Arbeitskampf: Alle Räder stehen still

Nr. 16 –

Dutzende georgische und usbekische Fahrer streiken mit ihren Lastwagen auf einer deutschen Raststätte – ihr wochenlanger Kampf wirft ein Schlaglicht auf die Ausbeutung auf Europas Strassen. Ein Besuch.

Lastwagen-Chauffeure feiern das Osterfest an einem improvisierten Tisch in einem Lastwagenanhänger
Osterfest fern der Heimat: Die Fahrer wollen ihre Lastwagen erst wieder freigeben, wenn sie die ausstehenden Lohnzahlungen erhalten haben. Foto: Jan Ole Arp

Schaschlik, Tomatensalat, Feta, eingelegte Gurken, Brot, rot gefärbte Eier, Wein: Rund dreissig Männer sitzen um eine festlich gedeckte Tafel, improvisiert aus Spenden. Jemand zündet Weihrauch an, dann wird gebetet. Für Christus, der auferstanden ist – alle bekreuzigen sich. Es folgen Trinksprüche: auf Georgien, die Familien, auf die Babys und auf einiges mehr. Es ist der 16. April, orthodoxer Ostersonntag. Der Tisch, eigentlich drei Metallplanken, ist im Frachtraum eines Lkws aufgebaut, der auf der Raststätte Gräfenhausen West steht, an der Autobahn zwischen Frankfurt und Darmstadt. Die Männer sind Fahrer aus Georgien, ihre Familien, mit denen sie eigentlich gern feiern würden, weit weg.

Seit nunmehr vier Wochen harren die Trucker auf der Raststätte aus, weil ihr Auftraggeber Lukasz Mazur, ein polnischer Transportunternehmer, ihnen Geld schuldet: mehrere Tausend Euro pro Person. An die siebzig Lkws haben sie deshalb blockiert, vier davon sind noch beladen. Sie stehen in der Mitte, eingekeilt von Dutzenden leeren Fahrzeugen im leuchtenden Blau der Firmengruppe Mazur. «Wenn er die Schulden bezahlt hat – und zwar alle Schulden, für alle Fahrer hier –, kann Mazur die Fahrzeuge abholen, bis dahin bleiben sie, wo sie sind», sagt Koba Kwantaliani. Dem Mittvierziger im blauen Trainingsanzug ist es wichtig zu betonen, dass er und seine Mitstreiter nur forderten, was sie durch ihre Arbeit verdient hätten. «Nicht mehr, weniger aber auch nicht.»

Koba Kwantaliani
Koba Kwantaliani Foto: Jan Ole Arp

Am Anfang steht eine Chatgruppe

Angefangen hat der Streik in Italien. Der Unmut der Fahrer war schon lange gross, besonders über häufige intransparente Lohnabzüge. Irgendwann hatten sie genug. «Zuerst verspätete sich die Zahlung um zwei Wochen – und als sie dann kam, waren es 300 bis 400 Euro zu wenig. Ich habe den Chef angerufen, und der sagte, das Wochenende werde nicht mehr bezahlt», berichtet Nikoloz Abuladze*. Der Mann mit dem freundlichen Lächeln ist gross und kräftig, er sei früher Sportler gewesen, meint er. Im kalten Nieselregen steht er in Badelatschen vor einem der Lkws, was die anderen zu spöttischen Kommentaren veranlasst: «Unser Held hat nicht mal Socken an!» Abuladze winkt ab.

«Ich habe dem Chef gesagt, dass ich nicht weiterfahre», erzählt er. Also parkierte er seinen Lastwagen auf dem Rasthof Sadobre in Südtirol, startete mit einem Freund eine Chatgruppe und sagte den Kollegen Bescheid. Die anderen georgischen Fahrer waren ebenfalls empört, einige folgten dem Beispiel und stellten ihre Lkws dort ab, wo sie gerade waren: in der Nähe von Luzern, auf der A9 bei Sion, in Niedersachsen – und eben in Gräfenhausen. Ein usbekischer Trucker, den Abuladze auf der Raststätte traf, nahm Kontakt zu Landsleuten auf, die sich ebenfalls anschlossen. Andere fuhren weiter, ihnen war das Risiko zu gross.

