Chile: Knochen in der Wüste

Nr. 36 –

Fünfzig Jahre nach dem Militärputsch machen Frauen auf ihre Gewalterfahrungen während der Diktatur aufmerksam. Viele von ihnen spielten eine zentrale Rolle im Widerstand.

Stoffarbeit des Movimiento Pro-Emancipación de las Mujeres de Chile zur Erinnerung an den Pinochet-Putsch von 1973
Bordando la memoria» (Wir sticken Erinnerung): Stoffarbeit des Movimiento Pro-Emancipación de las Mujeres de Chile zur Erinnerung an den Pinochet-Putsch von 1973.

Lelia Pérez ist sechzehn Jahre alt und trägt eine Schuluniform, als sie in ein Folterzentrum gebracht wird. Sie zittert am ganzen Körper. «Hier bin ich zerbrochen. Und ich habe mein ganzes Leben versucht, die Stücke zu finden», sagt sie, als sie fünfzig Jahre später erneut im Eingang der Sporthalle steht, die damals Estadio Chile hiess und in der das Militär in den Tagen nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 Hunderte Gefangene festhielt, folterte, ermordete. Zum ersten Mal ist sie mit ihrer Schwester und ihrer Tochter zurück an diesen Ort gekommen. Sie haben Tränen in den Augen, als sie ihr dabei zuhören, wie sie sich an den Tag ihrer Verhaftung erinnert.

3399 Frauen hat der chilenische Staat 2001 als Opfer politischer Gefangenschaft und Folter der Militärdiktatur von Augusto Pinochet, die von 1973 bis 1990 dauerte, anerkannt; so stand es im Bericht der Wahrheitskommission Valech. Insgesamt registrierte die Kommission mehr als 30 000 Opfer, 2011 korrigierte sie die Zahl auf 40 000. Die Dunkelziffer ist vermutlich viel höher, weil viele Opfer bis heute schweigen. Fünfzig Jahre nach dem Putsch sind nur wenige Täter verurteilt worden, rechte Parlamentsabgeordnete leugnen die Verbrechen und rechtfertigen die Diktatur. Die Frauen, die Widerstand gegen das Militärregime leisteten, kämpfen bis heute für Gerechtigkeit.

Portraitfoto von Lelia Pérez
«Ich bin kein Opfer, ich bin eine Überlebende»: Lelia Pérez.

Lelia Pérez kommt aus einer linken Familie: Ihre Grossmutter kämpfte für das Frauenwahlrecht, ihr Grossvater war Kommunist, ihre Eltern unterstützten das linke Parteienbündnis Unidad Popular, dessen Kandidat Salvador Allende 1970 zum ersten sozialistischen Präsidenten Chiles gewählt wurde. Sein Ziel: Sozialismus auf demokratischem Weg. Er führte eine Agrarreform durch, verstaatlichte Schlüsselindustrien und erhöhte die Sozialausgaben.

Die letzte Rede

Pérez selbst war in der Schüler:innenbewegung aktiv, am Wochenende half sie in den Armenvierteln bei der Alphabetisierung. Sie war Mitglied des MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria), der Bewegung der revolutionären Linken. Der MIR trat der Unidad Popular nicht bei, vielmehr strebte er die Revolution der arbeitenden Klasse an. Der MIR versuchte die Revolution durch den bewaffneten Kampf zu erreichen, während die Unidad Popular einen friedlichen Weg verfolgte. «Wir wussten, dass es eine Gegenrevolution geben und sie nicht friedlich ablaufen würde», dagt Pérez. Der MIR ist eine der Organisationen, die später bewaffneten Widerstand gegen die Diktatur leisteten. Viele Mitglieder wurden verhaftet, gingen ins Exil oder in den Untergrund.

Allende hatte die Rechte der Arbeiter:innen verbessert. Schulbildung und Gesundheitsversorgung waren kostenlos, jedes Kind bekam täglich einen Liter Milch.

