Dossier Generalstreik: 1918 begann auch das Reduitdenken

Nebst der Gründung des liberalen Bundesstaates 1847/48 war der Generalstreik eine der Wegmarken, die eine längerfristige und tief greifende Enwicklung von Staat und Gesellschaft signalisierten.

Allgemein misstraue ich den so genannt «historischen Momenten», da sie meist die Geschichtsperspektive stark verkürzen und längerfristige Interdependenzen und Strukturen ausblenden. Dennoch sehe ich zumindest zwei interessante grundsätzliche Wendepunkte der Geschichte der modernen Schweiz: 1847/48, die Gründung des liberalen Bundesstaates, und 1918/19, der Generalstreik und die reaktionäre Blockbildung im bürgerlichen System. Es handelt sich beide Male um Wegmarken, die eine längerfristige und tief greifende Enwicklung von Staat und Gesellschaft signalisieren. 1848 erhielt der männliche Teil des Schweizervolkes das allgemeine Stimmrecht und die modernen politischen Freiheiten. Dahinter stand auch die Utopie, dass das moderne liberale Staatswesen Fortschritt und Wohlstand bringe. Die progressivsten Kräfte des Freisinns, wie etwa der erste Berner Bundesrat Jakob Stämpfli, gingen noch weiter. Stämpfli schrieb am 4. Oktober 1848 in der Berner Zeitung:

«Jeder Mensch hat gleiches Recht auf möglichste Entwicklung und Anwendung der Fähigkeiten und auf verhältnismässigen Genuss ohne Rücksicht auf den Zufall der Geburt. Die Verwirklichung dieses Rechts ist der einzige Zweck des Staates. Alle auf die Gesellschaft gegründeten Rechte, z. B. das Eigentumsrecht, haben nur in bezug auf den Staatszweck Geltung.»

Damit nahm der freisinnige Bundesrat von 1848 eine Forderung des Generalstreiks von 1918 vorweg.

Das Programm des Generalstreiks, Bezug nehmend auf die schlimme soziale Notlage – ein Sechstel der Bevölkerung war armengenössig –, verlangte unter anderem soziale Gerechtigkeit, notfalls auch unter Modifizierung des Eigentumsrechts. In diesem Sinne gesehen war der Generalstreik eine Verfassungsbewegung, die den liberalen 1848er Staat in einen modernen sozialen Staat umzuwandeln trachtete. Im Gegensatz zu 1848 nahm jedoch die «Wende» eine gänzlich andere Richtung. Anstatt den progressiven, sozialen Kräften den Weg zu öffnen, reagierten die bürgerlichen Parteien mit einer regressiven Blockbildung, die der gesellschaftlichen und politischen Modernisierung der Schweiz über Jahrzehnte hinaus den Weg versperrte. Hier begann auch das engstirnige politische Reduitdenken, mit dem die Schweiz sich nicht nur einer geistigen Öffnung im Innern verschloss, sondern sich auch gegenüber dem Ausland als intransigenter Alpenhort abschloss. Das Einzige, was noch interessierte, war der Absatz von Waren und Kapital – «Ausland» bedeutete nicht mehr Gesellschaft oder Kultur, sondern nur noch Markt und Profit.

Zur kulturellen Umsetzung dieser intoleranten Perspektive diente nun nicht zuletzt die Geschichte des Generalstreiks. Es ist wohl noch nie ein Ereignis dermassen der politischen Propaganda unterworfen worden. Der Generalstreik diente ein halbes Jahrhundert lang zur Verketzerung eines Teils der politischen Schweiz, jener Männer und Frauen, die im Sozialismus eine – übrigens mehrheitlich durchaus demokratisch gemeinte - gesellschaftliche Alternative zum konservativen Blockdenken sahen. Diese Perzeption des Generalstreiks führte ausserdem zu einer schweren psychischen Deformation der Elite der bürgerlichen Mehrheit. Das Generalstreiksyndrom beherrschte bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus das sicherheitspolitische Denken von Armeeführung und Bundesrat. In den Köpfen der führenden Politiker dieser Zeit, die oft persönlich die gegen den Generalstreik von 1918 mobilisierten Truppen kommandiert hatten, vernebelten die schiefen Erinnerungen und die leidenschaftliche antisozialistische Propaganda eine klare Sicht auf das Schweizervolk. So bewirkte das selbst gezimmerte Gespenst des Generalstreiks eine weitgehende Paralysierung des gesellschaftspolitischen Innovationspotenzials der bürgerlichen Gesellschaft.

Aber auch die Linke hatte Mühe mit ihrem Generalstreik. Eingeschüchtert durch die permanente bürgerliche Schelte begann man, die Legitimität dieses Streikes anzuzweifeln. Im gleichen Masse, wie die Bürgerlichen aus dem Generalstreik eine aufgeblähte Gespenstergeschichte machten, versteckte die Linke ihren Streik verschämt in den Schubladen der Partei- und Gewerkschaftbüros. Dies war dem Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft wohl kaum sehr zuträglich.