Als Unternehmer Mazur Ende März in Italien auftauchte, spitzte sich die Lage zu. «Die Polizei sagte, wir könnten nicht bleiben, und drohte uns», sagt Abuladze. Er stieg in seinen Wagen und fuhr nach Gräfenhausen. Gima Davitadze*, schwarze Steppjacke, schwarzes Käppi, begann den Streik mit sechs weiteren Fahrern in der Nähe von Luzern. Vier Tage hätten sie dort gestanden, erzählt er. Zwar schritt die Polizei nicht ein, doch dann konnten sie sich das Parkieren nicht mehr leisten und fuhren nach Basel. Dort trafen sie auf die beiden Fahrer aus Sion und stiessen dann zu den anderen in Gräfenhausen.

Aktuell sieht es so aus, als könnte der ungewöhnliche Arbeitskampf mit einem Erfolg enden. Letzten Freitag sagte Mazur zu, die ausstehenden Löhne zu zahlen. Mehrere Fahrer berichten, dass auf ihren Konten bereits Geld eingegangen sei. Bis dahin hatte der Unternehmer stets bestritten, ihnen überhaupt Geld zu schulden. Zweimal war er persönlich in Gräfenhausen aufgetaucht: Ende März versuchte er, die Arbeiter mit Drohungen und Versprechen zur Herausgabe der Lkws zu bewegen. Die Trucker aber weigerten sich, die von Mazur mitgebrachten Ersatzfahrer solidarisierten sich mit den Protestierenden.

Am Karfreitag dann brachte er neben Ersatzfahrern auch einen Panzerwagen der privaten Detektei Rutkowski und gut ein Dutzend Männer in schwarzen Uniformen mit, die sich gewaltsam Zugang zu den Fahrerkabinen zu verschaffen versuchten. Auch diesmal scheiterte das Vorhaben, nach einem kurzen Gerangel griff die Polizei ein und nahm den Unternehmer und seinen Schlägertrupp vorübergehend fest. Sie dürfen die Raststätte seither nicht mehr betreten.

Die meisten Fahrer erleben das Gegenteil: Sie können die Raststätten kaum verlassen, die Fahrzeuge sind monatelang ihr Zuhause. «Tagsüber fahre ich den Lkw, nachts schlafe ich darin, seit über einem Jahr. Deutschland, Schweiz, Frankreich, immer hin und her», erzählt Tengiz Barischwili*, während er Fleischspiesse präpariert. Ein Grill steht auf dem Boden vor einem Frachtraum, in dem die Essensspenden lagern. Um das Fleisch vor dem Regen zu schützen, hält einer der Fahrer ein Stück Karton über die Spiesse. «Europäische Fahrer können auch mal im Hotel schlafen», ergänzt er, «wir nie.»

Noch haben nicht alle ihr Geld

Seit dem «Karfreitagsangriff» ist der wilde Streik in Gräfenhausen ein grösseres Thema in deutschen Medien – und damit auch die Arbeitsbedingungen der Fahrer. Während unseres Besuchs kommen im Viertelstundentakt Menschen vorbei und bringen Körbe voller Essen oder Geldscheine. «Wenn die Deutschen wüssten, dass Stalin aus Georgien kam, würden sie uns nicht mehr helfen», kommentiert Davitadze lachend. Auch Gewerkschafter:innen aus Georgien, Polen, Südkorea und den Philippinen haben ihre Solidarität bekundet.

Einige von Mazurs westeuropäischen Auftraggebern – grosse deutsche Speditionen – sind unter Zugzwang geraten: Nach einem Brief der Streikenden haben zwei davon angekündigt, ihre Zusammenarbeit mit dem Fuhrunternehmen einzustellen. Auch an Schweizer Firmen haben die protestierenden Trucker Waren geliefert, darunter Coop und die Post, wie aus Frachtbriefen hervorgeht, die der WOZ vorliegen. Auf Nachfrage geben beide an, kein Vertragsverhältnis mit Mazur zu haben, die Post verweist auf die ausländische Auftraggeberin. Mehrere Schweizer Speditionen, die gemäss den Frachtbriefen ebenfalls mit Mazur zusammenarbeiten, liessen Anfragen unbeantwortet.

Coop und die Post machten es sich «zu einfach», findet Roman Künzler, bei der Unia zuständig für den Transportsektor: «Wir erwarten, dass die Firmen in der Schweiz ihre Lieferketten überprüfen und sicherstellen, dass die Fahrer:innen nach dem geltenden Mindestlohn bezahlt werden und die Arbeitsbedingungen korrekt sind», sagt er. «In diesem Fall sollten sie als Kunden Druck machen, dass die Streikenden rasch ihr Geld erhalten.»

Der steigende Druck und die blockierten Fahrzeuge haben Mazur offenbar überzeugt, dass er besser wegkommt, wenn er einlenkt. Doch noch haben nicht alle ihr Geld erhalten oder nur einen Teil. Koba Kwantaliani gehört zu jenen, bei denen noch nichts eingetroffen ist. Er hat bereits eine neue Stelle gefunden, deshalb ist er auch der Einzige, dessen richtiger Name in der Zeitung stehen darf. Seine Mitstreiter wollen lieber anonym bleiben, um ihre Chancen auf einen neuen Job nicht zu gefährden. Für die Mazur-Gruppe können sie nicht mehr fahren. «Will ich auch nicht, für diesen Gangster», meint Barischwili. Doch auch für ihn hängt viel an dem Arbeitsplatz: Er muss Geld an die Familie in Georgien schicken, auch sein Visum ist an den Job geknüpft.

«Ein zugrunde gerichteter Markt»

Der Streik in Gräfenhausen ist in vielerlei Hinsicht besonders. Er betrifft einen Sektor, in dem die gewerkschaftliche Organisierung und das Eintreten für die eigenen Rechte schwierig sind – wegen der Vereinzelung, aber auch weil die Arbeiter:innen mitunter durch Gewalt und Erpressung kleingehalten werden. Verantwortlich für die prekären Zustände sind jene, die in der langen Kette des Strassentransports profitieren – auf Kosten von Männern wie Kwantaliani, Abuladze, Barischwili und Davitadze. So ist es üblich, dass westeuropäische Auftraggeber Fuhrunternehmen aus Osteuropa beauftragen, die den Transport günstig abwickeln – durch die Ausbeutung scheinselbstständiger Fahrer aus Drittstaaten. «Ein total zugrunde gerichteter Markt», sagt Roman Künzler von der Unia.

Eine Gewerkschaftsstudie von 2020 hält fest, dass die aus Ländern ausserhalb der EU angeheuerten Fahrer billiger seien, weil sie oft nach den Bedingungen des Herkunftslandes bezahlt würden oder zu Pauschalpreisen, die deutlich unter den Löhnen hiesiger Fahrer lägen. Das funktioniert, weil viele ihre Rechte nicht genau kennen – und, wenn doch, kaum Möglichkeiten haben, sie einzufordern. Vor drei Jahren hat die EU neue Massnahmen gegen Lohndumping erlassen. Darin ist auch verankert, dass die Fahrer ein Hotel bezahlt bekommen und nach drei Monaten zurück in ihr Ursprungsland können. «Das Gesetz hat praktisch nichts an der prekären sozialen Realität geändert, die Umsetzung ist zahnlos», beklagt Künzler.

Kosten für die Benutzung von Duschen und Toiletten auf den Raststätten müssen die Fahrer selbst tragen, oder sie werden mit den Löhnen verrechnet. Den Protestierenden in Gräfenhausen war ein Tagessatz von 85 Euro versprochen worden, die Summe unterschreitet den deutschen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde deutlich, der ihnen nach den EU-Regeln zustünde, zumal die Schichten bis zu fünfzehn Stunden lang werden können.

Von dem Betrag würden ihnen häufig nicht nachvollziehbare Summen abgezogen, sagen die Fahrer, etwa wenn Reparaturen anfielen. Selbst bei kleinen Kratzern oder Rissen in der Plane behalte das Unternehmen zusätzlich mehrere Hundert Euro ein, das sei seit Jahren üblich. Dabei, so betonen sie, seien solche Schäden eigentlich durch die Versicherung gedeckt, die ihnen ebenfalls abgezogen werde. «Wenn du nachfragst, sagen sie, das ist unsere Sache, das geht euch nichts an», erzählt Koba Kwantaliani.

