Fahrende: Zwischen «Landstrasse» und Aktendeckeln

Nr. 23 –

Mit dem neuen Buch «Von Menschen und Akten - die Aktion ‹Kinder der Landstrasse›» liegt jetzt eine umfassende Darstellung zu einem düsteren Kapitel Schweizer Geschichte vor. Ein Gespräch über gesellschaftliche Vorurteile, Diskriminierung und bürokratische Missbräuche.


WOZ: Sara Galle, Thomas Meier, Claudia Kaufmann, die Figur Alfred Siegfried steht als Symbol für die Willkür und die Diskriminierung gegenüber Schweizer Fahrenden durch das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse». Was wissen wir heute über Siegfried selber?

Sara Galle: Er wurde 1890 in einer Luzerner Handwerkerfamilie geboren. Der Vater war Gürtlermeister und Metallwarenhändler. Eine protestantische Familie im katholisch dominierten Luzern. Ab 1918 war Siegfried Gymnasiallehrer in Basel. 1924 wurde er dort wegen unzüchtiger Handlungen mit einem seiner Schüler verurteilt. Seine Herkunft und seine sexuelle Ausrichtung vermittelten ihm wohl ein Gefühl davon, was es heisst, nicht der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Dennoch gelang es ihm, gesellschaftliches Ansehen zu erlangen. Von seinen Mündeln forderte er vor allem Anpassung und Unterordnung.

Klingt nach einem ziemlich bigotten Charakter.

Galle: Während des Verfahrens in Basel wurde Alfred Siegfried psychiatrisch begutachtet. Als Vormund ist er dann vom Begutachteten zum Begutachter geworden. Es war wohl auch der Machtgewinn, der ihn zu dieser Tätigkeit antrieb. Nicht erklären lässt sich damit allerdings, warum er als Vormund so wenig Verständnis für die Situation und das Verhalten seiner Mündel zeigte.

Thomas Meier: Siegfried heiratete und führte auf dem Papier ein intaktes Familienleben. Er konvertierte zum Katholizismus und verehrte offenbar ganz besonders den heiligen Franziskus. Das mag sein starkes Engagement erklären, aber auch den Umstand, dass er sich im Rahmen des «Hilfswerks» konsequent gegen die Sterilisation von jungen Frauen wehrte.

Warum konnte ein so einflussreiches «Hilfswerk» der Pro Juventute über mehrere Jahrzehnte von einer einzigen Person derart bestimmt werden?

Meier: Unter diesem «Hilfswerk» darf man sich nicht eine grosse Verwaltung vorstellen, es bestand faktisch aus Alfred Siegfried, einer Sozialarbeiterin und einer Schreibkraft.

Siegfried schrieb einmal: «Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will», also die fahrende Lebensweise, «muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen.» Dabei müsse die Familiengemeinschaft auseinandergerissen werden. Wieso stiess Siegfried mit seinem Vorhaben auf keinen Widerstand?

Meier: Viele Gemeinden waren mit ihren Fürsorge- und Armenlasten überfordert und deshalb froh, wenn ihnen wenigstens ein Teil der materiellen, aber auch psychischen Belastungen von Vormundschaften abgenommen wurde. Ausserdem galt Siegfried, da er unter dem Dach der angesehenen Pro Juventute agieren konnte, fast als amtliche Respektsperson. Vielerorts teilte man aber auch Siegfrieds Gedankengut. So rechtfertigten auch Gemeinden, in denen die Pro Juventute nicht wirkte, ihre eigenen Kindswegnahmen mit derselben Argumentation. Hier stellen wir einen breiten Konsens fest, der bis in die Wissenschaft hineinreichte.

Galle: Eine wichtige Rolle spielte die Psychiatrie - als Wissenschaft und als Institution. Die Psychiatrie ging davon aus, dass die jenischen Familien überdurchschnittlich mit «psychischen Anomalien» und «Schwachsinn» behaftet waren, welche sich auf die Kinder vererbten. Durch die Pathologisierung erfuhr das abweichende Verhalten der Mündel eine schlüssige und folgenreiche Deutung.

Die Aktion «Kinder der Landstrasse» war also gesellschaftlich breit abgestützt?