Sandra Palestro war damals Anfang zwanzig und Mitglied der Sozialistischen Partei, ebenso wie ihr Vater, ein Parlamentsabgeordneter. Weil es an Lehrkräften fehlte, um das Bildungsprogramm umzusetzen, arbeitete sie während Allendes Regierung von 1970 bis 1973 als Grundschullehrerin. «Wir waren voller Idealismus. Wir wollten alles verändern», sagt Palestro. «Ich bin froh, dass ich diese leuchtende Phase der Menschheit miterlebt habe.»

Am Tag des Putsches, dem 11. September 1973, ist die sechzehnjährige Lelia Pérez aufgeregt, als sie in die Schule kommt. Sie hat nicht für ihre Klassenarbeit gelernt. Gegen 8.30 Uhr unterbrechen die Lehrer:innen den Unterricht und lauschen gemeinsam mit den Schüler:innen der letzten Rede des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. «Ich werde die Loyalität gegenüber dem Volk mit meinem Leben bezahlen», sagt er. Gemeinsam mit ihren Klassenkamerad:innen sieht Lelia von einem Turm des Schulgebäudes aus dabei zu, wie die Luftwaffe den Regierungspalast La Moneda bombardiert. Sie hört Schüsse, Sirenen, Helikopter. Weniger als 24 Stunden später wird sie verhaftet.

Die Carabineros zwingen sie, sich mit dem Gesicht nach unten auf die Strasse zu legen, die Hände über dem Kopf. Sie laufen über sie und schlagen auf sie ein. Sie sagen, Allende sei ein Feigling und habe Selbstmord begangen. «Was sie nicht erwähnten, war, dass sie das Regierungsgebäude mit dem Präsidenten darin bombardiert hatten», sagt Pérez.

die Tribüne des ehemaligen Estadio Chile, das unter Pinochet als Gefängnis für politische Gefangene diente
Ort der Erinnerung an den Schrecken: Die Tribüne des ehemaligen Estadio Chile, das unter Pinochet als Gefängnis für politische Gefangene diente.
Raum im Estadio Víctor Jara, ehemals Estadio Chile
Hier übten die Erschiessungskommandos: Raum im Estadio Víctor Jara, ehemals Estadio Chile.

Die Polizisten bringen sie in die Universidad Técnica del Estado und von dort aus gemeinsam mit Hunderten Studierenden, Dozenten und Lehrerinnen ins Estadio Chile, wo sie drei Tage festgehalten wird. Heute trägt die Sporthalle den Namen Estadio Víctor Jara, benannt nach dem Sänger und Musiker, der dort gefoltert und ermordet wurde.

Als Lelia Pérez heute auf einem der Sitze auf der Stadiontribüne sitzt, erinnert sie sich daran, dass sie gezwungen wurde, mit den Händen über dem Kopf durch die Halle zu laufen, während Soldaten ihre Gewehre auf sie richteten. Sie musste zusehen, als die Militärs einen Gefangenen erschossen. Die Halle hatte keine Fenster, weshalb sie jegliches Zeitgefühl verlor.

«Wir waren wie Versuchskaninchen. Sie probierten ihre Foltermethoden an uns aus.» Was ihr sonst noch angetan wurde, möchte Pérez nicht aussprechen. Aber es steht im Dokument einer Anklage, die sie 2015 gegen die Militärs erhoben hat. In einer Umkleidekabine der Sporthalle wurde sie entkleidet und geschlagen. Die Militärs führten eine Waffe in sie ein, folterten sie mit Elektroschocks und vergewaltigten sie mehrfach.

Spezifische Form der Gewalt

Sandra Palestro wird am 2. November 1973 mit ihrer Schwester verhaftet und ins Nationalstadion gebracht; ein weiteres der über tausend Gebäude, die das chilenische Militär in Gefangenen-, Folter- und Konzentrationslager verwandelt. Dort bleibt sie fast einen Monat lang. Die Militärs foltern und vergewaltigen sie. Sie fragen sie nach dem Aufenthaltsort ihres Vaters Mario Palestro. Er ist zu dem Zeitpunkt einer der zehn meistgesuchten Männer des Landes. Sandra Palestro schweigt fünfzehn Jahre lang über das, was ihr angetan wurde, bis sie psychisch zusammenbricht und sich in psychiatrische Behandlung begibt.

