Frauen in Afghanistan: «Unsere Freiheiten schwinden von Tag zu Tag»

Nr. 50 –

Verhüllungspflicht, Universitätsverbote und häusliche Gewalt: Eine Lehrerin, eine Studentin und eine Informatikerin erzählen von ihrem Alltag unter dem Talibanregime.

verschleierte Frau in einem Schönheitssalon in Afghanistan
Der sichere Rückzugsort existiert nicht mehr: Im Sommer liessen die Taliban 
die Schönheitssalons schliessen.
Foto: Keystone

«In Masar-e Scharif gibt es nur zwei Jahreszeiten. Sommer und Winter», sagt Chatera Sadat*. Das Tragen ihrer schwarzen Kleidung und ihres Schleiers fällt der 48-Jährigen oft besonders schwer – in Masar-e Scharif in der Provinz Balch im Norden Afghanistans herrschten in diesem Spätsommer meist weit über vierzig Grad. Der Klimawandel macht auch vor Afghanistan, das im Vergleich zu anderen Ländern in der Region nur wenig CO₂ produziert, nicht halt.

Sadat ist Lehrerin an einer Unterstufe. Obwohl die drückende Hitze die Gesundheit vieler Afghan:innen gefährdete, fand der Unterricht weiterhin statt. «Hitzeferien hätten den Unterricht zurückgeworfen, meinten die Taliban», so Sadat. Die wahren Hürden zur Bildung sind aber gänzlich andere: Seit die militant-islamistischen Taliban im August 2021 in ganz Afghanistan die Macht ergriffen haben, ist Mädchen der Besuch der Oberstufe von der siebten bis zur zwölften Klasse untersagt. Seit Ende des letzten Jahres besteht für Afghaninnen zudem ein Universitätsverbot.

In manchen Regionen, die in den vergangenen zwanzig Jahren des Krieges vernachlässigt wurden, spielen die Verbote der Taliban allerdings nur eine untergeordnete Rolle: Mädchenschulen und Universitäten gab es dort schon vor deren erneuter Machtübernahme keine – auch wenn korrupte Beamte ausländische Gelder akquirierten und behaupteten, damit solche Schulen errichtet zu haben.

Die sogenannten Geisterschulen gehören bis heute zu den grössten Schandflecken der westlichen Intervention in den Jahren vor dem August 2021. In der Provinz Balch ist das etwas anders. «Hier wird schon lange Wert auf Bildung gelegt», sagt Sadat und erinnert an historische Persönlichkeiten wie die Dichterin Rabia Balchi aus dem 10. Jahrhundert.

Strenger Dresscode

Dort aber, wo die Schulen weiterhin geöffnet sind, herrscht heute die rigide Sittenkontrolle der Taliban. Derweil Männer Bart und Käppchen tragen müssen, gilt für Mädchen und Frauen ein noch strengerer Dresscode. Geht es nach den Taliban, so sollen sie ihre Gesichter statt mit einem Schleier am besten gleich mit schwarzen medizinischen Masken verdecken, obwohl die Coronapandemie auch in Afghanistan schon längst vorbei ist. «Schwester, trag doch bitte eine Maske», hört man oft von der Sittenpolizei.

Sadats jüngste Tochter ist zwölf Jahre alt und kann fast den ganzen Koran auswendig rezitieren. Als sie vor kurzem vergessen hatte, ihre Maske mit in die Schule zu nehmen, wurde sie vom Lehrpersonal wieder nach Hause geschickt. Im Juli sorgten die Taliban auch mit der massenhaften Schliessung von Schönheitssalons für Schlagzeilen. Zehntausende von Afghaninnen waren gezwungen, ihren Betrieb einzustellen. Die Salons gehörten zu den letzten unabhängigen Frauenbetrieben des Landes und galten als Safe Space. Doch die Taliban und ihre Anhänger betrachten sie als Orte des Frevels und stellen sie mit Bordellen gleich.

