Bewegung und Backlash: Teil der Geschichte sein

Nr. 23 –

2019 brachte der Feministische Streik eine halbe Million Frauen und Queers auf die Strasse. Was hat sich seither getan?

Illustration von Katharina Reidy: Streikaufruf

«Die Frauenfrage in der Gegenwart ist eine akute geworden. Auf der einen Seite werden die Ansprüche immer radikaler, auf der anderen wird die Abwehr immer energischer»: So beschrieb die deutsche Frauenrechtlerin Hedwig Dohm im Jahr 1902 den patriarchalen Backlash – in jener Zeit also, als die Suffragetten in Grossbritannien und den USA das Frauenwahlrecht erstritten. Gross ist der Widerstand des Patriarchats gegen seine Überwindung bis heute. Das zeigt sich in der Brutalität des iranischen Regimes gegen den feministischen Aufstand im Land (vgl. «Eine Revolution braucht Zeit»). Es wird deutlich in den USA, wo zuletzt fast der gesamte Süden des Landes das Abtreibungsrecht drastisch eingeschränkt hat. Und wie überall, wo ein Stück Teilhabe erkämpft wird, zeigt sich die Gleichzeitigkeit von Emanzipation und Backlash auch in der Schweiz.

Der Feministische Streik 2019 hat Geschichte geschrieben, er markiert einen Höhepunkt der aktuellen Bewegung: Eine halbe Million Frauen und Queers hatten sich in den Strassen versammelt; selbst Bürgerliche und Bundesrätinnen schlossen sich dem Protest an, als ihnen die Dimension bewusst wurde. Unvergessen bleibt das Gefühl des Aufbruchs an diesem Tag.

Demonstration beim Frauenstreik in der Kramgasse, Bern, 14. Juni 2019.
Bern, Kramgasse, 14. Juni 2019. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Durchschaubar und unangebracht

Noch nie – seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 – sassen so viele Frauen im Parlament wie jetzt. Das Sexualstrafrecht wurde zügig revidiert. Und die Migros schreibt inzwischen von «Genossenschafter*innen». Je lauter deswegen das Geschrei von «Gender-Terror» und «Woke-Wahnsinn», umso offensichtlicher wird: Es verändert sich etwas. Hier setzt nicht die SVP eine Agenda, an der sich die Linke abarbeitet – sondern umgekehrt. Es ist ein Kampf um Deutungshoheit; und je vehementer die Reaktion ihre Machtansprüche zu verteidigen versucht, umso durchschaubarer und unangebrachter erscheinen diese.

Auf der Strasse werden feministische Demonstrant:innen nicht mehr belächelt, sondern von der Polizei eingekesselt und auf den Kopf geschlagen (8. März 2021, Zürich) oder mit Gummigeschossen angegriffen (8. März 2023, Basel). Greifbar wird die Beharrlichkeit des Patriarchats aber auch, sobald es um die tatsächliche Umverteilung von Zeit und Geld geht: Vergangenes Jahr stimmten 65 Prozent der Männer für die Erhöhung des Frauenrentenalters – trotz der anhaltenden Lohnungleichheit, des grösseren Risikos für Altersarmut bei Frauen und der vielen von Frauen unbezahlt geleisteten Care-Arbeit.

Der «Vaterschaftsurlaub» beträgt zwar nicht mehr nur einen Tag, sondern vierzehn Tage – die helfen einer gleichberechtigten Elternschaft aber etwa so viel, wie zwei Wochen Urlaub bei einem akuten Burn-out: nicht viel. Nicht zuletzt ist die seit 2022 erlaubte «Ehe für alle» schön und romantisch – «keine Ehe für niemanden» könnte aber noch viel schöner und befreiender sein.

Demonstration in Lausanne, 14. Juni 2021.
Lausanne, 14. Juni 2021. Foto: Laurent Gilliéron, Keystone
auf den Boden gesprayte Lila Faust
Zürich, 14. Juni 2019. Foto: Ursula Häne

Weg mit dem Korsett

Es ist an der feministischen Bewegung, dem Backlash entgegenzutreten – und verständlich zu machen, dass alle Menschen gewinnen würden, wenn wir unsere Leben aus dem starren heteronormativen Korsett befreiten. Verständlich zu machen, dass nicht Queerfeminismus die Gesellschaft spaltet, sondern Sexismus, Rassismus und Kapitalismus; dass männliche Besitzansprüche auf Körper und Diskurse zerstörerisch und im schlimmsten Fall tödlich sind. Und dass demgegenüber Care das ist, was die Welt zusammenhält: die Sorge für Kinder, alte und pflegebedürftige Menschen, genauso wie die Sorge für die Natur. Care bedeutet Solidarität und Zärtlichkeit, sich zusammenzutun und füreinander einzustehen.

Von der Jina-Revolution im Iran bis zur «Ni una menos»-Bewegung in Lateinamerika: Feministische Kämpfe sind Kämpfe für das Leben – ein gutes Leben für alle. Oder wie es die Autorin Audre Lorde formuliert: «Wir gestalten die Zukunft, und wir halten zusammen, um den enormen Druck der Gegenwart zu überleben; und nichts anderes bedeutet es, ein Teil der Geschichte zu sein.»

Demonstration in Zürich, 14. Juni 2022.
Zürich, 14. Juni 2022. Foto: Sabina Bobst, Lunax
Zürich, Limmatquai, Demo am 7. März 2020 zum internationalen Tag feministischer Kämpfe.
Zürich, Limmatquai, Demo am 7. März 2020 zum internationalen Tag feministischer Kämpfe. Foto: Ursula Häne