Kost & Logis: Küssen oder geküsst werden

Nr. 46 –

Ruth Wysseier über rollende Geschlechterrollen

Was hat es eigentlich mit diesen küssenden Männern auf sich? Als der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Simonetta Sommaruga abschmatzte, dachte ich noch, ach, der widerliche Frosch nutzt sein Amt aus und blamiert sich – sein Problem. Als Luis Rubiales der spanischen Fussballerin Jennifer Hermoso seinen Kuss aufzwang, war das eine andere Geste: Er verwies sie auf ihren Platz, als Funktionär nahm er sich, was er wollte. Wie schade, dass Hermoso nicht die Geistesgegenwart hatte, mittels Fallrückzieher und kräftigem Tritt einen Nockenabdruck in dessen Geläut zu platzieren. Der kroatische Aussenminister Gordan Grlić Radman dagegen wirkte neulich wie einer, der in einer bierseligen Männerrunde eine Wette abgeschlossen hatte, dass er es schafft, Annalena Baerbock zu küssen. Welch jämmerliches Bild er abgab.

In ihrem epochalen Werk «Das andere Geschlecht» schrieb Simone de Beauvoir vor 74 Jahren: «Die Vorstellung der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer.» Das kann Emmanuel Macron natürlich nicht wissen, weil er damals noch gar nicht geboren war. Darum deklarierte er wohl vorletzte Woche: «In unserer Sprache ist das Männliche neutral.» Frankreich kennt eine Grammatikregel, wonach das Maskulinum das Femininum dominiert, darüber wacht die Académie française. Damit das so bleibt, will der Senat geschlechtergerechte inklusive Sprache verbieten. Aber was, wenn immer mehr Frauen Ministerinnen werden? Dann muss sich selbst die Académie bewegen: Seit 2019 akzeptiert sie, dass es auch «madame la maire» oder «la ministre» heisst. Georgia Meloni dagegen wünscht, mit «il Presidente del Consiglio» tituliert zu werden und nicht mit dem weiblichen «la».

Anfang der achtziger Jahre schrieb ich mit Kolleginnen aus der «Schweizerischen Journalisten-Union» (so hiess die Gewerkschaft damals) eine Broschüre mit Anregungen für einen nicht sexistischen Sprachgebrauch. Der Titel: «Die Sprache ist kein Mann, Madame». Darin schlugen wir vor, in der Berichterstattung wenn möglich auf Reizwörter wie «Busenwunder», «Mannweib», «Skihäschen», «stiefmütterlich» oder «Rabenmutter» zu verzichten. Und sanft kritisierten wir, dass in einem Dritte-Klasse-Lesebuch von 21 erwähnten Frauen 18 als Hausfrauen figurierten, 2 als Lehrerinnen und 1 als Krankenschwester.

Doch, da hat sich über die Jahrzehnte einiges getan, in der Realität und in ihrer sprachlichen Abbildung. Seit es vermehrt Krankenbrüder gibt, heissen sie Pflegefachfrauen und -männer. Allen Sprachbarrikaden, gesetzlichen Hürden, Abwehrkämpfen zum Trotz: Die Geschlechterstereotype geraten überall ins Wanken. Im konservativen Virginia gewinnt die trans Frau Danica Roem den Senatssitz, und Kim de l’Horizons Roman «Blutbuch» begeistert mit kreativ-fluider Sprache die Buchpreisjurys. Frauen spielen Spitzenfussball, und unser Nati-Captain heisst zwar Granit, gibt aber öffentlich preis: «Ich weine gern und schäme mich auch nicht dafür.»

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.