Die «Masseneinwanderungsinitiative» und die SP: «Bewegungspolitisch haben wir das verschlafen»

Nr. 35 –

Nach der Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative» kündigte die SP einen Konfrontationskurs an. Doch will sie die Bilateralen retten, braucht es mehr Mut.

Und noch eine Runde auf dem Karussell. Dem Bundesrat bleiben nur noch wenige Monate, um die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative (MEI) der SVP umzusetzen. Weil Brüssel auch zweieinhalb Jahre nach der Annahme der Initiative nicht mit der Schweiz verhandelt, hat er nun eine «härtere Gangart» angekündigt. Die staatspolitische Kommission des Nationalrats bastelt derweil an einer EU-verträglichen Minimalumsetzung der Initiative: Firmen müssten ihre offenen Stellen künftig den regionalen Arbeitsämtern melden; so soll geklärt werden, ob eine Stelle durch InländerInnen besetzt werden kann, bevor ausländische Arbeitskräfte in die Schweiz geholt werden.

Was selbst für linke Ohren vertretbar tönt, ändert jedoch nichts daran, dass auch diese Lösung nur einen Aufschub bedeutete: Es ist nicht klar, ob die EU einen solchen Inländervorrang akzeptieren würde oder ob die SVP das Referendum ergreift, wenn das Parlament die Initiative nicht wortgetreu umsetzt. Vieles deutet darauf hin, dass es kommenden Frühling zu einer erneuten Grundsatzabstimmung kommt. Wollen die SozialdemokratInnen diesen Abstimmungskampf gewinnen, müssen sie aus der taktiererischen Logik herausfinden, in der sie seit Jahren stecken und die mit dazu beitrug, dass sie die Abstimmung gegen die MEI verloren.

Levrats Drohungen

50,3 Prozent der Stimmbevölkerung versetzten am 9. Februar 2014 alle Parteien ausser der SVP in einen Schockzustand. Ein denkbar knappes Resultat. Und doch: Den Zufall kann man für dieses Debakel nicht verantwortlich machen. Economiesuisse wies lustlos auf die schädlichen Auswirkungen auf die Wirtschaft hin. SP und Gewerkschaften übernahmen diese Argumentation. Man vertraute darauf, dass es so weit schon nicht kommen würde. Und manche hofften vielleicht insgeheim sogar auf einen hohen Ja-Anteil als Argument, um die flankierenden Massnahmen auszubauen. «Die SP hat sich damals verpokert», sagt Nationalrat Cédric Wermuth.

Was war passiert? Vor der Abstimmung über die MEI war der Ausbau der flankierenden Massnahmen in eine Sackgasse geraten. Die rechten Parteien waren nicht mehr bereit, der SP Zugeständnisse zu machen, Parteipräsident Christian Levrat verlegte sich aufs Drohen: Man werde die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien nicht unterstützen, wenn es keinen Fortschritt bei den flankierenden Massnahmen gebe.

Den entscheidenden Fehler ortet Wermuth aber noch früher, bei der Parteiversammlung 2012 in Lugano, «als wir das mit dem Vergrösserungsglas in unser Migrationspapier schrieben». Die SP hielt damals fest, für viele politische Versäumnisse der letzten Jahre wirke die verstärkte Einwanderung wie eine Lupe: etwa in der Wohnbau-, Arbeitsmarkt- oder Bildungspolitik. Was ein Plädoyer für den Ausbau der flankierenden Massnahmen sein sollte, war auch eine Problematisierung der Migration – die der SVP in die Hände spielte. Wermuth sagt: «Wir hätten Fragen wie Arbeiter- und Mieterschutz von der Migration entkoppeln müssen.» Statt jedoch klar und deutlich für die Personenfreizügigkeit einzustehen und über Verteilungsfragen zu reden, versprach sich die SP von einer Bewirtschaftung der Einwanderungsthematik eine Stärkung ihrer Position.

Nach der Abstimmungsniederlage am 9. Februar 2014 rieb sich die Linke die Augen. Und gab sich kämpferisch. Es brauche eine Korrekturabstimmung, liess der damalige Vizefraktionschef der SP, Roger Nordmann, verlauten. Die SVP-Initiative sei absolut inkompatibel mit den bilateralen Verträgen. Doch die Initiative, die den Zuwanderungsartikel wieder aus der Verfassung kippen will, kam schliesslich mit Rasa (Raus aus der Sackgasse) aus der Zivilgesellschaft. «Aus bewegungspolitischer Sicht haben wir das verpasst», sagt Wermuth. BefürworterInnen einer konfrontativen Strategie hätte es in der SP durchaus gegeben: «Basispolitisch ist Rasa eines der spannendsten Projekte der letzten Zeit», sagt etwa Tom Cassee, Koverantwortlicher Mobilisierung und Mitinitiant der 1 : 12-Initiative. In der SP aber dominiere die Angst vor einer Abstimmungsniederlage. «Eine Initiative wäre wegen des Ständemehrs sicher schwieriger zu gewinnen als ein Referendum. Aber ich bin überzeugt, dass wir mit einer breiten Mobilisierungskampagne gewinnen könnten.»

