Durch den Monat mit Veronika Kracher (Teil 5): Können denn Nerds Sexisten sein?

Nr. 44 –

Auch in der Popkultur finden sich häufig Vorstellungen, die nicht weit von der Incel-Ideologie entfernt sind, sagt die Buchautorin Veronika Kracher. Ein Gespräch über das Weltbild von Pick-up-Artists und andere Männlichkeiten.

Veronika Kracher: «Die Serie ‹The Big Bang Theory› stellt die Nerdmännlichkeit als unterdrückte Männlichkeit dar.»

WOZ: Veronika Kracher, jenseits der Incels gibt es ja auch sogenannte Pick-up-Artists, die Männer anleiten, wie man am besten Frauen abschleppt. Oder den Rapper Kollegah, der seinen Fans bei der «Bosstransformation» helfen will. Das sind doch Indizien dafür, dass das Incel-Denken verbreiteter ist, als man meinen könnte, oder?
Veronika Kracher: Auch Kollegah und die Pick-up-Artists würde ich als Reaktion auf die gesellschaftliche Krise der Männlichkeit begreifen. Das sind alles Männer, die sich nach einer Zeit zurücksehnen, in der sich patriarchale Herrschaft noch leichter ausüben liess. Dem liegt ein zutiefst frauenverachtendes Weltbild zugrunde: Frauen seien dumm und triebhaft und würden eigentlich geführt werden wollen. Leider aber gaukelt der Feminismus den Frauen vor, männliche Herrschaft nicht zu benötigen. Diese Männer begreifen es daher als ihre Aufgabe, den feministisch verwirrten Weibern zu zeigen, was in Wahrheit gut für sie ist.

Damit ist ja zugleich jedes Nein nur Indiz dafür, dass die jeweilige Frau nicht weiss, was sie eigentlich will?
Genau. Das ist eine Weltsicht, in der Frauen lediglich als etwas vorkommen, das erobert werden muss. Diese Männlichkeit konstituiert sich ausschliesslich über die Abwertung des Weiblichen – auch der weiblich konnotierten Anteile im eigenen Selbst wie Emotionalität und Empathie. Auf Internetseiten für Pick-up-Artists kann man sehr gut sehen, wie eine Erwartung an die Männer selbst formuliert wird, die sehr grausam ist: Man soll sich selbst verrohen, alles Weibliche in sich abspalten. Wenn ich keine Empathiefähigkeit habe, fällt es mir leichter, eine Frau abzufüllen und zu ficken, auch wenn es in einer solchen Situation keinen Konsens geben kann.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass auch in der Popkultur immer wieder problematische Vorstellungen transportiert werden – auch dort, wo man es vielleicht nicht erwarten würde. Ein Beispiel ist die Nerdserie «The Big Bang Theory» …
Nerdserie? Ich würde eher sagen, dass «The Big Bang Theory» zeigt, wie sich manche Leute Nerds vorstellen. Diese Serie – oder auch die Filme von John Hughes wie etwa «Ferris macht blau» – stellen die Nerdmännlichkeit als unterdrückte Männlichkeit dar, als Gegenstück zur hegemonialen Männlichkeit, die man bei diesen Alphatypen oder Chads vorfindet. Nerds sind hier die Protagonisten und damit Figuren, mit denen man sich identifizieren soll. Allerdings sind diese Nerds – und das gilt gerade für «The Big Bang Theory» – ebenfalls misogyn und herablassend, nur wird das als witzig dargestellt. «The Big Bang Theory» vermittelt also: Okay, das ist zwar sexistisch, aber nur ein Witz. Auf diese Weise wird Sexismus letztlich reproduziert. Der Zuschauer lernt daraus: Sexuelle Übergriffigkeit von Chads oder Alphamännern mag zwar problematisch sein, sexuelle Übergriffigkeit von Nerds ist aber harmlos, weil das ja marginalisierte Männer und Underdogs sind.

Trotzdem ist auffällig, dass in Filmen und Serien immer häufiger progressive Botschaften vermittelt werden, gerade was Geschlechterverhältnisse angeht. Oder nicht?
Doch, auf jeden Fall! Gerade bei animierten Serien für Kinder und Jugendliche – «Steven Universe», «Adventure Time» oder «She-Ra» zum Beispiel – kann man beobachten, dass dort queere Inhalte ganz selbstverständlich sind. Das ist sehr erfreulich, weil Popkultur natürlich eine riesengrosse Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung spielt.

Zurück zu den Incels: Inwieweit ist dieses Phänomen eigentlich schon nach Europa vorgedrungen? Sie schreiben ja, dass es beim Attentäter von Halle auch Incel-Bezüge gab?
Dass man in den USA die meisten Opfer infolge von Incel-Anschlägen zu beklagen hat, liegt zunächst einmal auch an den liberalen Waffengesetzen dort: Wenn man leichter an ein Gewehr kommt, ist es auch leichter, eine Terrorattacke zu verüben. Der Attentäter von Halle dagegen hat sich seine Waffe mit einem 3-D-Drucker selbst gebastelt. Wir wissen allerdings nicht genau, ob er wirklich ein Incel war. Er war aber mit der Szene affiliiert: Er hat zum Beispiel beim Livestream seiner Tat ein Lied gehört, das nach dem Incel-Attentäter von Toronto benannt ist. Zudem verweist er in seinem «Manifest» auf die Imageboard-Kultur, also diese Internetforen, auf denen die Incels ihre Bilder posten.

Also gibt es auch hier Incels?
Es ist schwer, über deutsche Incels zu sprechen, weil die Foren grösstenteils englischsprachig sind. Eins dieser «Looksmaxxing»-Foren hat allerdings einen deutschen Moderator, und dann gibt es noch ein deutsches Board namens Kohlchan. Letztens hatten zwei rechtsradikale Incels auf Twitter angekündigt, einen Anschlag an der Uni in Passau zu begehen, die Polizei hat direkt interveniert.

Grundsätzlich aber müssen Incel-Attentate nicht immer spektakuläre Anschläge sein. In der Berichterstattung und in Polizeimeldungen werden frauenfeindliche Gewalttaten und Femizide viel zu selten klar benannt. Daher kann es gut sein, dass Incel-Angriffe einfach nicht als solche erkannt werden. Nach wie vor gibt es leider zu wenig behördliches Interesse, das genauer nachzuverfolgen.

Veronika Kracher lebt in Frankfurt. Ihr Buch «Incels: Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults» erscheint am 6. November 2020.