Der Schlüsselfilm aus dem SouterrainUnterschätzt (5): «Something Wild» von Jack Garfein ist bis heute der Zeit voraus.

wobei 1/

Carroll Baker im Film «Something Wild»
Traumatisiert, aber kein hilfloses Opfer: Carroll Baker in «Something Wild». Foto: Mauritius Images

«Dein Film ist bemerkenswert. Aber du hättest ihn in einer Fremdsprache, mit englischen Untertiteln auf die Leinwand bringen sollen, dann wäre er vielleicht besser angekommen.» Das soll Otto Preminger zu seinem Freund Jack Garfein gesagt haben, nachdem er «Something Wild» 1961 im Kino gesehen hatte. Preminger war da bereits ein erfolgreicher Regisseur, Garfein galt als aufstrebendes Riesentalent. Im Actors Studio von Lee Strasberg hatte er früh mit vielen Schauspieler:innen gearbeitet, die später berühmt wurden: James Dean, Ben Gazzara, Shelley Winters.

Auch einen Film hatte Garfein bereits gedreht, nach seinem eigenen Broadwaystück «The Strange One». Die Filmzensurbehörde monierte «Andeutungen von Homosexualität», «exzessive Brutalität» und «suggestive Szenen, die Respektlosigkeit vor rechtmässigen Autoritäten wecken» könnten. Garfein war gewarnt worden, weigerte sich, etwas zu ändern – und wurde zensiert. Nach «Something Wild» war seine Kinokarriere dann bereits zu Ende. Er arbeitete fortan erfolgreich als Schauspiellehrer, führte Regie am Broadway und leitete Theaterhäuser – auch in Paris, wo er eine enge Freundschaft mit dem Dramatiker Samuel Beckett pflegte. Ende 2019 starb er 89-jährig in New York.

Verschmäht, nicht vergessen

Wenn man sich seinen schwer faszinierenden, aber auch schwer einzuordnenden Film heute anschaut, ahnt man, was Preminger gemeint hat – und muss ihm doch widersprechen: «Something Wild» wirkt europäisch, das ist wahr, mit Anleihen bei Ingmar Bergman und Fritz Lang, dessen Kameramann Eugen Schüfftan Garfein engagiert hatte. Doch auch das uramerikanische Genre des Film noir wirft hier weiter seine langen Schatten. Die Romanvorlage stammt von einem heute vergessenen Freund Garfeins, dem New Yorker Alex Karmel. Die Titelsequenz wurde von Saul Bass gestaltet, einem der berühmtesten US-«Kinografiker». Bass hat für Preminger, Alfred Hitchcock und Martin Scorsese unvergessene Eröffnungen entworfen, seine Vorspanne zu «Vertigo» oder «Age of Innocence» visualisieren eine Kernidee der Filme in abstrakter Form. Auch der Einstieg zu «Something Wild» ist ein solches Kunststück. Die für Bass typischen tanzenden Muster sind hier nicht gemalt oder gezeichnet. Vielmehr verwandelt er die Stadt selbst in symbolisch aufgeladene Einzelteile: Hausfassaden, Autos, Fussgänger:innen, aufgeschreckte Tauben und schliesslich die Sonne, Scheinwerfer und Leuchtschriften. Zum hektischen Soundtrack von Aaron Copland setzt er New York nicht einfach als Kulisse, sondern als Akteurin in Szene.

Dann folgt gleich der nächste Schock: eine raffiniert komponierte viertelstündige Sequenz ohne Dialog. Auf ihrem Heimweg spaziert eine junge Frau nachts unbeschwert in einen Park – und wird dort vergewaltigt. Gerade weil nichts explizit gezeigt wird, ist die ganze Verheerung sofort präsent: der Schock des Überfalls, die rohe Gewalt, die Implosion danach. Nachdem der Vergewaltiger von ihr abgelassen hat, schleicht die Frau verletzt und verstört nach Hause. Sie erzählt niemandem etwas, wird vom Erlebten aber innerlich aufgefressen, erträgt keine Berührungen mehr, hat Panikattacken, vereinsamt. Was in der zweiten Filmhälfte folgt, ist noch viel unheimlicher – und würde wohl bis heute Kontroversen auslösen.

