Linke Ethik (Teil 3): «Institutionen sind nicht besser – und meist auch nicht schlechter – als ihr soziales und politisches Umfeld.»

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Wer bestimmt, was für andere gut ist? Diese Frage stellt sich verschärft für Institutionen, die sich Schutzbedürftiger annehmen, wie Altersheime oder die Psychiatrie. Ihre praktische Ethik muss sich häufig im gestressten Alltag entwickeln.

Das Verhältnis zwischen Institution und Moral ist kompliziert. Die Geschichte zeigt, dass diese soziale Organisationsform die Menschlichkeit und die Unmenschlichkeit gleichermassen herausdestilliert. Und nicht selten bringt die gleiche Institution – man denke etwa an Kirche oder Schule – sowohl grosse Nächstenliebe wie auch unglaubliche Menschenverachtung hervor.

Wenn Institutionen mit hohem ethischem Anspruch «sündigen», reagieren wir besonders heftig, weil wir von ihnen mehr und Besseres erwarten als von einer rein merkantilen oder militaristischen Organisation. Die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche oder das rassistische Programm «Kinder der Landstrasse» der halbstaatlichen Stiftung Pro Juventute zum Beispiel haben diese «gemeinnützigen» Institutionen im Kern getroffen und deren Wahrnehmung nachhaltig verändert. Denn fehlbar geworden sind in beiden Fällen nicht bloss ein paar schwarze Schafe in einer ansonsten makellosen Lämmerherde. Versagt hat auch die Institution als Ganzes – sowie ihr gesellschaftliches Umfeld.

Im Fall der Pro Juventute heisst das: Alfred Siegfried, Gründer von «Kinder der Landstrasse», war selber ein ziemlich finsterer Gesell, wurde er doch wegen sexuellen Missbrauchs eines Schülers verurteilt und aus dem Schuldienst entlassen, bevor ihm die Pro Juventute 1924 die Vormundschaft für Hunderte von Kindern anvertraute. Er war ein Konformitätsfanatiker. Ihm – und damit der Institution Pro Juventute – war jedes Mittel recht, auch die Zerstörung von Familien durch Kindesentzug, um die «Vagantität», wie er die Kultur der Roma, Sinti und Jenischen nannte, zu bekämpfen. Diese rassenhygienische Idee passte allerdings auch zu den damaligen Moralvorstellungen. Die bürgerliche Schweiz glaubte zum Teil tatsächlich, Gutes zu tun, wenn sie Geld spendete, damit die Kinder der «Zigeuner» in «normalen sesshaften Verhältnissen» aufwachsen konnten. Erstaunlich ist von heute aus gesehen, dass sich das umstrittene Pro-Juventute-Programm bis 1972 halten konnte.

Andererseits wurden unverheiratete Mütter wie ich vom Schweizerischen Sozialstaat noch Ende der siebziger Jahre als «abnormal» eingeschätzt. Als Ledige musste ich, wenn ich mein Kind behalten wollte, erst meine Fähigkeit als Erziehungsperson unter Beweis stellen. Auch hier war die Definition von Kindeswohl oder Kindesschutz von gesellschaftlichen Vorurteilen geprägt.

Fürsorge und Selbstbestimmung

Und heute? Die Sitten haben sich gelockert, der rechtliche Rahmen hat sich der gelebten Vielfalt etwas angepasst (neues Ehe- und Kindesrecht). Die Sozialhilfe ist professionalisiert worden (neuer Kindes- und Erwachsenenschutz). Trotzdem stehen gesellschaftliche Institutionen – dazu zähle ich auch NGOs, soziale Bewegungen und politische Parteien – vor dem gleichen Dilemma wie ehedem: Wer bestimmt, was gut ist für andere? Die Frage stellt sich umso schärfer, je abhängiger, schutzbedürftiger oder urteilsunfähiger die Betroffenen sind. Kinder und Alte, Menschen mit physischer oder psychischer Beeinträchtigung und schwerkranke PatientInnen sind institutionellen Entscheiden – und auch Zwängen – besonders ausgeliefert.

Altersheime, Spitäler und die Psychiatrie gehören denn auch zu denjenigen Einrichtungen, die für heikle Entscheide häufig ethische Beratung von aussen beiziehen. Die herbeigerufenen Ethikfachleute definieren das Grundproblem vor Ort meist als Konflikt zwischen der Fürsorgepflicht der Institution («Gutes tun») und dem Selbstbestimmungsrecht der KlientInnen, die ihr Recht auf Autonomie oft nicht selber einfordern können. Die Erkenntnis, dass es hier mindestens zwei Güter abzuwägen gilt, nämlich den Willen der Institution und den Willen der KlientInnen, ist ethisch ein Riesenschritt in die richtige Richtung – weg von der «Kinder der Landstrasse»-Gesinnung. Weg von einer Fürsorglichkeit, die die Schutzbefohlenen zu einem fremdbestimmten Glück zwingt.