Galle: Das «Hilfswerk» fand vor allem Unterstützung bei Lehrern, Pfarrern und Frauen ländlicher Honoratioren. Neben dem Bund leisteten auch private Vereine und Firmen finanzielle Beiträge. Grundsätzliche Kritik am Vorgehen der Pro Juventute gab es kaum. Sie beschränkte sich auf wenige beteiligte Personen wie Anwälte, Nachbarn oder Fürsorgerinnen. Sie fanden die Kindeswegnahmen unmenschlich oder zweifelten die Rechtskonformität im Einzelfall an.

Meier: Der Stiftungsrat der Pro Juventute entsprach in dieser Zeit einem Querschnitt durch das Bürgertum. Der Stiftungskommissionspräsident, der die Geschäfte führte, war bis zu seinem Tod 1959 Oberstkorpskommandant Ulrich Wille, dessen Vater war General der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg. Im Stiftungsrat sassen Genfer Bankiers, Industrielle, Leute aus dem Sozialbereich, Politiker. Und auch immer ein Bundesrat.

Claudia Kaufmann: Nicht nur die zwangsweise Wegnahme der jenischen Kinder von ihren Familien entsprach damals einem breiten gesellschaftlichen Konsens, sondern auch die Einweisung vieler Kinder in repressive Heime, Arbeits- und Erziehungsanstalten oder psychiatrische Kliniken. Der Zwangscharakter dieser Anstalten und die Institutionen selbst wurden bis Anfang der siebziger Jahre nur von Einzelnen hinterfragt und laut kritisiert. Es ist wohl kein Zufall, dass das Ende des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse»1973 kam - nachdem mit 1968 eine grundlegende Debatte über das Schweizer Heimwesen angerissen worden war.

Das Ende der «Kinder der Landstrasse» ist also Ausdruck eines gesellschaftlichen Reformprozesses?

Meier: Ja. Es gab zwar schon früher kritische Stimmen. Eine der ersten war der Schriftsteller Carl Albert Loosli, der im Buch «Anstaltsleben» seine eigenen Heimjahre beschrieb. In den vierziger Jahren besuchten dann Peter Surava, damals Reporter der linken Wochenzeitung «Die Nation», und der Fotograf Paul Senn die Anstalt Sonnenberg bei Kriens und deckten dort Missstände auf, was zur Schliessung der Anstalt führte ...

Galle: ... Alfred Siegfried sass übrigens in der dortigen Aufsichtskommission. Die Pro Juventute engagierte sich in der Folge für Reformen im Anstaltswesen ...

Meier: ... die Debatte über die «Anstaltskrise» verlief aber rasch im Sand. Erst die siebziger Jahre führten zu grundlegenden Veränderungen im Schweizer Heimwesen.

Was wurde in den siebziger Jahren konkret kritisiert?

Kaufmann: Das Selbstverständnis und die äusserst repressive Praxis dieser Institutionen, die mit einem angeblich pädagogischen Auftrag agierten, wurden jetzt grundsätzlich hinterfragt. Das fing bei den Kinder- und Jugendheimen an, betraf aber ebenso den Strafvollzug wie auch das materielle Jugend- und Erwachsenenstrafrecht.

Galle: Die Rechte des Individuums wurden höher gewichtet. Gleichzeitig sank die Autoritätsgläubigkeit gegenüber Institutionen wie der Pro Juventute. Insbesondere die Medien sahen sich durchaus auch als kritische Instanz und liessen sich nicht mehr mit allgemeinen Antworten abspeisen.

Kaufmann: Generell ging es darum, die Rechte der Betroffenen einzufordern - unabhängig vom Grund ihrer Einweisung in eine Institution. Es fand ein regelrechter Paradigmenwechsel statt, ein Aufbruch.

Die Betroffenen konnten ihre Akten erst ab 1989 einsehen. Wie reagierten die ehemaligen «Kinder der Landstrasse» damals?

Kaufmann: Viele wollten die Akten anfangs vernichten, weil sie fürchteten, es könnte damit weiterer Schaden angerichtet werden. Andere studierten die Akten akribisch. Die Jenischen wiesen aber auch auf die noch immer schwierigen Lebensbedingungen der Fahrenden hin und forderten konkrete Verbesserungen. Es gab auch das Bedürfnis, die Darstellungen in den Akten zu korrigieren und Gegenbeweise zu erbringen.