«Fast alle Frauen erlebten in den Folterzentren Formen sexualisierter Gewalt», sagt sie. Aber viele Frauen schwiegen jahrzehntelang oder schweigen bis heute. «Wir hatten keine Worte für den Horror, den wir erlebt haben.» Nicht wegen der Scham, der Grund sei ein tief sitzender, politischer: «Der gesellschaftliche Schaden und der Schmerz wurden in den privaten Raum eingeschlossen, als ein Problem der Familie, über das nicht öffentlich gesprochen wurde.»

Portraitfoto von Sandra Palestro
«Wir Frauen erleben Gewalt in Zeiten des Krieges und in Zeiten des Friedens»: Sandra Palestro.

Was Lelia Pérez und Sandra Palestro erlebt haben, ist eine geschlechtsspezifische Form der Gewalt: politische sexualisierte Gewalt. Immer mehr Frauen, die während der Diktatur verfolgt, gefangen und gefoltert wurden, sprechen darüber und setzen sich dafür ein, dass diese Form der Gewalt als Menschenrechtsverbrechen anerkannt wird. «Bisher wurde die sexualisierte Gewalt in den Gerichtsverfahren unsichtbar gemacht», sagt die chilenische Anwältin Magdalena Garcés, die auch Lelia Pérez vertritt. «Viele Frauen haben lange darüber geschwiegen, denn das Rechtssystem war nicht bereit, ihnen zuzuhören.»

Garcés ist spezialisiert auf Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit Diktaturverbrechen. Sie hat schon Hunderte Opfer vertreten. Die Prozesse bei Fällen von sexualisierter Gewalt seien besonders schwierig. «Die Verfahren sind lang, der Ausgang unsicher und die Strafen meistens sehr niedrig», sagt sie. Es muss das Strafgesetzbuch angewandt werden, das zu Diktaturzeiten gültig war. Es erkennt zwar Vergewaltigung als Straftat an, aber verlangt spezifische Beweise. Häufig ist das schwierig, denn die Frauen hatten die Augen verbunden und wurden von mehreren Militärs misshandelt. Hinzu komme die Reviktimisierung, also dass die Opfer erneut traumatische Erfahrungen durchleben müssen, wenn sie ihre Vergewaltiger identifizieren sollen.

Als Lelia Pérez aus der Sporthalle entlassen wird, nehmen sie Sexarbeiterinnen aus einem nahe gelegenen Bordell auf, waschen sie, geben ihr saubere Kleidung und Geld für den Bus. Sie fährt nach Hause. In den darauffolgenden Jahren ist sie als Teil des MIR weiter im Untergrund aktiv. Sie versteckt andere Verfolgte und hilft ihnen dabei, von einem Ort zum anderen zu gelangen. «So haben wir Leben gerettet.»

Geschichten sticken

Pinochet führte während der Diktatur unter Anleitung der Chicago Boys, chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die an der University of Chicago die Lehren von Milton Friedman und Friedrich Hayek studiert hatten, radikale neoliberale Reformen durch: Er privatisierte das Rentensystem, grosse Teile des Bildungs- und des Gesundheitswesens und baute die erkämpften Rechte der Arbeiter:innen ab. Die nationale Industrie wurde zerstört, Chile sollte sich dem Weltmarkt öffnen.

«Es gab viel Armut. Viele Frauen waren alleine mit ihren Kindern, weil ihre Partner im Gefängnis oder im Exil waren. Wir mussten uns zusammenschliessen», sagt die 72-jährige Sozialarbeiterin Rosa Yáñez. Sie organisierte sich damals mit den Frauen in ihrem Stadtviertel. Sie kochten gemeinsam «ollas comunes», gemeinschaftliche Suppentöpfe. Und sie stickten «arpilleras», bunte Textilarbeiten aus Stoffresten und kleinen Puppen: Sie zeigten Verhaftungen, Folter und Repression. «Für uns war es ein Mittel der Anklage», sagt Yáñez. Es gab damals keine freie Presse, politische Treffen waren verboten. «Die ‹arpilleras› waren die einzige Form, die wir hatten, um uns auszudrücken.»

Portraitfoto von Rosa Yáñez
«Viele Frauen waren alleine mit ihren Kindern, weil ihre Partner im Gefängnis oder im Exil waren. Wir mussten uns zusammenschliessen»: Rosa Yáñez.  

Die Vicaría de la Solidaridad, eine Institution der katholischen Kirche, die während der Diktatur Opfer von Menschenrechtsverletzungen unterstützte, verkaufte die Kunstwerke im Ausland, auch in der Schweiz. Das ermöglichte den Frauen in Chile, mit ihren Stickarbeiten einen Lebensunterhalt zu verdienen und gleichzeitig im Ausland über die Brutalität der Diktatur zu informieren.

Fast fünfzig Jahre später leitet Rosa Yáñez einen Workshop im Haus des MEMCH (Movimiento Pro-Emancipación de las Mujeres de Chile), einer der ältesten Frauenorganisationen in Chile. Jeden Mittwoch treffen sich dort Frauen zum Sticken von «arpilleras». Sie zerschneiden Stoffreste, nähen daraus kleine Puppen und sticken Geschichten. «Wir sticken nicht irgendetwas, sondern wir haben eine politische Position», sagt Yáñez. Zum 50. Jahrestag des Militärputschs verarbeiten sie ihre Erinnerungen an die Diktatur unter dem Motto «bordando la memoria» (etwa: Wir sticken Erinnerung).

Eine Frau hat die Bombardierung des Regierungsgebäudes gestickt, die sie damals vom Fenster aus beobachtete. Eine andere stickte ihre eigene Festnahme durch die Geheimpolizei, wieder eine andere die leeren Gräber der «detenidos desaparecidos», der gewaltsam Verschwundenen. Mit den Stickereien verarbeiten sie auch ihre Wut und ihren Schmerz.

Mehr als 3000 Menschen wurden von Pinochets Militärregime ermordet oder verschwanden spurlos, der Grossteil waren Männer. Sie hinterliessen Frauen, Schwestern, Töchter.

Portraitfoto von Violeta Berríos
«Der Staat hat uns nie bei der Suche nach den Verschwundenen geholfen»: Violeta Berríos.

Eine von ihnen ist Violeta Berríos. Sie suchte fast zwanzig Jahre lang in der Atacamawüste nach dem Körper ihres Lebensgefährten Mario Arguellez Toro. Er wurde am 19. Oktober 1973 mit 25 weiteren Männern in Calama im Norden Chiles hingerichtet. Die Militärs verscharrten ihre Körper anschliessend in der Wüste.

Die Hinrichtung in Calama war Teil der «caravana de la muerte», der Karawane des Todes, eine landesweite Militäroperation, die Pinochet nach dem Putsch angeordnet hatte. Militäroffiziere flogen in einem Hubschrauber durchs ganze Land, suchten Gefängnisse auf und ermordeten über neunzig politische Häftlinge: Mitglieder von linken Parteien, Gewerkschaftsführer, Lehrerinnen, Studierende und einfache Arbeiterinnen. Bis heute sind manche von ihnen spurlos verschwunden.

Der einsame Tanz der Frauen

Violeta Berríos und die Frauen aus Calama gingen mit einer kleinen Schaufel gemeinsam in die «pampa», die Wüste. Sie gruben unter der glühenden Wüstensonne, um nach den Überresten ihrer Angehörigen zu suchen. Jeden Tag, jahrelang.

«Wir hatten damals noch nie etwas von Menschenrechten gehört», sagt Berríos. Ihr Wohnzimmer ähnelt einem Museum. An den Wänden hängen Menschenrechtspreise, mit denen sie ausgezeichnet wurde. Und ein Foto von ihr mit Salvador Allende aus dem Jahr 1972, als er in Calama zu Besuch war. Ihr Lebensgefährte Mario war damals Mitglied des Sicherheitspersonals des Präsidenten.

