalagina ziemlich schwerfällt: «Wir bemühen uns in allem darum, zu zeigen, dass wir für den Staat keine Gefahr darstellen – denn darin besteht die Grundvoraussetzung für unsere Arbeit.»

Der Staatsschutz sitzt ihnen dabei deutlich im Nacken. «FSB-Angehörige, die von Zeit zu Zeit bei uns Gesprächsbedarf anmelden, interessiert brennend, wer bei uns das Sagen hat», erzählt Kalagina. Sie würden auch regelmässig nach Adressen fragen, bestätigt Olga: «Es kam vor, dass Geflüchtete meine Kontakte an die Grenzer weitergegeben haben, aber es ist zum Glück nichts passiert.»

Anders als der Konsens, nicht mit staatlichen Stellen zu kooperieren, führe der Umgang mit den zunehmenden Risiken einer Strafverfolgung zu internen Debatten und Kompromissen, sagt Aljona Kalagina. Es gehe dabei auch um Privilegien wie den Zugang zu einem Schengen-Visum als einer Art Sicherheitsgarantie für die Helfenden. Bis zur finnischen Grenze sind es von St. Petersburg zwar nur zwei Stunden Autofahrt, nur werden praktisch keine neuen Visa mehr ausgestellt: Nach hundert Jahren diplomatischer Beziehungen schliesst das finnische Konsulat dort im Herbst seine Tore.

Anfangs hat sich Olga in St. Petersburg und anderen Regionen gleichzeitig um bis zu zwanzig Familien gekümmert. Verpflegung, Kleidung und Medikamente, aber auch kostenlose Unterkünfte lassen sich auch aus der Entfernung besorgen. Involviert sind zwar jeweils Helfer:innen vor Ort, doch auf Olga lastet auch eine grosse Verantwortung, die sie nicht abgeben kann.

Gelegentlich stösst sie dabei an ihre Grenzen: Bei schweren, behandlungsintensiven Krankheiten – amputierten Beinen zum Beispiel – fehlen ihr die Ressourcen für eine angemessene Betreuung. Den Ukrainer:innen macht sie in solchen Fällen jeweils deutlich, welche Alternativen ihnen offenstehen: nach Europa zu gehen, wo sie in Sicherheit sind und Sozialleistungen beziehen können, oder in Russland für einen Hungerlohn und ohne Anspruch auf Krankenversicherung zu arbeiten.

Ohne russischen Pass steht aus der Ukraine Geflüchteten in Russland nur eine Einmalzahlung von umgerechnet rund hundert Schweizer Franken zu, die oft erst Monate später ausbezahlt wird. Übergangsweise ist eine Unterbringung in staatlichen, meist weit abgelegenen Unterkünften möglich. Und weil es eine mühsame bürokratische Angelegenheit ist, ausländische Angestellte zu beschäftigen, ziehen viele Arbeitgeber:innen Leute mit russischem Pass vor.

Im Wartemodus

Schon eine Aufenthaltsgenehmigung wäre von Vorteil, um nicht schwarzarbeiten zu müssen: Das zeigt etwa der Fall eines jungen Mannes, dem Olga einen Job als Industriekletterer verschafft hatte. Vorerst will er keinen russischen Pass beantragen – ukrainische Männer zögern diese Entscheidung oft hinaus. «Schliesslich können sie dann zur russischen Armee eingezogen werden», bringt Olga das Problem auf den Punkt.

Ohnehin wollen viele der Geflüchteten irgendwann in die Ukraine zurück. Weil sie aber befürchten, dort als potenzielle Kollaborateur:innen verfolgt zu werden, sind sie bestrebt, ihren Aufenthalt in Russland nicht zu legalisieren. Lieber verharren sie im Wartemodus – auch wenn sie nur dank humanitärer Hilfe über die Runden kommen. Helferin Olga trifft es besonders, wenn Geflüchtete zurückgehen, obwohl der Krieg noch nicht zu Ende ist und ihnen entsprechend Gefahr droht. Bis zu einem Drittel der von ihr Begleiteten machen das so.

Die Helfer:innen leisten Enormes – und doch ist allen klar, dass sie nie genug tun, den Krieg nicht stoppen, das Geschehene niemals wiedergutmachen können. «Ich bin keine Retterin für alle», resümiert Tania. Sie klaube nur am Rand die Trümmer auf. «Die Grössenordnung der Zerstörung und meine Bemühungen stehen in keinem Verhältnis.»

Zwischenzeitlich hatte die Ingenieurin für Nachrichtentechnik ihren Job verloren: ein herber Einschnitt für die ehrenamtliche Arbeit, schliesslich kostet jede Unterstützung Geld. Im Übrigen kenne sie etliche Leute, die für den Krieg seien und trotzdem Geflüchtete aus der Ukraine unterstützten – ein Paradox. Die Frage nach kollektiver Schuld quält Tania. Sie nahm die letzten Jahre an allen Protesten der Opposition teil – was hätte sie anders machen können? Tanias Umfeld weiss nichts von ihrem Engagement. Ohne den Krieg auch nur zu erwähnen, falle sie schon mit ihrer Gesinnung auf, sagt sie.

Olgas Eltern sind überzeugte Putinist:innen, ihre jüngere Schwester stehe allerdings hinter ihr. «Den Krieg nenne ich Krieg und nicht Spezialoperation, es geht einfach nicht, zu verschleiern, was sich nicht verschleiern lässt», formuliert sie ihre Einstellung. Durch diese Haltung hat auch das Verhältnis im Arbeitskollektiv bei einem Serviceunternehmen für Bürokomplexe gelitten, wo sie zuletzt gearbeitet hat. Zwei Kollegen sind an der Front, andere warfen ihr vor, Ukrainer:innen zu helfen, statt Geld für die Armee zu spenden. «Das war mir zu viel»: Olga hat gekündigt.

Die Soliarbeit ist kräftezehrend, zur Neige gehen auch die Ressourcen. Dabei kommen jetzt die ganz schwierigen Fälle: Schwerkranke, Alte, die nicht so mobil sind wie jene, die kurz nach Beginn des Angriffskriegs flohen. Routine lasse die Gefühle abstumpfen, sagt Aljona Kalagina. Sie fühle sich als Büromanagerin ohne Vorstellung von der Zukunft. «Mir scheint, wir stürzen in einem brennenden Zug von der Klippe.»

* Name geändert.