Doch die Parteileitung konzentriert sich lieber auf das Allianzenschmieden im Parlament. Roger Nordmann, inzwischen Fraktionschef der SP, sagt: «Gemässigte Bürgerliche haben unterdessen begriffen, dass die Bilateralen nur erhalten werden können, wenn wir die damit einhergehenden Probleme pragmatisch anpacken.» Die rote Linie der SP seien die bilateralen Verträge und die flankierenden Massnahmen. Es ist die alte Strategie: Ihr habt uns im Boot, wenn ihr uns entgegenkommt.

«Das macht mich furchtbar wütend»

Während die SP-ParlamentarierInnen taktieren, hat das Justizdepartement unter SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Option einer Schutzklausel ins Spiel gebracht, mit der die Schweiz die Einwanderung begrenzen könnte. Der Bundesrat hält bis heute an dieser Möglichkeit fest – sollte es zu keiner Einigung mit der EU kommen. Für den Bündner SP-Politiker Jon Pult wird es hier erst richtig problematisch: Bundesrat und Parlament seien nach der Annahme der MEI verpflichtet, eine Lösung zu suchen und mit der EU zu verhandeln, sagt er. «Doch es gibt ein eindeutiges Urteil des Bundesgerichts, das festhält, dass die Bilateralen dem SVP-Initiativtext übergeordnet sind. Statt mit einer einseitigen Schutzklausel zu drohen, müsste der Bundesrat dem Bundesgericht den Rücken stärken. Und der SVP klarmachen, dass er die Bilateralen weder verletzen noch kündigen wird.»

In der SP herrscht über diesen Grundsatz keine Einigkeit. So kritisierte etwa der ehemalige Preisüberwacher Rudolf Strahm das Bundesgerichtsurteil scharf: Es sei eine Einmischung in die Politik.

Doch es gibt in der SP nicht nur einen rechten Flügel, der die SVP-Position stärkt. Auch vom ultralinken, marxistischen Flügel sind EU-kritische Töne zu vernehmen. «Wenn gewisse Jusos behaupten, die Personenfreizügigkeit mit der EU sei bloss ein neoliberales Konstrukt, rege ich mich furchtbar auf», sagt Pult. Die Personenfreizügigkeit gehöre zu den grössten Freiheitsrechten unserer Zeit. «Eine junge Griechin hat heute das Recht, in der Schweiz ihr Glück zu suchen – folgen wir aber der SVP, ist das Ergebnis nicht weniger Neoliberalismus, sondern nur mehr Nationalismus.»

Diskurs nicht opfern

Verharren die Linken in ihrer taktiererischen Logik, fällt diese Debatte unter den Tisch. Dann wird man nicht darüber reden, was die SVP mit ihrer Initiative bezweckte: dass sie nicht die einheimischen Angestellten und Arbeiterinnen vor Lohndumping schützen will, sondern fremdenfeindliche Ressentiments schüren und den Rückwärtsgang zu einer nationalistischen Abschottungspolitik einlegen. Niemand wird daran erinnern, dass die SVP falsche Versprechungen machte, als sie im Abstimmungskampf behauptete, ihre Initiative gefährde die Bilateralen nicht.

Hier setzt die Rasa-Initiative an. Dass sie von linken ParlamentarierInnen lediglich als Plan B angesehen wird, kritisiert Mitinitiant Beat Ringger nicht. Es brauche zur Bekämpfung der SVP-Initiative die parlamentarische Strategie genauso wie die Basiskampagne. «Wenn die institutionelle Politik eine nachhaltige Lösung findet, ziehen wir uns zurück.» Doch der Diskurs dürfe nicht für taktische Manöver geopfert werden. «Wir dürfen die Auseinandersetzung nicht scheuen», sagt Ringger. Als Fernziel müsse die Linke die globale Niederlassungsfreiheit fordern. «Das ist der richtige Massstab für die Verwirklichung von Freiheit. Natürlich braucht es dafür mehr globale Gerechtigkeit – aber das ist es ja gerade: Gerechtigkeit und Freiheit gehören zusammen. Das ist der Kern linker Politik.»