Und wie passiert diese Güterabwägung im oft gestressten institutionellen Alltag? Um zufällige oder gar missbräuchliche Entscheide zu vermeiden, werden vielerorts mehr oder weniger detaillierte und praxistaugliche ethische Verhaltensrichtlinien zusammengestellt. Zudem werden die Mitarbeitenden in gewissen Abständen zu Ethikkursen aufgeboten. Institutionalisiert und gestärkt werden soll durch solche Massnahmen ein verfeinertes Bewusstsein der Mitarbeitenden für heikle Entscheide, die sie aus ihrer relativen Machtposition gegenüber den KlientInnen treffen. Wichtig ist auch die Umsetzung und Erweiterung der hippokratischen Tradition vom Medizinischen ins Soziale: erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein und erst drittens heilen beziehungsweise helfen. Und schliesslich braucht es mehr Transparenz, bessere Verständigung und eingebaute Überprüfung oder Supervision bei allen ethisch schwierigen Entscheiden.

Das tönt alles etwas abstrakt. Die Institutionen führen keine saftige Debatte über ethische Gesinnung, sondern bemühen sich um eine institutionelle Verfahrensethik: wie die Mitarbeitenden einer Institution ethisch schwierige Entscheide finden, fällen, kommunizieren und allenfalls korrigieren.

Weg vom «Erziehungszwang«

Doch was ist nun mit den Werten und der Gesinnung der Mitarbeitenden und der KlientInnen? Die institutionellen Positionspapiere verweisen allenfalls auf die Uno-Menschenrechte. Genauer mag man sich gesinnungsmässig nicht mehr festlegen. Eine befreundete Pflegeperson gibt mir schliesslich ein paar hilfreiche Hinweise auf die gelebten Werte an ihrem Arbeitsort, einem Heim für Menschen mit Demenz: Nach Möglichkeit wird auf die Lebenseinstellung aller Betroffenen Rücksicht genommen. Massgebend sind letztlich die Werte einer offenen, aufgeklärten Gesellschaft (also keine sturen Dogmen und Ideologien). Lebensbereich ist die westliche Kultur.

Noch etwas kommt in diesem Gespräch über die praktische Ethik zur Sprache: wie wichtig es für eine Institution ist, die Grundsituation ihrer KlientInnen zu akzeptieren und die Menschen so anzunehmen, wie sie sind. Vielleicht ist es im Umgang mit AlzheimerpatientInnen einfacher, sich vom «Erziehungszwang» zu befreien, als in der Sozialhilfe, die Ausgesteuerte oder Suchtbetroffene betreut, die in die Arbeitswelt reintegriert werden sollen. Oder gar in den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden Kesb, die daraufhin angelegt sind, die (familiäre) Situation von Kindern zu verändern und zu verbessern. Und doch gehört der Respekt vor der andern Person, so wie sie ist und nicht bloss, wie sie sein sollte, zur ethischen Herausforderung jeder gesellschaftlichen Institution.

Aber Institutionen sind nicht besser – und meist auch nicht schlechter – als ihr soziales und politisches Umfeld. In etlichen Bereichen, darunter die Altenpflege und die Psychiatrie, hat sich die schweizerische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten geöffnet. In andern Gebieten, etwa in der Sozialhilfe oder im Asylbereich, ist die gesellschaftliche Stimmung eher wieder selbstgerechter und ausgrenzender geworden. Die jeweiligen Institutionen spiegeln diese Entwicklungen wider. Und das nicht zuletzt, weil ihre Finanzierung vom politischen Klima abhängig ist. Letztlich bestimmen wir alle, wie viel Professionalität, Zeit, Sorgfalt und letztlich Menschlichkeit die Institutionen ihren KlientInnen, also uns, geben können.

… dann kommt die Moral

Oft wird auch unter Linken behauptet, die Moral folge erst nach der Erfüllung materieller Grundbedürfnisse. In einer losen Reihe von Essays untersucht WOZ-Autorin Lotta Suter, wie Entscheide in Politik, Wirtschaft und Kultur von moralischen und ethischen Prämissen geleitet werden.