Care-Arbeit: Rund um die Uhr

Nr. 23 –

Soraya Richenberger betreut seit 27 Jahren ihren Sohn mit Behinderung. Agnesa Kowalski arbeitet als 24-Stunden-Betreuerin in Haushalten. Beide wehren sich gegen ein Leben in Zeitarmut.

Soraya Richenbergers Sohn Joel kommt von der Toilette zurück. Er streckt den Daumen hoch und lächelt. Heisst: Er hat es alleine geschafft, mit dem Lift zu den WCs des Cafés hinunterzufahren, die Tür mit dem Schlüssel zu öffnen und zu schliessen, zurückzufinden. Selbstverständlich ist das nicht. «Wir üben das gerade ein bisschen», sagt seine Mutter, eine adrette Frau Ende fünfzig.

Als Joel vor 27 Jahren geboren wurde, fielen zunächst einmal seine körperlichen Gebrechen auf: eine ausgeprägte Skoliose, also eine starke Verkrümmung der Wirbelsäule, Herz- und Lungenprobleme. Ein Syndrom, das seine Geburtsgebrechen erklären würde, konnten die Ärzte nicht diagnostizieren. Bis heute nicht. Klar ist: Neben den körperlichen Einschränkungen hat Joel eine starke Entwicklungsverzögerung, die zudem von autistischen Zügen begleitet ist.

Ihr Exmann, sagt Richenberger, sei mit all dem nicht klargekommen. Von Anfang an sei er kaum präsent gewesen – und dann war er bald einmal ganz weg. Heute sehe er seinen Sohn unregelmässig in grossen Zeitabständen.

Total verknüpft

Spätestens mit dem ersten Kind kommt die Gleichstellung für die allermeisten Frauen ins Wanken. Hat das Kind eine Behinderung, ist dies aufgrund des erhöhten Betreuungsaufwands noch weit stärker der Fall. Und alleinerziehende Mütter von Kindern mit Behinderung, die wie Soraya Richenberger voll auf die Betreuung zurückgeworfen werden, sind vom System gar nicht erst mitgedacht.

Richenbergers Tag beginnt meist mit einem aufwendigen Weckritual. Ihr Sohn komme ohne viel Überzeugungsarbeit und Hilfe nicht aus dem Bett, erzählt sie im Garten ihrer Dreizimmerwohnung in einer Wohnsiedlung ausserhalb von Basel. «Er würde einfach liegen bleiben, bis irgendwann das Bett nass wäre», sagt sie. Nach dem Aufstehen wäscht sie ihren Sohn, der nachts Windeln trägt, hilft ihm beim Anziehen, wie man es bei drei- oder vierjährigen Kindern macht. «Ich muss ihn immer wieder daran erinnern, dass er weitermachen soll. ‹Komm, jetzt noch die Hose.› Er verliert sehr schnell den Fokus.»

Was ebenfalls zu Joels Behinderung gehört: Blockaden, die plötzlich auftreten. Dann klammert sich der 27-Jährige etwa im Bus an eine Stange, ist nicht mehr zu bewegen. Das kann Stunden dauern.

Immer wieder hört Richenberger, dass sie sich halt etwas mehr Freiräume schaffen müsse. Ihren Sohn öfter einmal abgeben. Dabei habe sie den «normalen» Weg doch versucht, sagt sie. «Normal», das hiesse, den Sohn in einer Institution betreuen lassen und selber arbeiten gehen. Beides sei schwierig umzusetzen, sagt die Alleinerziehende: Verschiedene Versuche mit Heimplatzierungen seien gescheitert, weil die Betreuer:innen der personell dünn besetzten Wohngruppen immer wieder mit Joel überfordert gewesen seien. «Man rief mich oft an, und ich musste einspringen.» Zuletzt brach Richenberger einen Versuch bei einer Werkstätte ab, wo Joel in der Küche beschäftigt war. Die Arbeit habe ihn überfordert.

Und dann ist da die andere Seite der Geschichte: «Wer würde mich noch anstellen?», fragt Richenberger. Sie hat zwar eine KV-Lehre abgeschlossen, verfügt aber kaum über Berufserfahrung, weil sie in der Ehe das klassische Ernährermodell lebte und nach der Geburt des Sohnes von seinen Bedürfnissen komplett in Anspruch genommen wurde. «Heute sind mein Sohn und ich total miteinander verknüpft», sagt Richenberger. «Das ist nicht gut.»