Die Zuschauer:innen der frühen Sechziger waren gelangweilt, abgestossen oder schlicht überfordert. Der Film fiel durch, auch bei den Kritiker:innen. Wobei es durchaus prophetische Stimmen gab. Der Avantgardefilmer Jonas Mekas etwa nannte «Something Wild» den «interessantesten US-Film des Winters» und mutmasste, er könne der «am meisten unterschätzte Film des Jahres werden».

Da «Something Wild» regelmässig im Fernsehen lief, ging er trotz schlechter Kinoauswertung nie ganz vergessen. Doch erst nach der Jahrtausendwende setzte, gemächlich, eine Wiederentdeckung und Rehabilitierung ein, inklusive Kinoaufführungen und DVD-Ausgaben, 2017 auch in der renommierten Criterion Collection. Garfein durfte das alles zum Glück noch miterleben – als gesprächiger und keineswegs verbitterter Kommentator seines einst verschmähten Werks.

Politisch nicht korrekt

Als er sich «Something Wild» 2012 bei einer Wiederaufführung erneut im Kino anschaute, fiel Garfein schockartig auf, was er bisher verdrängt hatte. Er erzählte es in den Jahren danach in jedem Interview: «Diese junge Frau im Film bin ich.» Dazu muss man wissen, dass der 1930 in der Tschechoslowakei geborene Garfein im Holocaust fast seine ganze Familie verloren und als Jugendlicher mehrere Konzentrationslager überlebt hat. 1946 kam er nach New York, wo er auf eine grosse jüdische Exilgemeinde traf – und auf Erwin Piscator, der mit Brecht das «politische Theater» entwickelt hatte.

Im Film ist die Vergewaltigung nicht die einzige Tortur, die er in Gestalt seiner weiblichen Hauptfigur Mary Ann (gespielt von Garfeins damaliger Ehefrau Carroll Baker) durchlebt. Als sie sich Wochen später von einer Brücke stürzen will, wird sie im letzten Moment zurückgehalten, nur um danach von ihrem wortkargen Retter in seine säuberlich eingerichtete Kellerwohnung eingesperrt zu werden: weil sie sich «ausruhen» müsse – und weil er «sie brauche».

Was verkürzt nacherzählt befremdlich klingt, entfaltet im Film selber eine so irritierende wie bestechende Logik, der man sich kaum entziehen kann. Es ist, als ob in dieser Kellerwohnung kühn eine psychologische Konstellation durchgespielt würde. Als ob es hier eigentlich um etwas anderes ginge als um die äusserlich sichtbaren Vorgänge: nämlich um die politisch nicht immer korrekten Umwege und Hintertüren von Seelen, Gefühlen und Traumata.

Garfein inszeniert Mary Ann in dieser Wohnung nie einfach als wehrloses Opfer und seine männliche Hauptfigur nie bloss als tumben Aggressor. Dieser Mike (Ralph Meeker) erscheint vielmehr als eine Ansammlung von mächtigen, unbeholfenen Gefühlen, als besorgter, aber überforderter Gefängniswärter auf Zeit, der in Mary Ann instinktiv etwas erkennt, was sie – und ihn – schliesslich rettet.

Oder wie Garfein selber einmal sagte: «Auch ich bin ein Produkt von Gewalt. Aber ich glaube nicht, dass Gewalt unsere Sensibilität zerstört. Wir machen weiter, das Leben macht weiter. Trotz allem.»

Unterschätzt

In dieser Rubrik würdigen wir Filme, die zu Unrecht vergessen gingen oder nicht die Aufmerksamkeit erhielten, die sie verdienen. Bisher erschienen: «Das Höllentor von Zürich» von Cyrill Oberholzer und Lara Stoll («wobei» 1/20), «Showgirls» von Paul Verhoeven («wobei» 1/21), die tschechische TV-Serie «Die Besucher» von Ota Hofman und Jindřich Polák («wobei» 1/22), und «The Fountain» von Darren Aronofsky («wobei» 1/23).

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen