Bankendeal, Bilaterale, AHV: «Die Demografie soll den Leuten Angst einjagen»

Nr. 27 –

Gewerkschaftschef und SP-Ständerat Paul Rechsteiner wittert im politischen Durcheinander neuen Spielraum. Und er erklärt, wie die Gewerkschaften die Auseinandersetzungen um die Altersvorsorge und die Personenfreizügigkeit gewinnen wollen.

WOZ: Herr Rechsteiner, anders als die Mehrheit Ihrer Partei haben Sie für den Bankendeal mit den USA gestimmt. Zudem kritisieren Sie die Rentenpläne Ihres Bundesrats Alain Berset scharf. Stehen Sie in Opposition zu Ihrer Partei?
Paul Rechsteiner: Ich bilde mir meine Meinung unabhängig, mit einem stark gewerkschaftlichen Fokus. Die Gewerkschaften stehen für die Verteidigung der Renten. Ich bin mit der Kampagne «Gute Löhne, gute Renten und Menschenrechte für alle» in den Ständerat gewählt worden, dem fühle ich mich verpflichtet.

Beim Bankgeheimnis ist in dieser Session etwas ins Rutschen geraten, was während siebzig, achtzig Jahren undenkbar war: Der 14. Juni 2013 mit der bundesrätlichen Wende zum automatischen Informationsaustausch ist ein historisches Datum. Das Bankgeheimnis als Steuerhinterziehungsgeheimnis ist nicht mehr haltbar. Die Aufhebung des Bankgeheimnisses gegenüber den USA wäre ein notwendiger Teil dieser Wende gewesen. Die Banken hätten damit die Folgen ihrer Missbräuche kontrolliert in Ordnung bringen können.

Eine Mehrheit Ihrer Partei sah das anders, gewichtete rechtsstaatliche Prinzipien höher.
Rechtsstaatlich ist ein Bankgeheimnis, mit dem andere Staaten beschissen wurden, sowieso fragwürdig. Demokratiepolitisch sprach alles für das Gesetz. Der Bundesrat unter Federführung von Eveline Widmer-Schlumpf hat die Konsequenzen aus dem demokratischen GAU bei der UBS-Rettung gezogen. Damals hatte das Parlament zur grössten Staatsausgabe aller Zeiten nichts zu sagen.

Die Linke hat Ihrer Meinung nach also eine einmalige Chance verpasst?
Die Chance ist weg, aber das Spiel geht weiter. Es ist wie im Fussball: Die Partei- und Fraktionsleitung hat sich verdribbelt, aber sie wird wieder ins Spiel finden. In der Grundhaltung sind wir uns einig: Die Linke hat eine starke Tradition in der Politik der Steuerehrlichkeit.

War beim Bankendeal die Geschwindigkeit der Beratung ein Problem? Es war von Erpressung seitens der USA die Rede.
Dieses Tempo ist eine Folge der Borniertheit der Finanzplatzakteure. Der ehemalige Finanzminister Hans-Rudolf Merz lässt grüssen. Er hat herausposaunt, das Ausland werde sich am Bankgeheimnis die Zähne ausbeissen. Dabei war seit Ausbruch der Finanzkrise absehbar, dass es nicht mit der Beihilfe zur systematischen Steuerhinterziehung weitergeht. Mit dem Wort «Erpressung» versucht die SVP noch einmal, das Bankgeheimnis hyperpatriotisch aufzuladen, als Teil der nationalen Identität zu verklären. Ein trauriges Schweizbild.

Wir haben den Eindruck einer neuen politischen Unübersichtlichkeit. In der Mitte sind neue Parteien entstanden, die Wirtschaftsverbände stecken in einer tiefen Krise. Haben Sie den Eindruck, die Art des Politisierens hat sich verändert?
Darüber lohnt es sich nachzudenken. Vieles ist labil geworden. Die Bankiervereinigung und Economiesuisse, die politischen Agenten des Finanzplatzes, sind deroutiert. Die Bankiervereinigung ist nicht einmal mehr in der Lage, eine Politik zu formulieren. Unter den Finanzministern Kaspar Villiger und Hans-Rudolf Merz hatten sie die Politik regelrecht kolonisiert, mit direkten Anweisungen ins Finanzdepartement. Das war früher unter Otto Stich nicht so, und das ist heute bei Eveline Widmer-Schlumpf nicht mehr so.
Auch unter den Parteien herrscht Verwirrung. Drei von vier der grossen Bundesratsparteien haben beim US-Deal den Bundesrat mit diametral entgegengesetzten Positionen bekämpft.

