Jean Ziegler: Die blinden Flecken des ungebrochenen Optimismus

Nr. 3 –

Ein altgedienter und verdienstvoller Schweizer Sozialist geht durch Havanna. Und wir sehen ihn durch seinen eigenen Zerrspiegel.

Die heimliche Heldin des Jean-Ziegler-Films: Erica Deuber Ziegler rückt ab und an für ihren Mann die Welt zurecht. Still: Frenetic

Gegen Schluss dieses Filmporträts spricht Jean Ziegler an einem Seminar zu jungen Studierenden aus afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern. Er prangert den Neokolonialismus an, die verheerenden Praktiken der sogenannten Geierfonds, die Profite aus den Schulden verarmter Staaten schlagen. Nachher scharen sich die StudentInnen um ihn, wollen mehr wissen, danken ihm für die klaren Aussagen. So kann Jean Ziegler begeistern und befeuern.

Manchmal aber möchte man diesen Mann schütteln und fragen: Herr Ziegler, das kann doch nicht Ihr Ernst sein? Etwa wenn er in Kuba im Brustton innigster Überzeugung erklärt: Pressefreiheit – pah, wen kümmert die schon, das sind doch Kinkerlitzchen gegenüber dem Recht auf Nahrung.

Und das von jemandem, der seit über fünfzig Jahren gegen Anfeindungen und Zensurversuche intellektuelle Aufklärung betreibt.

In der Ambivalenz

Der mittlerweile 82-jährige Jean Ziegler ist weltweit wohl der bekannteste Schweizer, aktiv und streitbar wie eh. Ein Filmporträt über ihn könnte leicht als Hagiografie oder als Abrechnung angelegt werden. Der Genfer Regisseur Nicolas Wadimoff hat das Ehepaar Jean Ziegler und Erica Deuber Ziegler auf einer Reise durch Kuba begleitet, dazu kommen Passagen an einer Demo in Deutschland, beim Menschenrechtsrat der Uno und ein paar historische Einsprengsel.

Aus diesem Material inszeniert Wadimoff eine durchgängige Ambivalenz, die den eigenen Beobachtungen und Kommentaren Zieglers und dessen Begegnungen entspringt; nur ganz gelegentlich greift der Regisseur selbst mit Fragen ein. Das macht den Film aufschlussreich und spannend.

So blickt Ziegler auf den Hafen von Havanna: eine riesige Anlage und ein einziges Schiff darin. Das ist, erklärt er, das verderbliche Resultat des US-Embargos. Da hat er ja recht, das Embargo war und ist schändlich. Doch wenn er durch die Strassen von Havanna schlendert, dann ist nicht mal so sehr deren Zerfall bedrückend, sondern die Jugendlichen, die rumhängen und nichts zu tun haben. Was nicht nur dem Embargo geschuldet ist.

Ziegler erzählt gerne und oft, wie er 1964 Che Guevara, «den Che», traf und der ihm riet, in der Schweiz im Inneren des Monsters zu kämpfen, statt sich dem bewaffneten Kampf in der Dritten Welt anzuschliessen. Das hat Ziegler mit seinen Büchern und Vorträgen und seiner parlamentarischen Tätigkeit unermüdlich getan. Gleichsam in Parallelführung trifft er dann im Film einen ehemaligen Studenten aus der Schweiz, der, von Ziegler angeregt, vor ein paar Jahren nach Kuba ausgewandert ist. Wie es ihm so gehe, fragt er, und der Energiefachmann berichtet zögerlich von Schwierigkeiten. Worauf ihm Ziegler wortreich erklärt, das hänge alles mit der westlichen Propaganda zusammen.

Zuhören ist nicht Zieglers Stärke. Lieber erläutert er Arbeitern einer landwirtschaftlichen Kooperative Lenins dubiosen Satz «Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser», was sie befremdet ignorieren. Zieglers Engagement hat einen quasireligiösen Antrieb: Jeder Mensch ist mit einer Mission auf diese Erde gesetzt. Die seinige ist die Empörung.

Diese brauchen wir natürlich. Etwa wenn er als Experte für den Menschenrechtsrat der Uno auftritt. Der Film zeigt, wie er einen Bericht über Geierfonds präsentiert. In dieser Funktion müsse man, erklärt er in die Kamera, völlig anders sein als bei einer öffentlichen Demonstration. Völlig anders ist er natürlich nicht – wie könnte er das auch –, aber ein wenig passt er sich doch an und erkennt, dass er vor der Verabschiedung des Berichts einen taktischen Fehler gemacht hat, da er nur mit Widerstand aus den imperialistischen Zentren, nicht aus einem Schwellenland gerechnet hat. Da vermag er sogar eine eigene Schwäche zu erkennen – anders, als wenn er sich seinen blinden Hoffnungen hingibt.

Drei Jahre Katar

Es gibt eine heimliche Heldin in diesem Film: Erica Deuber Ziegler. Ausgebildete Kunsthistorikerin, war sie Abteilungsdirektorin im Genfer Kulturdepartement, sass siebzehn Jahre lang für die Alliance de gauche im Genfer Grossrat und ist seit 1999 mit Jean Ziegler verheiratet. Sie wacht über ihn, schreibt nicht nur all seine Manuskripte ins Reine, sondern weist ihn gelegentlich auch darauf hin, dass man einige Dinge ein wenig anders sehen könnte. Nachdem Ziegler in Kuba einen Schwächeanfall erlitten hat, gerät er im Spital mit der Krankenschwester ins Gespräch und versichert ihr, wie toll es doch sei, dass sie für drei Jahre nach Katar gehe, um anderen Menschen zu helfen. Nein, widerspricht ihm Erica: Sie hat sich verpflichten müssen, und sie wird ihre Kinder erst nach elf Monaten wieder sehen.

Wadimoff hat seinem Film als Untertitel den zweiten Teil jenes schon beinahe zum linken Kalenderspruch gewordenen Satzes des italienischen Marxisten Antonio Gramsci verpasst: «Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens». Aber der ganze Satz bindet die beiden Teile unlösbar zusammen. Der Optimismus ist fürs Engagement bitter nötig, aber er wird durch die blinden Flecken der Wahrnehmung beschädigt.

Ab 19. Januar 2017 in den Kinos.

Jean Ziegler. Der Optimismus des Willens. Regie: Nicolas Wadimoff. Schweiz 2016