Zeit und Arbeit: Du solltest langsam aufstehen

Nr. 21 –

Sobald der Wecker zum ersten Mal klingelt, befindet sich der Mensch in der Welt der Zwänge. Warum muss das immer so früh sein? Und was erwartet uns in der 24-Stunden-Gesellschaft?

Du solltest langsam wirklich aufstehen.

Selbst wenn du das nicht bereits wüsstest, würde dich das elektronische Piepen deines Weckers unmissverständlich daran erinnern. Dein System läuft grösstenteils noch im Stand-by-Modus, trotzdem lässt dein verklebtes Gehirn bereits eine rudimentäre Bestandsaufnahme zu. Die Welt teilt sich in zwei grundlegend unterschiedliche Bereiche: ausserhalb des Bettes - kalt, dunkel, tausend Dinge, die erledigt werden sollten; unter der Bettdecke - warm und gemütlich, wohlig, und ausserdem wartet hier noch der Rest deines unterbrochenen Traums. Alles, was du tun musst, um in dieser Welt der Wonne und Glückseligkeit bleiben zu dürfen: die Snooze-Taste drücken. Ein weiteres Mal.

Trotzdem befindest du dich, sobald dein Wecker zum ersten Mal klingelt, unwiderruflich in der Welt der Zwänge. Einen Tag blaumachen oder morgens wieder wegdämmern in ein Reich ohne Verantwortung und Pflichten ist keine Flucht auf Dauer. Die Menschheit hat sich irgendwann dagegen entschieden, auf den Bäumen zu leben und sich von den Dingen zu ernähren, die in der Nähe des Mundes wachsen. Sie will Autos, iPods und Couchgarnituren, sie braucht ein Dach über dem Kopf und mindestens eine Mahlzeit täglich. Und jenseits der Bäume wird es kompliziert. Zu den unzähligen Vorschriften und Regeln, die das durchorganisierte Zusammenleben mit sich bringt, gehört leider auch diese: Geschenkt wird einem nichts. Ein staatlich garantiertes Bürgereinkommen liegt noch in weiter Ferne, immer neue Verschärfungen bei den Sozialversicherungen machen auch nicht gerade sorglos, und von den Zinsen eines ererbten Vermögens zu leben, ist nicht jedem vergönnt. Für alle anderen heisst es: aufstehen, arbeiten. Aber warum muss das immer so früh sein?

In der Gesellschaft zu funktionieren, heisst auch, nicht autonom über die eigene Zeit verfügen zu können. Das ist es, was bereits die Schule neben Lesen und Schreiben vor allem lehrt. Das Leben eines Schulkindes wird strukturiert vom Wechsel zwischen Schulwochen und Ferien, zwischen Schule und Freizeit, und auch an den freien Nachmittagen muss Zeit für die Hausaufgaben eingeplant werden. Richtig komplett wird die Lektion aber erst durch das allmorgendliche Aufstehen - zu einer Uhrzeit, die für den biologischen Rhythmus Heranwachsender noch mitten in der Nacht liegt. Seit längerem predigen WissenschaftlerInnen erfolglos, dass zum üblichen Schulbeginn von acht Uhr oder früher die Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit der Schüler immer noch im Tief liegt, und zwar unabhängig davon, wie früh sie ins Bett gegangen sind. Kein Wunder, dass der Beginn des Tages für viele Kinder der reinste Horror ist. Dieser Eindruck bereitet sie dann auch gleich fürs Leben vor.

«Warum müssen eigentlich fast alle Leute, die in einer Anstalt untergebracht sind, früh aufstehen?», fragt Kurt Tucholsky und gibt die Antwort: Es ist «der Geltungsdrang der leitenden Herren, der sich da austobt». Das gilt auch ausserhalb von Gefängnissen, Krankenhäusern und Kasernen, denn es ist das «Stigma aller Unterdrückten: früh aufstehn zu müssen». Aus der Perspektive eines Langschläfers muss die ganze Welt als Zwangsanstalt erscheinen.

Gerüchteweise hört man immer wieder von Menschen, die noch vor dem ersten Klingeln des Weckers munter aus dem Bett springen, wahrscheinlich direkt unter eine kalte Dusche. Was sind das für Leute? Wie leben sie? Eine fremde, seltsame Welt. ChronobiologInnen, die sich mit den zeitlichen Abläufen in Organismen beschäftigen, unterscheiden verschiedene genetisch und entwicklungsphysiologisch festgelegte Typen innerer Uhren. Weniger als zehn Prozent der Bevölkerung sind demnach extreme FrühaufsteherInnen oder «Lerchen», noch mal zehn Prozent ausgesprochene Nachtmenschen («Eulen»), die überwiegende Mehrheit aber Mischtypen, die mit dem vorherrschenden Tagesrhythmus halbwegs gut zurechtkommen. Damit ist nicht gesagt, dass diese achtzig Prozent am Morgen nicht auch noch gerne ein bisschen länger liegen bleiben würden. LangschläferInnen haben allerdings einen schlechten Ruf als disziplinlose GesellInnen mit losem Lebenswandel - ganz gleich, ob sie bis vier Uhr nachts gearbeitet haben. Freilich dürfte in die moralische Geringschätzung auch Neid hineinspielen: gegenüber denen, die sich ein solches Leben leisten können.