Ein bemerkenswertes Urteil

Das System hat für Frauen wie Soraya Richenberger keine Wertschätzung übrig. Die Sozialversicherungen decken zwar die medizinischen und die betreuungstechnischen Ansprüche von Menschen mit Behinderung. Doch für Angehörige, die eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung leisten und deshalb kein Einkommen erzielen, sorgt der Staat nicht. Sie haben keinen gesetzlich geregelten Anspruch auf eine Vergütung ihrer Arbeit. «Betreuungspersonen werden zwar bezahlt, die Politik hat direkte Verwandte aber mit dem Kostenargument explizit rausgenommen», sagt Sara Brandon-Kaufmann, Juristin und Expertin für Sozialversicherungsrecht. «Und betroffen sind dann eben meist Frauen.»

«Mir wäre nur die Sozialhilfe geblieben», sagt Richenberger. Anstatt das zu akzeptieren, zog sie vor das Kantonsgericht Basel-Landschaft. Und dieses fällte 2017 ein bemerkenswertes Urteil: Es sprach Richenberger einen Lohn von 4000 Franken für die Betreuung ihres Sohnes zu, finanziert über dessen Ergänzungsleistungen. Die Sache hat jedoch mehrere Haken: Bei jeder Stunde Fremdbetreuung wird Richenberger Geld abgezogen. Für Krankheitsausfälle wird sie nicht bezahlt, Ferien werden ihr nicht gewährleistet. All das hat ihr Anwalt beantragt, ist damit aber gescheitert. Auch altersversichert ist Soraya Richenbergers «Lohn» nicht.

Das meint Richenberger, wenn sie von «Verknüpftsein» spricht. «Sollte sich mein Sohn vor meinem Rentenalter entscheiden, dass er den grösseren Teil des Alltags in einer Institution leben will, wäre meine Situation von heute auf morgen prekär», erklärt sie. «Manchmal hab ich Angst, dass er das spürt und in seiner Entscheidung nicht frei ist.» In ihr selbst wiederum hat sich das Gefühl festgesetzt, nie nachlassen zu dürfen. «Ich bin die Frau, die nicht wackeln darf», sagt Richenberger. «Ich habe keine Zeit für Krankheit, keine Zeit für Unfälle.»

Gewalt und Erniedrigung

Das Dorf, in das es Agnesa Kowalski* diesmal verschlagen hat, ist aussergewöhnlich schön: alte Fachwerkhäuser inmitten weiter Felder. Die Küche, in der die etwa Sechzigjährige sitzt, hat jedoch wenig Atmosphäre: weisser Plattenboden aus den neunziger Jahren, hellbraune Küchenfront. In der Stube nebenan sitzt ruhig eine betagte Frau auf dem Sofa. «Sie ist nicht aggressiv», sagt Kowalski. «Das ist schon einmal sehr gut.» Kowalski ist eine vitale Frau, sportlich, humorvoll. Die Stelle bei der betagten dementen Frau ist die fünfte, die die Polin seit ihrer Rückkehr in die Schweiz vor drei Jahren angetreten hat, vielleicht gar die sechste, ganz sicher kann sie das nicht sagen. Ihre Berichte sind haarsträubend: Da war der gut siebzigjährige Mann, der wenig pflegebedürftig gewesen sei und sie abends auf dem Sofa jeweils zu begrapschen versucht habe. Da war das alte Paar, das ihr verboten habe, von den Mahlzeiten zu essen, die sie selbst frisch zubereitet hatte. Ihr hätten nur die Reste der Vortage zugestanden. Der Mann sei zudem gewalttätig gewesen, «auch gegenüber seiner dementen Frau».

2014 ist Kowalski zum ersten Mal zum Arbeiten in die Schweiz gekommen, nachdem sie in Polen ihren Job als Technikerin verloren und keinen neuen gefunden hatte. Lange Jahre machte sie die Arbeit als 24-Stunden-Betreuerin auch in Deutschland. Da sei die Situation noch schlimmer gewesen, sagt sie. «Alles Schwarzarbeit.»

Im idyllischen Fachwerkdorf lebt Kowalski erst seit zwölf Tagen. Mit im grossen Haus wohnen auch mehrere Kinder der dementen Frau. Gleich neben deren Zimmer im Erdgeschoss hat Kowalski ein eigenes bezogen. Sollte die Frau nachts aufwachen und nach ihr rufen: Kowalski müsste aufstehen und sich um sie kümmern. Sie kocht für sie, kauft ein, putzt. Wenn Kowalski sagt, diese Stelle sei eine gute, dann meint sie damit, dass sie hofft, nicht komplett über den Tisch gezogen zu werden, Respekt zu bekommen. Denn längst hat sie erfahren, was das System der 24-Stunden-Betreuung im Grundsatz bedeutet: ständiges In-Bereitschaft-Sein. Sich nie in ein eigenes Zuhause zurückziehen können. Nie abschalten. «Jetzt ist es zwar ruhig», sagt Kowalski. «Aber ich sitze hier am Tisch. Sitze hier, sitze hier.»

