Durch den Monat mit Veronika Kracher (Teil 2): Sind schmale Handgelenke nicht tatsächlich ein Problem?

Nr. 41 –

Die deutsche Journalistin Veronika Kracher hat für ihr Buch über Incels die Szene «unfreiwillig zölibatär» lebender Männer erforscht – und warnt davor, diesen Männertypus zu exotisieren.

Veronika Kracher in der Nähe der Berliner S-Bahn-Station Ostkreuz: «Es gibt ja auch riesige Industrien, die davon leben, dass Menschen sich unattraktiv fühlen.»

WOZ: Frau Kracher, Ihrer Darstellung zufolge zeichnen vor allem drei Überzeugungen Incels aus: dass ein Mann ein Recht auf Sex hat; dass Frauen keine Subjekte sind; und der Glaube, dass der Feminismus Männer total unterworfen hat. Korrekt?
Veronika Kracher: Ja, wobei schon zentral ist, dass gerade der unattraktive Mann für Incels das grösste Opfer unserer Zeit ist. Incels meinen, dass die bedeutendste Form der Diskriminierung heute durch den sogenannten Lookismus geschieht.

Das meint Diskriminierung, weil man nicht den Schönheitsidealen entspricht. Ganz falsch ist das doch nicht?
Es steckt schon ein Fünkchen Wahrheit drin: Menschen, die normschön sind, haben es natürlich in vielen Bereichen leichter. Es gibt ja auch riesige Industrien, die davon leben, dass sich Menschen unattraktiv fühlen. Und gerade die «Looksmaxing»-Seiten haben mich an diese Pro-Ana-Gruppen für magersüchtige Mädchen erinnert. Man muss sich vor Augen halten, was das mit den Usern macht, wenn ihnen ständig vermittelt wird: Du musst zehn Zentimeter grösser werden und brauchst mehr Muskelmasse, sonst bist du der totale Lurch, den niemand lieben kann.

Das klingt ziemlich grausam.
Das ist für die User mental auch wirklich schlimm. Andererseits: Die australische Geschlechterforscherin Raewynn Connell verwendet den Begriff der «Kathexis», der das Phänomen bezeichnet, dass sich Männer lieber emotional an diese Gemeinschaft binden, als sie zu kritisieren – selbst wenn sie merken, wie toxisch ihre Männer-Community ist. Sie wenden sich nicht ab, denn dann müssten sie den Feminismus als wichtiges Anliegen anerkennen – auch für ihr eigenes Leben.

Also lieber unter Männern leiden als sich für die Emanzipation aller einsetzen?
Genau. Dazu kommt, dass sie andere Formen der Unterdrückung ausblenden und völlig die Massstäbe verlieren. Menschen, die den Schönheitsidealen nicht entsprechen, werden eben nicht systematisch von der öffentlichen Partizipation ausgeschlossen – auch wenn Incels das glauben. Und sie sind auch nicht mit den Juden während des Holocausts oder den Schwarzen während der Sklaverei zu vergleichen. Da findet man viel geschichtsvergessenen Bullshit.

Incels haben einen ausgefeilten Jargon, den auch Sie in Ihrem Buch permanent verwenden. Da gibt es den «Chad», das meint den attraktiven Alphamann, auf den die Frauen stehen. Dann noch die «Stacy» …
… das wäre entsprechend die attraktive Frau.

Und dann nimmt es groteske Züge an: Incels aus Indien nennen sich selbst «Currycels», und Incels, die ihre Handgelenke für zu schmal halten, nennen sich «Wristcels». Das ist doch alles auch sehr lächerlich?
Ja, es gab tatsächlich Sachen, bei denen musste ich lachen. Arabische Chads etwa heissen «Chaddam», indische Chads «Chadpreet», Latino-Chads «Chadriguez» und asiatische Chads «Chang long Wang». Das ist natürlich rassistisch, aber auch komisch.

Aber eben nicht nur komisch.
Nein, denn Sprache vermittelt immer auch Ideologie. Die Incel-Terminologie hat zwei Funktionen. Erstens dient hier Sprache als Ausdruck eines Kollektivs, mit der man Zugehörigkeit signalisieren kann: also zeigen, dass man zu den Leuten zählt, die wissen, was diese Begriffe bedeuten. Zweitens werden dadurch Bilder vermittelt. Beispielsweise ist der Ausdruck für einen schwarzen Chad – «Tyrone» – ein unter Afroamerikanern recht verbreiteter Vorname. In Memes wird der immer als hyperpotenter Gangster oder Drogendealer dargestellt, dieses Bild schreibt sich in die Köpfe ein. Wenn Incels von «Tyrone» sprechen, kolportieren sie damit automatisch rassistische Darstellungen von schwarzer Männlichkeit.

Sie schreiben, man könnte mit den Incels fast Mitleid haben – wenn es sich dabei nicht um «Soldaten in einem Krieg gegen Frauen» handeln würde. Laut Ihrer Zählung sind bislang mehr als fünfzig Menschen von erklärten Incel-Attentätern umgebracht worden?
Ja.

Sie erwähnen auch ein Attentat aus den Achtzigern in Montreal, bei dem der Angreifer alle Männer entkommen liess, um nur Frauen zu erschiessen. War das ein Incel-Attentat, ehe es diesen Begriff gab?
Der Täter hat gesagt, dass der Feminismus sein Leben ruiniert habe. Er wird in Incel-Kreisen dafür als Incel avant la lettre gefeiert.

Dann ist es falsch zu denken: «Oh, jetzt gibt es diese Incels im Internet, und die bringen plötzlich Frauen um.»
Frauenhass ist nichts, das es nur bei Incels gibt. In Deutschland haben wir jeden dritten Tag einen Femizid. Es ist ein Fehler, wenn viele nun Incels für absolute Sonderlinge halten, die nichts mit normalen Männern zu tun haben. Das dient vor allem dem Zweck, zu leugnen, dass Incels und der Durchschnittsmann, der Frauen hasst, gar nicht so unterschiedlich sind, wie man meinen könnte.

Nächste Woche verrät Veronika Kracher, warum sie sich wie ein kleines Kind auf das neue Videospiel «Baldur’s Gate 3» freut. Ihr Buch «Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults» erscheint Anfang November im Ventil-Verlag.