Sie politisieren also im Nebel?
Nein, diese Nervosität und Labilität macht das Politisieren auch sehr interessant. Es passiert viel Unvorhersehbares. Im Ständerat, wo die Linke so stark ist wie noch nie, entsteht neuer Spielraum. Aus dem Ständerat sind arbeitsrechtliche Fortschritte gelungen, etwa die Sozialplanpflicht für grössere Unternehmen oder die Solidarhaftung. Hier ist die SVP ein Randphänomen, im Nationalrat funktioniert Herrliberg nach wie vor. FDP und SVP haben aber keine Mehrheit. Beim US-Deal gab wie gesehen die SP den Ausschlag.

Ein wichtiges Thema der nächsten Jahre wird die Rentenreform, die Sie kritisieren. In 15 von 27 EU-Staaten sind Rentenaltererhöhungen geplant oder in Kraft gesetzt. Ignorieren Sie die demografische Entwicklung?
Das demografische Argument ist eine ideologische Waffe, um den Menschen Angst einzujagen. Das Argument unterstellt, dass es negativ ist, wenn die Lebenserwartung steigt. Deshalb müssten die Renten verschlechtert werden. Effektiv ist es umgekehrt: Eine höhere Lebenserwartung ist der Spiegel einer positiven wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung.
Klar müssen die Renten finanziert werden. Aber es ist schliesslich gerecht, wenn ein Teil des Fortschritts für die Finanzierung der Renten der unteren und mittleren Einkommen statt zur Bereicherung der Reichen eingesetzt wird.

Bundesrat Berset will keine Rentenaltererhöhung, aber mit moderaten Vorschlägen das prognostizierte Defizit von 8,6 Milliarden Franken bekämpfen.
Moderat im Vergleich zu seinen beiden Vorgängern, ja. Aber auch seine Vorschläge bleiben in der Logik des Sozialabbaus. Positiv ist, dass Alain Berset die AHV und die Pensionskassen gemeinsam betrachtet. Die geplante Rentensenkung bei den Pensionskassen ist für die grosse Mehrheit der Bevölkerung negativ wie auch die sogenannte Schuldenbremse für die AHV. Wenn das durchkommt, kann der Bundesrat an Volk und Parlament vorbei Rentenverschlechterungen beschliessen, das ist eine Entdemokratisierung.

Trotzdem, das Defizit bleibt im Raum.
Die Prognosen haben sich bisher alle als falsch erwiesen. Die Lohnbeiträge für die AHV wurden seit 1975 nie erhöht, obwohl sich die Zahl der Rentnerinnen und Rentner mehr als verdoppelt hat. Nur einmal, Ende der neunziger Jahre, kam ein Mehrwertsteuerprozent dazu. Das zeigt, wie leistungsfähig die AHV-Finanzierung ist. Beim prognostizierten Defizit geht es um etwas anderes, um eine versteckte Agenda: Der Bund will sich aus der AHV-Finanzierung stehlen. Heute beteiligt er sich aus dem allgemeinen Haushalt mit rund zwanzig Prozent an den AHV-Ausgaben. Die Lücke soll neu über zusätzliche Mehrwertsteuerprozente finanziert werden. Der Plan ist offensichtlich: mit den frei werdenden Mitteln Steuersenkungen wie bei den Unternehmenssteuern ermöglichen.