Während die Welt ihren Fokus auf andere Kriege und Konflikte richtet, dreht sich das Rad der Zeit in Afghanistan zurück. Bis heute hat kein Staat der Welt das Talibanregime anerkannt. Die internationalen Wirtschaftssanktionen treffen hauptsächlich die Bevölkerung. Die ausländischen Devisenreserven in Höhe von fast zehn Milliarden US-Dollar sind weiterhin eingefroren. Dass die afghanische Wirtschaft überhaupt noch existiert und die Landeswährung nicht zusammengebrochen ist, grenzt an ein Wunder.

In den ersten zwei Jahren des wiedergeborenen Talibanemirats hat sich vieles im Land verändert. Masar-e Scharif gehört zu jenen Städten, in denen das besonders deutlich wird. Einst waren hier Nato-Truppen einschliesslich der deutschen Bundeswehr stationiert, während vom Westen subventionierte Warlords in Palästen residierten und durch fragwürdige Deals und mafiaähnliche Netzwerke zu Multimillionären wurden. Mittlerweile sind nur noch die Taliban präsent. Früher versteckten sie sich in den umliegenden Dörfern – nun marschieren sie mit ihren Kalaschnikows durch die Stadt und haben gelernt, die zurückgelassenen Geländewagen ihrer abgezogenen Feinde zu lieben.

Der neue Bürgermeister lebt mit seiner vierzehnköpfigen Familie in einem modernen Hochhaus. Er und einige andere lokale Talibanköpfe sind die neuen Nachbarn von Lehrerin Chatera Sadat und ihrer Familie. Der ganze Block hat Angst vor ihnen. «Es gibt viele Probleme, doch niemand traut sich, etwas zu sagen», erzählt einer von Sadats Söhnen. Einmal hätten die Frauen des Bürgermeisters Essensreste in die Abflussrohre geworfen und diese so verstopft. Und in den Fluren des Erdgeschosses würden die Leibwächter des Bürgermeisters manchmal Motorrad fahren.

Hilfe aus Zürich

Sadats ältere Tochter Samira* versucht trotzdem, sich in den eigenen vier Wänden auf ihr Medizinstudium zu konzentrieren. Die Universität darf sie seit dem Verbot für Frauen nicht mehr besuchen. «Es war der schlimmste Tag in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, dass meine Zukunft mit einem Schlag zerstört wurde», erinnert sie sich. Viele ihrer Freundinnen würden seitdem an Depressionen und Angststörungen leiden. Das Gefühl der Ungewissheit und der Hilflosigkeit sei allgegenwärtig.

Dann aber stiess Samira Sadat auf die Afghan University of Medical Sciences (Aums), eine afghanisch-schweizerische Initiative, die das Medizinstudium für Afghaninnen wieder ermöglichen soll. Die Aums-Kurse finden online statt. Expert:innen aus aller Welt halten Vorlesungen zu verschiedenen medizinischen Bereichen. Dazu gibt es auch praktischen Unterricht, der von afghanischen Ärzten vor Ort übernommen wird – und teils im Geheimen stattfindet (siehe WOZ Nr. 9/23). «Die Studentinnen geben vor, als Krankenschwestern oder ärztliche Aushilfen zu arbeiten, und sammeln Erfahrung in einer lokalen Praxis. So umgehen wir die Verbote der Taliban», erzählt Maiwand Ahmadsei.

Der deutsch-afghanische Radioonkologe Ahmadsei hat die Aums vor knapp einem Jahr gegründet, kurz nach der Schliessung der afghanischen Universitäten für Frauen. Mittlerweile steht das Projekt kurz vor einer Akkreditierung. Das heisst, dass die Leistungen der Studentinnen bald von Universitäten weltweit anerkannt werden könnten. «Uns war es wichtig, etwas Nachhaltiges zu schaffen», erklärt der junge Arzt in seinem Büro in einem Altbau in Zürich.

Wie die meisten Afghan:innen hat auch er Fluchterfahrung. Ende der neunziger Jahre flüchtete seine Familie vor den Taliban und landete in Hamburg. Viele seiner Verwandten wurden in den Kriegen der vergangenen Jahrzehnte getötet. Ahmadsei studierte in München und New York und ist gegenwärtig als Assistenzarzt am Universitätsspital Zürich tätig. Dass Afghaninnen wie Samira Sadat, der lediglich ein Semester zum Abschluss fehlte, ihren Bildungsweg nicht fortführen könnten, belaste ihn bis heute: «Ich fühlte mich verantwortlich zu handeln.»