Galle: Einige Betroffene brachten ihr Schicksal lange Zeit gar nicht mit dem «Hilfswerk für Kinder der Landstrasse» in Verbindung. In mehreren Fällen übernahm Siegfried die Vormundschaft nur für einige Jahre. Danach wurden die Jugendlichen beispielsweise von einem Vormund aus ihrer Heimatgemeinde betreut. So gab es in ihren Erinnerungen keine Hinweise auf das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse». Erst die öffentlich geführte Debatte seit Anfang der siebziger Jahre machte ihnen klar, warum sie nicht bei ihren Eltern aufwachsen durften.

Sie mussten also aufgrund der Akten gewissermassen ihre eigenen Lebenserinnerungen umschreiben?

Meier: Ja, dieses Phänomen lässt sich beispielsweise auch im Zusammenhang mit den deutschen Stasi-Akten feststellen. Viele Betroffene sind an dieser Konfrontation mit ihren eigenen Akten richtiggehend zerbrochen, weil sie sich plötzlich mit einem Zerrbild von sich selber konfrontiert sahen, das mit ihrer eigenen Wahrnehmung nicht im Geringsten übereinstimmte.

Wie können mausgraue, vermeintlich langweilige Akten für das Leben Einzelner so bestimmend werden?

Kaufmann: Durch das Anlegen von Akten können inhaltliche und begriffliche Wertungen vorgenommen werden, die die Betroffenen individuell und gesellschaftlich diskreditieren und diskriminieren. Diese Begriffe entwickeln sich zu vorurteilsbeladenen Bildern, die sich verselbstständigen und dann ein ganzes Menschenbild prägen, losgelöst von irgendeiner Faktenlage. Bei solchen Stigmatisierungen müssen wir zwischen Akten, die relevante Handlungen und Prozesse abbilden - beispielsweise psychiatrische Gutachten, Dossiers zur Sozialhilfe oder Gerichtsakten -, und spezifischen Akten unterscheiden. Bei Akten, die im Rahmen einer bestimmten Kartei gesammelt werden, stellt bereits die Tatsache, dass überhaupt Daten gesammelt werden, ein Stigma dar, auch wenn der Inhalt der Akten aus rein «objektiven» Informationen besteht: etwa bei den legendären Fichen, den Karteien über legale Schwangerschaftsabbrüche oder Homosexualität, die verschiedene Kantone bis in die achtziger Jahre hinein führten.

Was macht Akten für Historiker interessant?

Meier: Grundsätzlich bilden Akten Vorgänge und Prozesse ab und nicht einfach nur einen Status, einen Moment, wie etwa eine Urkunde. Bei unserer historischen Aufarbeitung der Aktion «Kinder der Landstrasse» ging es uns um genau solche Prozesse der Stigmatisierung von Menschen beziehungsweise einer ganzen Minderheit durch Akten.

Wie funktionierte diese Stigmatisierung im Falle der Aktion «Kinder der Landstrasse» konkret?

Meier: Wir konnten nachzeichnen, wie bestimmte Stigmata fortgeschrieben werden, indem aus anderen Akten abgeschrieben wurde. So entstanden aus einem Verdacht mit der Zeit Gewissheiten und Tatsachen. Dann werden die Stigmatisierungen kumuliert: Plötzlich ist jemand, der «dumm» ist, auch «frech», und er «stiehlt» - am Ende wird generalisiert, und eine Person wird voll und ganz zu ihrem Stigma. Dann werden die Akten beispielsweise Psychiatern in Kliniken weitergegeben, wo mit ihnen Gutachten geschrieben werden. Die Stigmata werden erneut abgeschrieben und verfestigt.

Gibt es eigentlich auch in der Gegenwart soziale Konflikte, in denen ähnliche Muster der Stigmatisierung eine Rolle spielen können?