«Morgenstund hat Gold im Mund», versucht das gesunde Volksempfinden den Rhythmus der LangschläferInnen madig zu machen - ungeachtet dessen, dass im Mund eines soeben Erwachten vor allem schlechte Gerüche wohnen. Letztlich ist das wohl ein Relikt aus agrarisch geprägten Zeiten, als der Tag begann, wenn der Hahn krähte und die Kuh gemolken werden wollte. Schon in der Bibel lassen sich diverse Stellen finden, wo vorzeitig aufgestanden wird. Der chinesische Prediger Watchman Nee hat sie alle akribisch zusammengetragen, um zu beweisen: Nur FrühaufsteherInnen sind gute Christenmenschen, denn «wer es wählt, das Bett mehr zu lieben, schläft länger; wer es aber wählt, den Herrn mehr zu lieben, wird ein wenig früher aufstehen». Von hier aus führt eine direkte Linie zur protestantischen Ethik des disziplinierten Lebens: Verschwendung ist des Teufels, also vertrödle keine Zeit! Nee wurde übrigens von den chinesischen Behörden nicht nur wegen «konterrevolutionärer Tätigkeit» zwanzig Jahre lang eingebuchtet, sondern auch wegen «ausschweifenden Lebens».

Im Internet finden sich anrührende Erfahrungsberichte von Menschen, die endlich FrühaufsteherInnen sein möchten, so wie andere NichtraucherInnen werden oder vom Alkohol wegkommen wollen. Sicher ist es schön, mehr Freizeit am Nachmittag zu haben und das Tageslicht auszunutzen. Die Internalisierung der Zwänge einer morgenmuffelfeindlichen Welt erzeugt aber darüber hinaus Scham über abweichendes Verhalten; wer zur Mittagszeit vom Telefon geweckt wird, wird in der Regel vorgeben, er sei bereits seit Stunden wach - eine nicht ganz einfache Übung. Auch ohne moralische Aufladung frühen Aufstehens ist schlecht integriert, wer Mühe hat, zeitig aus dem Bett zu kommen, denn das erschwert die Koordination mit den zeitlichen Abläufen der Normalbevölkerung. Man kann dieses Anderssein natürlich zur Frage des Lebensstils erklären und sich in der Rolle eines Bohemiens gefallen. Auch der verhinderte Kunstmaler Hitler war im Führerbunker selten vormittags auf den Beinen. Wer aber nicht zufällig Diktator ist oder reich oder Künstlerin oder wenigstens Freiberufler, hat ein Problem. Gegen den permanenten «sozialen Jetlag» von LangschläferInnen helfen: Koffein, Zucker und Nikotin. Über sechzig Prozent der «Eulen» sind RaucherInnen, aber nur zehn Prozent der «Lerchen». Vielleicht liegt es am Lebensstil. Vielleicht liegt es am Kreislauf.

Immerhin: Auch LangschläferInnen sind nicht alleine. Es lebe die Differenz! Mut zum Anderssein beweist in Dänemark der «Club der B-Menschen» und in Deutschland der Verein Delta t, der für die Anerkennung einer gegenüber der Normalzeit verschobenen «Zweitnormalität» kämpft; mit Humor, aber ernst in der Sache. Gefordert werden flexiblere Arbeitszeiten, eine Anpassung der Schulzeiten und humanere Öffnungszeiten öffentlicher Einrichtungen. Ein zweischneidiges Schwert: Wo die einen später kommen möchten, müssen die anderen länger arbeiten. Der Trend zu einer 24-Stunden-Gesellschaft mit Konsum rund um die Uhr, globaler Arbeitsverteilung quer durch die verschiedenen Zeitzonen und flexibilisierter Just-in-time-Produktion bedeutet ja auch, dass alle Zeit des Tages (und der Woche) zur potenziellen Arbeitszeit wird. Je mehr die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verwischt wird, desto weniger bleibt übrig von der Autonomie der Zeiteinteilung - und vom Leben. Ohne jede Strukturierung der Zeit geht der Mensch im Strudel einer ständig mehr fordernden Ökonomie völlig verloren. SchichtarbeiterInnen können ein Lied davon singen.

Gibt es Hoffnung? Selbst im schönsten Kommunismus, wo alle morgens Jäger und mittags Fischerin sein können, ist es nicht vorgesehen, morgens einfach gar nichts zu machen. Wie lautet doch der Kampfruf der ArbeiterInnenbewegung? «Aufstehn!» Es gibt kein Entkommen. Tröste dich - gegenüber den Arbeitszeiten im Frühkapitalismus oder den Sweatshops der Dritten Welt bist du noch ganz gut bedient. Also erinnerst du dich: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit, gehorchst und kriechst aus dem Bett. Heute Nacht darfst du ja wieder ein bisschen träumen. Und morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.


David Fischer-Kerli ist Soziologe und lebt in Heidelberg, Deutschland. Der vorliegende Text erschien zuerst in der «taz».