Minipic im Panic Room Unterschätzt (1): «Das Höllentor von Zürich» vereint alles, was man am Schweizer Film sonst vermisst: Exzess, Schamlosigkeit, Grandezza.

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Infernalischer Unfug in der Badewanne: Lara Stoll hat sich im Tor zur Hölle den Finger eingeklemmt. Stills: Bild mit Ton

Kann man Kontaktlinsen essen? Und falls ja, hilft das gegen Reizdarm? Kann man, wenn man mit den Zehen den Bildschirm streichelt, das Internet spüren? Und wo zum Teufel kommt plötzlich Shia LaBeouf her?

Das sind so Fragen, die einem durch den Kopf oder auch durch den Darm schiessen, wenn man im «Höllentor von Zürich» (2018) landet, einer existenziellen Horrorkomödie ganz ohne Aliens und andere Monster, fast ohne Budget auch und gedreht hauptsächlich im Badezimmer. Der Film hielt sich neun Wochen in der Nocturne im Zürcher Kino Riffraff (total 342 Eintritte), darüber hinaus haben ihn nicht viele Menschen im Kino gesehen. Er lief noch an den Solothurner Filmtagen (ebenfalls in der Nocturne), am Festival des fantastischen Films in Neuenburg und vereinzelt in ein paar anderen Städten, aber das wars dann schon mit dem Kino. Und auch ich muss hier Abbitte leisten: ein grober Fehler, diesen Film so lange versäumt zu haben.

Gesehen habe ich ihn erst, als er zusammen mit zwei anderen Spielfilmen als Finalist für den Zürcher Filmpreis auserkoren wurde. Das erschien manchen als Affront, weil das «Höllentor» somit etwa dem millionenschweren szenischen Heimatmuseum namens «Zwingli» vorgezogen wurde, dabei war das völlig richtig so. Nur schon deshalb, weil lange kein hiesiger Film mehr so genau den Geist seiner Zeit eingefangen hat wie dieses abartige, wahnwitzige, grenzgeniale Trash-Fresko von Cyrill Oberholzer und Lara Stoll – «Das Höllentor von Zürich», das ist Kino mit ADHS im Endstadium. Man wird diesen Film dereinst studieren können wie einen archäologischen Fund, der unsere hypermediale Gegenwart in all ihren Obsessionen spiegelt, konserviert wie in Bernstein.

Abfluss statt Abguss

Nein, das «Höllentor von Zürich» ist nicht die Zukunft des Schweizer Fil ms. (So viele Wahnsinnige, die einem solchen Film würden nacheifern wollen, gibt es bei uns gar nicht.) Aber dieses No-Budget-Kammerspiel verkörpert all das, was man bei Schweizer Spielfilmen sonst so schmerzlich vermisst: den visuellen Exzess, die Schamlosigkeit, aber auch die Grandezza, die sich aus einer radikalen Beschränkung entlädt. Und statt dass wie sonst leider üblich irgendwelche schlecht geschriebenen Dialoge aufgesagt würden, sehen wir vor allem die Slampoetin Lara Stoll im Gespräch mit sich selbst, nur einmal, da redet sie mit ihrem verpixelten Profilbild. Die Frau hortet Ritalin und Gras im Schrank, der Durstlöscher ihres Vertrauens ist Appenzeller-Red-Bull.

Schon der bildungsbürgerliche Bluff im Filmtitel lässt die kulturellen Ordnungen implodieren. Denn mit dem «Höllentor» ist hier gerade nicht das gleichnamige Bronzeportal von Auguste Rodin vor dem Zürcher Kunsthaus gemeint, sondern, viel profaner, das verhängnisvolle Loch in der Badewanne, in dem Lara Stolls Finger stecken bleibt. Nicht Abguss also, sondern Abfluss.