Angst vor dem Arbeitsverbot

Die Rawze-e Scharif, die Blaue Moschee Masar-e Scharifs, die zu den bekanntesten Pilgerstätten in Afghanistan gehört, wurde einst von vielen Familien besucht. Kinder tollten umher, Frauen lachten, ruhten sich aus und machten Fotos. Heute kommen die meisten Selfies von Talibanmitgliedern. Das Gelände der Moschee ist zur reinen Männerzone geworden. Frauen wird der Zugang meist verweigert. Dasselbe gilt für öffentliche Pärke. Der einstige Trubel hat abgenommen. Die Stimmung wirkt gedrückt.­

Auch zum zweiten Jahrestag ihres «Erfolgs» gegen das US-Militär und die Nato priesen die Taliban die bestehende Sicherheit im Land. Dabei verschwiegen sie, dass für viele Angriffe und Bombenattentate sie selbst verantwortlich waren. Der Begriff «Sicherheit» sei Teil des Talibanneusprechs geworden, während persönliche Freiheiten abgeschafft worden seien und eine totalitäre Diktatur aufgebaut werde, sagt Chatera Sadat: «Was bringt mir diese vermeintliche Sicherheit, wenn ich hier als Frau keine Zukunft habe? Wenn meine Töchter nicht in die Schule gehen dürfen oder nicht studieren können?»

In einer ähnlich ausweglosen Situation befindet sich auch Rochschana Noor* aus Kabul. Ihr Informatikstudium musste sie abbrechen, als Frauen von der Universität ausgeschlossen wurden. Kurz darauf fand sie eine Anstellung bei einer kleinen IT-Firma. Noors Arbeitsplatz befindet sich in einem der Hochhäuser, die im Zuge des Baubooms der letzten Jahre in Kabul errichtet wurden. «Ich fahre jeden Tag allein zur Arbeit. Wie lange ich meine Stelle behalten darf, ist allerdings ungewiss», erzählt sie.

Die Angst vor einem neuen Arbeitsverbot ist stets präsent. Offiziell dürfen Afghaninnen nicht für NGOs arbeiten und ohne männliche Begleitung auch nicht reisen. Letzteres wird am Kabuler Flughafen mittlerweile besonders streng kontrolliert. Ende August etwa verweigerten die Taliban einer Gruppe von sechzig Afghaninnen die Ausreise. Die jungen Frauen hatten Stipendien von den Vereinigten Arabischen Emiraten erhalten, um dort ihr Studium fortzusetzen.

«Unsere Freiheiten schwinden von Tag zu Tag», sagt Noor. «Die Sittenwächter suchen regelmässig unsere Büros auf, um die von ihnen verlangte strikte Geschlechtertrennung zu kontrollieren.» Auch in Kabul gilt der neue Dresscode. Wer sich nicht daran hält, muss mit Konsequenzen rechnen. «Sobald sich die Taliban bei meinem Arbeitgeber beschweren und ihm die Schliessung seiner Firma androhen, lässt dieser seinen Frust an uns Frauen aus», sagt Noor. Daraufhin, so die IT-Angestellte, würde es heissen, dass sie und ihre Kolleginnen ihren Job verlieren würden – und der Bericht über etwaige «Vergehen» an ihre männlichen Verwandten weitergeleitet werden müsse.

Es ist dieses perfide Spiel mit den extremen Seiten des Patriarchats, das vielen Frauen zu schaffen macht. Die Taliban wissen das und spekulieren darauf. Das ist auch einer der Gründe, warum die Fallzahlen von häuslicher Gewalt in Afghanistan laut Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch ebenso angestiegen sind wie diejenigen von psychischen Erkrankungen und Suiziden. Eine Frau, die sich nicht an die Vorschriften der Taliban hält, wird nicht direkt von diesen bestraft. Stattdessen trifft die Strafe ihre männlichen Verwandten – die wiederum alles an ihren Frauen, Schwestern oder Töchtern auslassen.

* Name aus Sicherheitsgründen geändert.

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