Anrufe anderer Trucker

In Gräfenhausen sind nun gerade jene Trucker in den Streik getreten, die am untersten Ende der Ausbeutungskette stehen. Aber sie erhalten Unterstützung: durch das Beratungsnetzwerk Faire Mobilität des Deutschen Gewerkschaftsbunds und die niederländische Gewerkschaft FNV, die schon länger miteinander kooperieren. Sie waren vom georgischen Gewerkschaftsbund auf den Protest aufmerksam gemacht worden. Aus den Reihen der FNV bestimmten die Streikenden auch ihren Verhandlungsführer: Edwin Atema, der früher selbst Kraftfahrer war. Atema hat Erfahrung mit Fällen krasser Ausbeutung auf Europas Strassen. 2018 unterstützte er philippinische Fahrer, die von einem dänischen Unternehmer über eine polnische Briefkastenfirma für einen deutschen Auftraggeber angeworben worden waren – und sich in einer zähen Auseinandersetzung erfolgreich gegen Lohnprellerei wehrten.

Das scheint auch den Streikenden von Gräfenhausen zu gelingen. Aber kann der Kampf diesmal sogar ein Weckruf für den europäischen Strassentransport werden? Anna Weirich von Faire Mobilität, die von Anfang an vor Ort ist, hofft, dass durch die Aufmerksamkeit auch politisch etwas in Bewegung kommt. Sie wünscht sich eine stärkere Auftraggeberhaftung: Am Ende seien es die Firmen in Westeuropa, die von der Ausbeutung profitierten. Am Dienstag debattierte das EU-Parlament über das Thema. Tags zuvor hatten vier Abgeordnete die Streikenden besucht.

Bis sich wirklich etwas ändert, sind aber weitere Kämpfe nötig. Auch hierfür könnte der Streik ein Anfang sein. Koba Kwantaliani erzählt von Anrufen anderer Trucker, die nach ihrem Erfolgsrezept fragten. Dass sich etwas ändern muss, findet auch ein deutscher Fahrer, der am Sonntag auf dem Parkplatz erscheint, um eine Spende von 150 Euro zu übergeben. «Ich habe Riesenrespekt vor dem, was die Jungs hier machen», sagt er. «Diese Ausbeutung muss aufhören.»

* Namen geändert.

Nachtrag vom 3. August 2023 : Wieder wilder Truckerstreik

Wegen Überfüllung geschlossen: Die deutsche Autobahnraststätte Gräfenhausen West in der Nähe von Frankfurt am Main ist für Lastwagen gesperrt, die gegenüberliegende – Gräfenhausen Ost – ebenfalls. Auf den Parkplätzen steht eine grosse Zahl blauer Lkws, davor sitzen deren Fahrer, auf einer Lkw-Plane kleben in grossen Buchstaben die Worte «Mazur: No money».

Lukasz Mazur ist der Chef jener polnischen Firmengruppe, deren Fahrer schon im März und April auf dem Rastplatz Fahrzeuge festgesetzt hatten, weil das Unternehmen ihnen Geld schuldete. 300 000 Euro konnten die gut sechzig Männer aus Georgien und Usbekistan nach sechs Wochen erkämpfen. Mit ihrem wilden Streik machten sie das System der Ausbeutung auf Europas Strassen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt: Westeuropäische Konzerne und Speditionen beauftragen osteuropäische Fuhrunternehmen, die wiederum (scheinselbstständige) Fahrer aus Nicht-EU-Ländern anheuern, die für Minisummen durch Europa fahren. Wenn sie Pech haben, werden sie am Ende sogar um dieses Geld geprellt.

Daran geändert hat der Streik im Frühjahr nichts. Daher steuerten Mitte Juli abermals mehrere Fahrer ihre Trucks nach Gräfenhausen – «wo die Kollegen ihren Sieg errungen haben», wie einer sagte –, stellten den Motor ab und verlangten ihr Geld. Zunächst schien der Unternehmer diesmal schneller handeln zu wollen, die ersten Trucker erhielten die geforderten Summen schon nach wenigen Tagen. Doch der Strom von Fahrern, die über ähnliche Probleme klagen, riss nicht ab.

Inzwischen stehen mehr als 130 Lkws auf den beiden Raststätten. Mindestens 150 Fahrer, diesmal auch aus Ländern wie Kasachstan, Tadschikistan und der Ukraine, sollen sich dem Protest angeschlossen haben. Seit dem 24. Juli fliesst kein Geld mehr, nun wurde bekannt, dass Mazur Anzeige gegen die Streikenden erstattet hat: Er wirft ihnen Erpressung vor. An ihrer Entschlossenheit ändert das nichts. «Wir bleiben, bis alle bezahlt sind. Einer für alle, alle für einen», sagte ein Streikernder am Wochenende.