So beginnt, nach 16:22 Minuten, diese Überlebensübung im Badezimmer. Fortan dürfen wir Stoll dabei zuschauen, wie sie ihren eingeklemmten Finger zu befreien versucht: mit dem Mut der Verzweiflung, mit literweise Duschgel als Schmiermittel, schliesslich mit Gewalt gegen sich selbst. Und als das letzte Minipic, das sie als Notvorrat noch dabei hat, zu Boden fällt, fiebert man mit, als sie in einer diffizilen einhändigen Übung versucht, das Würstchen wieder aufzugabeln – mit der Klobürste. Auf dem Computerbildschirm neben der Wanne läuft derweil die ganze Zeit irgendein blödes Youtube-Video über ein Überraschungsei, festgefahren in einer Endlosschlaufe.

Das könnte extrem anstrengend sein, aber es ist vor allem: ungeheuer befreiend. Weil dieser Film bei aller Selbstbezogenheit, die er ausgiebig zelebriert, ungemein virtuos im Umgang mit seinen Stilmitteln bleibt. Wie Oberholzer und Stoll aus einer Situation des totalen Stillstands eine fiebrige Dynamik erzeugen, und sei es nur, weil auf dem Computer zum Beispiel mal ein Installationsfenster Amok läuft und einfach keine Ruhe gibt: irre. Überhaupt kleben wir immer wieder in extremer Grossaufnahme am Computermonitor, bis die Pixel fast greifbar werden, die Kamera so nah, als wollte sie den Bildschirm abschlecken. Später gehts einmal hinaus in eine erträumte Freiheit, in einer scheinbar nahtlosen Kamerafahrt à la David Fincher, durchs Schlüsselloch, durch den Türspion, übers Treppengeländer und hinaus in die Luft, hoch in den Himmel über Zürich. Und dann wieder hinein in den psychedelischen Kosmos einer Endoskopie im Reizdarm, die in ihrer abstrakten Schönheit jeden Ekelreflex transzendiert.

Wahnsinnig bildgeil

Ja, «Das Höllentor von Zürich» ist ein wahnsinnig bildgeiler Film, also auch in dieser Hinsicht das Gegenteil von Zwingli, und in dieser visuellen Geilheit hat er Angst vor gar nichts, schon gar nicht davor, die Gefühle oder den Geschmack des Publikums zu verletzen. Man darf hier gerne den alten Marcel Duchamp bemühen mit seiner Maxime, nach der der grösste Feind der Kunst der gute Geschmack sei. Das halten auch nur jene für einen Kalenderspruch, die meinen, Dadaismus sei eine historische Avantgarde fürs Museum, die nicht immer wieder neu und anders aktualisiert werden könne.

Greil Marcus hat in seinem Standardwerk «Lipstick Traces» (1989) die geheime Verwandtschaft zwischen Dadaismus und Punk nachgezeichnet, und in dieses kulturhistorische Hardcorekontinuum von Dada und Punk darf man getrost auch «Das Höllentor von Zürich» einreihen. Die Grundidee, so liest man zum Schluss in den Credits, haben Oberholzer und Stoll nicht von ungefähr in einem Dadaismusseminar unter der Leitung von Sabine Gisiger und Barbara Weber entwickelt.

Zum Abspann singt Stoll dann noch eine kongeniale Trap-Coverversion von «Campari Soda», und hier gibt der Film in vier Minuten auch seinen Clou preis: Im Splitscreen sieht man, dass der ganze Film oft Bild für Bild auf Danny Boyles Überlebensthriller «127 Hours» (2010) beruht, halt mit Stoll in der Badewanne anstelle von James Franco im Felsspalt. Statt ein Drehbuch zu schreiben, haben diese beiden Punks mal eben Hollywood im Badezimmer kopiert – und in dieser parodistischen Aneignung einen Film geschaffen, der das Original in vielerlei Hinsicht locker überbietet. So kann man die gern beklagte Drehbuchmisere im Schweizer Film natürlich auch durchbrechen. Und das göttliche Licht der Transzendenz strahlt am Ende aus der Waschmaschine.

«Das Höllentor von Zürich» gibts gratis bei Youtube . Dort kann man den Film auch simultan im Quervergleich mit «127 Hours» schauen (Suchbegriff «Splitscreen Extravaganza»).

In der Rubrik «Unterschätzt» würdigen wir künftig Filme, die zu Unrecht vergessen gingen oder nicht die Aufmerksamkeit erhielten, die sie verdienen.