In der Schweiz unterstand die 24-Stunden-Betreuung bis vor kurzem prinzipiell nicht dem Arbeitsgesetz, weil Angestellte von Privathaushalten von dessen Schutz explizit ausgenommen sind. Karin Schwiter, die an der Universität Zürich zu Arbeitsgeografie mit Schwerpunkt Geschlechterverhältnisse forscht, sagt: «Darin spiegelt sich die sehr alte Norm, dass frauentypische Arbeit weniger hoch gewertet wird als männertypische. Das Arbeitsgesetz ist während der Industrialisierung entstanden – und müsste in dieser Hinsicht längst reformiert werden.» Der Ständerat aber hat genau das im letzten Jahr äusserst knapp abgelehnt: Mit einer Stimme Unterschied versenkte er eine entsprechende Reform.

Feilschen um Zeit

Gleichzeitig hat sich die Branche in den letzten Jahren zunehmend organisiert. Und sich Anfang 2022 mit gewerkschaftlicher Hilfe einen Erfolg vor Bundesgericht erkämpft: Dieses hat entschieden, dass zumindest für diejenigen 24-Stunden-Betreuer:innen, die über eine Personalverleihfirma beschäftigt werden, das Arbeitsgesetz gilt. «Das ist ein Anfang», sagt Schwiter. Nun werde sich zeigen, dass das Modell gar nicht aufrechterhalten werden könne, wenn die arbeitsrechtlichen Grundsätze zu Ruhezeiten und Gesundheitsschutz eingehalten werden müssten. «Das wird der Forderung nach Unterstellung des Privathaushalts unter das Arbeitsgesetz neuen Schub verleihen», sagt Schwiter.

Das Problem derzeit: Die meisten 24-Stunden-Betreuerinnen sind, wie auch Agnesa Kowalski, eben nicht über Personalverleihfirmen eingestellt – sondern entweder privat oder über Vermittlerfirmen, die ihren Sitz oft im Ausland haben. So sei sie flexibler, sagt Kowalski, könne etwa mit der Familie aushandeln, dass sie zwischendurch auch einmal für ein paar Tage nach Polen fahre. Dort hat sie ein Haus, dort lebt ihr Mann. Mit der Zeit sei man sich allerdings etwas fremd geworden, sagt Kowalski. «Ich frage mich oft: Wo ist jetzt eigentlich mein Platz?» Hier in der Schweiz hat sie begonnen, um diesen zu feilschen. Am Nachmittag, wenn sie drei Stunden frei hat, fährt sie mit dem Velo in die Stadt, an ihrem einzigen gänzlich freien Wochentag mit dem Zug in die Berge. Das sei ihre Zeit, sagt sie. Die lasse sie sich inzwischen nicht mehr nehmen.

Auch darum, welche Arbeiten sie im Haushalt übernimmt, feilscht Kowalski. «Kochen ja, Fensterputzen nein», sagt sie. «Ich lasse mich nicht mehr von morgens um acht bis abends um zehn Uhr einspannen.»

Soraya Richenberger träumt von mehr Gemeinschaft. Am liebsten würde sie auf Teneriffa ein Projekt verwirklichen, das sie «Casa Glücksstern» nennt. Auf Teneriffa verbringt sie mit ihrem Sohn inzwischen so viel Zeit wie möglich, denn das warme Meeresklima hilft gegen die Osteoporose, die zu seinen Gebrechen hinzugekommen ist. Das Geld dafür kratzt sie bei Stiftungen zusammen. Richenberger stellt sich eine Unterkunft vor, in der sich Familien vom strengen Alltag mit Kindern mit Behinderung erholen können. Einen Ort, wo sie mit anderen Betreuer:innen gemeinsam wohnen kann. «Einmal einen Tag für mich haben», sagt sie. «Dingen nachgehen, die mich jenseits der Mutterrolle interessieren. Tanzen zum Beispiel.» Sie fühle sich oft wie eine Unternehmerin, die komplett fremdbestimmt und ohne Rechte sei.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte Richenberger ein Burn-out. Sie überlegt derzeit, ob sie sich bei der Spitex anstellen lassen soll, die pflegenden Angehörigen seit kurzem diese Möglichkeit bietet. Dann würde ihr aber wahrscheinlich der erstrittene Betreuungsbetrag wieder gestrichen. Es bleibt ein Balanceakt.

* Name geändert.