Der Gewerkschaftsbund verlangt mit seiner AHV-plus-Initiative eine generelle Rentenerhöhung von zehn Prozent. Heben Sie vom Boden der Realität ab?
Im Bundeshaus, auch in den Medien, empfindet man eine solche Forderung natürlich als Provokation, jetzt, wo es der AHV angeblich so schlecht geht. Aber die AHV-Renten hinken seit langem der Lohnentwicklung hinterher. Es gibt einen Nachholbedarf. Die sogenannt einfachen Leute verstehen das sehr wohl. Eindrücklich sind zum Beispiel die Versammlungen der Eisenbahner. Gegen die Finanzierungsangst braucht es Aufklärungsarbeit. Die Finanzierung der AHV, das Umlageverfahren, ist hundeeinfach, geradezu genial: Alle bezahlen auf den ganzen Lohn Beiträge, es gibt also eine unbeschränkte Beitragspflicht, auch für Millionäre, aber sie bekommen keine höhere Rente als die Mehrheit. Das ist so solidarisch wie effizient. Bei der Stärkung oder Schwächung der ersten Säule geht es um eine Frage der Verteilung zwischen oben und unten, nicht um einen Gegensatz von Jung und Alt.

Weniger genial ist das Zwangssparen bei den Pensionskassen. Es treibt die Spekulation an, etwa auf dem Immobilienmarkt.
Zugegeben: Die zweite Säule ist wegen der tiefen Zinsen unter Druck, aber das rechtfertigt keine Senkung des Umwandlungssatzes, die für einen Schreiner oder eine Pflegefachfrau eine Rentensenkung von 200 Franken mit sich bringen würde. Die Erfahrung lehrt, dass im langen Zyklus die Zinsen auch wieder einmal steigen werden.

Sie fordern eine nachhaltige Finanzmarktpolitik, gleichzeitig hoffen Sie auf einen Börsenboom. Das ist doch ein Widerspruch.
Die Börse boomt bereits. Die wirtschaftliche Realität ist einfach, dass weiter produziert wird, die Leute weiter arbeiten und Geld verdienen. Es wäre verantwortungslos, darauf zu setzen, dass alles abwärtsgeht. Rentensenkungen bei den Sozialversicherungen führen nur dazu, dass die Verteilung noch ungleicher wird. Aber gewiss, die Zukunft liegt in der Stärkung des Umlageverfahrens. Darum unsere Initiative.

Zu reden geben werden auch die Masseneinwanderungs- und die Ecopop-Initiative sowie die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien. Wo stehen die Gewerkschaften?
Wir haben die Ausgangslage gründlich analysiert. Unsere Delegierten sind zum Schluss gekommen, dass der Schlüssel auch in Zukunft nicht bei der Bekämpfung der Zuwanderung, sprich der Immigrantinnen und Immigranten liegt, sondern beim Schutz der Löhne durch wirksame flankierende Massnahmen. Die Bilateralen sind gut, aber sie müssen sich für die Leute auszahlen, beispielsweise durch Mindestlöhne im Dienstleistungssektor.

Sie haben bereits Ihre Parteikollegin Simonetta Sommaruga kritisiert, als sie die Ventilklausel angerufen hat. Nehmen Sie die Sorgen der Bevölkerung nicht ernst?
Auch in dieser Frage dürfen wir uns nicht verwirren lassen. Wenn wir zu einem Kontingentierungssystem zurückkehren, gibt es wieder zwei Kategorien in der Belegschaft: die Inländerinnen und Inländer, die sich wehren können, und die Immigrantinnen und Immigranten, die keine Rechte haben und die zu allem Ja und Amen sagen müssen, damit die Fremdenpolizei ihre Bewilligung verlängert. Diese Spaltung der arbeitenden Menschen hat allen geschadet.
Es ist übrigens interessant, dass sowohl die Demografie wie die Zuwanderung bevölkerungspolitische Argumente sind: Sie zählen bloss die Köpfe. Besser sind klare Köpfe.

Paul Rechsteiner

Der Sozialdemokrat Paul Rechsteiner (60) politisiert seit 27 Jahren im Bundeshaus. Bei den letzten Wahlen sorgte er für Aufsehen, als er in St. Gallen gegen SVP-Präsident Toni Brunner in den Ständerat gewählt wurde.
Rechsteiner ist Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Die Gewerkschaften rufen am 21. September zu einer Rentendemo in Bern auf.