Galle: Das Anlegen von Akten geschieht insbesondere im Rahmen von Problembewältigungen und Konfliktlösungen. Im Zusammenhang mit der Debatte über Jugendgewalt ist heute viel von Prävention die Rede. Es gibt in Kindergärten Tendenzen, etwas überspitzt formuliert, jedes Kind zu erfassen, um seine Persönlichkeitsstruktur auf kriminelle Veranlagungen hin zu untersuchen. Das ist sehr heikel, und es stellt sich die Frage, ob das Erheben solcher Daten überhaupt sinnvoll ist. Die Gefahr von Stigmatisierungen und Diskriminierungen ist hier gross.

Kaufmann: Bei polizeilich erhobenen Daten beispielsweise stellt sich die Frage: Was passiert mit unnötigerweise oder mit nicht rechtmässig erhobenen Daten? Können sie gelöscht werden? Es gehört zur Sorgfaltspflicht der Behörden, diese Frage jeweils im Vorfeld zu prüfen und entsprechend vorsichtig zu behandeln.

Also ist es viel einfacher, Akten zu produzieren, als sie wieder loszuwerden?

Kaufmann: Sicher. Als Juristin, die der Verwaltung nahesteht, würde ich jedoch grundsätzlich sagen: glücklicherweise! Oft habe ich als Bürgerin nur dank der Schriftlichkeit - dem Vorhandensein von Akten über mich - überhaupt die Möglichkeit, von staatlichem Handeln zu erfahren und mich anschliessend dagegen zu wehren. Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit und die Transparenz staatlichen Handelns verlangen eine korrekte Aktenführung.

Akten suggerieren Objektivität. Auch damit sind Gefahren der Stigmatisierung verbunden. Wie gehen SachbearbeiterInnen heute mit dieser Eigenschaft ihres Arbeitsinstrumentes um?

Kaufmann: Wir müssen uns fragen, was Objektivität bedeutet. Hinter angeblich objektiven Formulierungen können versteckte Wertungen stecken. Für gewisse Entscheide sind aber gerade Bewertungen erforderlich: Wann hat jemand Anspruch auf eine Leistung? Werden die Voraussetzungen für eine Unterstützung erfüllt? Das ist ein Dilemma in der Aktenführung.

Wie lösen Aktenanleger und Sachbearbeiterinnen dieses Dilemma?

Kaufmann: Sie müssen sich bemühen, subjektive Wahrnehmungen und Interpretationen, die in die Aktenführung einfliessen, zu signalisieren. Akten werden allerdings immer innerhalb eines Systems, innerhalb einer rechtlichen Logik angelegt: Die Frage ist dann, wie ich als AktenanlegerIn die weiterlaufenden Prozesse beeinflussen will und kann.

Können Sie Aktenmissbräuche wie jene der «Aktion der Kinder der Landstrasse» heute grundsätzlich ausschliessen?

Kaufmann: Nein, es wird nie eine Garantie gegen Missbrauch geben, weder bei der Aktenanlage noch bei der Aktennutzung - obwohl heute die Sensibilität im Umgang mit Akten sehr viel grösser ist als vor vierzig Jahren. Es können immer Fehlentscheide gefällt werden: Dazu braucht es keineswegs böse Absichten. Dies kann aus falschen Beurteilungen heraus, aufgrund mangelnden Wissens oder fehlender Sensibilität passieren.

Sozialdetektive, Hooligandatenbanken, Schengen und Biometrie. Stehen wir staatlicher Kontrolle und Einflussnahme auf Privatsphären nicht auch heute allzu unkritisch gegenüber?

Kaufmann: Sicher stellt sich die Frage nach Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit überall da in besonderem Masse, wo mit staatlichem Druck gewisse Formen von Anpassungsleistungen gefordert werden. Erst recht dort, wo wir solche Forderungen nach «Integration» per se positiv besetzen und nicht hinterfragen. Dabei sollten wir uns wieder verstärkt fragen, wie sehr wir es aushalten können und müssten, dass sich gewisse Menschen immer wieder den gesellschaftlichen Normvorstellungen widersetzen und ihr Leben nach eigenen Werten ausrichten. Wir messen die gesellschaftliche Integration einer Minderheit oft an deren mehrheitsfähigem Verhalten. Das muss nicht per se schlecht sein. Aber ist es effektiv das einzig relevante Kriterium? Wichtig scheint mir, dass die Auseinandersetzung mit diesem Spannungsverhältnis öffentlich geführt wird - mit vielen offenen Fragen und weniger vorgefassten Behauptungen.




Das Hilfswerk von Pro Juventute

Zwischen 1926 und 1973 wurden von der Pro Juventute 586 jenische Kinder aus ihren Familien gerissen, in Heime gesteckt oder in Pflegefamilien parkiert (siehe WOZ 5/09). Im Juni 1923 machte der Tessiner Bundesrat Giuseppe Motta die Pro Juventute auf fahrende Familien im Tessin aufmerksam, die in «misslichen Bedingungen» lebten. 1924 schuf der Kanton Graubünden als erster und einziger Kanton eine staatliche «Vagantenfürsorge».

1926 erwähnte der Mitarbeiter des Zentralsekretariats der Pro Juventute, Alfred Siegfried (1890-1972), erstmals in verschiedenen Zeitungen das neue «Hilfswerk». Sein Ziel sei die Bekämpfung der Vagantität und das Gewöhnen fahrender Kinder an eine sesshafte Lebensweise sowie an geregelte Arbeit. Bis zu seiner Pensionierung war Siegfried die dominante Figur im «Hilfswerk». Er stellte das Aktenmaterial zusammen, welches die Vormundschaftsbehörden zu den Wegnahmen der Kinder aus ihren fahrenden Familien bewegen sollte. Und nahm als privater Vormund die allermeisten Mündel in seine persönliche Erziehungsgewalt.

1967 publizierte der «Schweizerische Beobachter» erstmals einen kritischen Bericht zum «Hilfswerk der Kinder der Landstrasse». Unter grossem öffentlichem Druck stellte die Pro Juventute das «Hilfswerk» 1973 schliesslich ein.

Der Bund und die Heimatlosen

Ab 1848 propagierte der moderne Schweizerische Bundesstaat die Rechtsgleichheit seiner Bürger. Dabei sollte auch die «Heimatlosenfrage» ein für alle Mal gelöst werden. Umherziehende wurden zur Sesshaftigkeit gezwungen und erkennungsdienstlich erfasst. Die man für SchweizerInnen hielt, wurden eingebürgert, die anderen stellte man an die Grenze. Um der vom Bundesrat diagnostizierten «Zigeunerplage» Einhalt zu gebieten, wurden ab 1913 aus dem Ausland ankommende Fahrende sofort verhaftet, in Fichen registriert und interniert. Nach 1945 war die Schweiz das einzige europäische Land, das eine solche Grenzsperre für Fahrende aufrechterhielt. Erst 1972 wurde diese Praxis offiziell eingestellt.

Die Gesprächspartnerinnen

Sara Galle (36) Ko-Autorin des Buches «Von Menschen und Akten». Projektmitarbeiterin im Nationalen Forschungsprogramm 51 «Integration und Ausschluss» (NFP 51), in dessen Rahmen das genannte Buch erschien. Studierte an der Universität Zürich Geschichte und Germanistik und war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar tätig. Sie schreibt eine Dissertation zum «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse».

Thomas Meier (56) Ko-Autor des Buches «Von Menschen und Akten». Projektleiter im NFP 51. Promovierte in Geschichte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Zürich und Geschäftsführer der Beratungsstelle für Landesgeschichte.

Claudia Kaufmann (52) ist Ombudsfrau der Stadt Zürich. Die Ombudsstelle vermittelt bei Konflikten zwischen BürgerInnen und der Stadtverwaltung. Sie war von 1996 bis Anfang 2003 Generalsekretärin im Departement des Innern und auf Departementsebene die Ansprechperson für die verschiedenen Jenischen- und Fahrenden-Organisationen. In dieser Funktion organisierte sie die Übergabe der Akten zu den «Kindern der Landstrasse» der Kantone ans Bundesarchiv mit. Als Bundesvertreterin Mitglied des Leitungsausschusses des NFP 51.

Sara Galle, Thomas Meier: «Von Menschen und Akten. Die Aktion ‹Kinder der Landstrasse› der Stiftung Pro Juventute». Chronos Verlag. Zürich 2009. 244 Seiten. 38 Franken.