1991 fanden zwei Männer aus der Kommunistischen Partei, die den Frauen bei der Suche halfen, Knochen in der Wüste, etwa fünfzehn Kilometer von Calama entfernt. Von Mario Arguellez Toro waren eine Rippe und ein Fingerknochen darunter. «Wir müssen dankbar sein, dass wir überhaupt etwas haben. Andere Familien haben gar nichts», sagt Berríos. Sie war froh, dass sie endlich etwas von Mario beerdigen konnte. Anschliessend ging sie jeden Samstag mit ihrer Hündin Shakira zum Friedhof. Bis Shakira starb und Berríos nicht mehr so gut laufen konnte. Viel lieber geht sie aber zur Gedenkstätte, die dort errichtet wurde, wo die Knochen gefunden wurden. Aber da diese in der Wüste liegt, ist sie noch schwieriger zu erreichen.

Die Anwält:innen gehen davon aus, dass die bereits vergrabenen Körper damals mit einem Bagger wieder aus dem Boden gehoben und anschliessend an einem anderen Ort vergraben oder ins Meer geworfen wurden. Deshalb wurden nur Knochenreste gefunden. Die Angehörigen sind mittlerweile so alt, dass sie nicht mehr selbst in der Wüste suchen können. Viele sind bereits verstorben. «Der Staat hat uns nie bei der Suche geholfen», sagt Violeta Berríos.

Berríos ist 85 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Sie hat Schwierigkeiten, ihr Alter anzuerkennen. Wenn sie über die 26 toten Männer spricht, sagt sie liebevoll «los niños», die Jungs. «Ich habe meine Geburtstage nicht mitbekommen. Mein ganzes Leben ist an mir vorbeigezogen, während ich in der Wüste nach den Jungs suchte.»

Die Angehörigen der Verschwundenen und Hingerichteten der Militärdiktatur schlossen sich noch während der Diktatur zu Organisationen zusammen: Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos (AFDD) und Agrupación de Familiares de Ejecutados Políticos (AFEP). Die meisten Mitglieder sind Frauen. Sie spielten eine zentrale Rolle im Widerstand gegen die Diktatur, auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit.

Auch sie wurden vom Militärregime verfolgt. Trotzdem machten sie im öffentlichen Raum auf die Menschenrechtsverletzungen aufmerksam. Am Internationalen Frauenkampftag am 8. März 1978 tanzte eine Gruppe von Frauen der AFDD ohne Partner im Teatro Caupolicán in Santiago den chilenischen Nationaltanz Cueca. Sie waren schwarz-weiss gekleidet und trugen die Fotos ihrer verschwundenen oder ermordeten Angehörigen um den Hals. So entstand die Cueca Sola, der einsame Tanz der Frauen, die die Verbrechen der Diktatur anklagen. 1990 tanzten sie nach der Rückkehr zur Demokratie im Nationalstadion.

Bis heute tanzen die Frauen die Cueca Sola und nicht mehr nur die direkten Angehörigen der Opfer der Diktatur. «Wir wollen die Erinnerung aus dem privaten Raum holen, die Opferrolle aufbrechen», sagt Tania Medalla. Sie ist die Nichte von Ezequiel Contreras, der am 5. Oktober 1973 in Santiago im Alter von 22 Jahren von Militärs ermordet wurde. Obwohl Medalla selbst Angehörige eines Opfers der Diktatur ist, findet sie, dass die Erinnerungsarbeit über die Familien hinausgehen muss. «Wir haben die Geschichte nicht individuell erlebt, sondern kollektiv. Deshalb haben wir alle das Recht, zu erinnern, anzuklagen und zu tanzen», sagt sie.

Medalla ist eine der Gründerinnen des Colectivo Cueca Sola. Die Frauen und die Queers des Kollektivs tragen rote und schwarze Kleidung. Damit wollen sie sich vom Schwarz der Trauer distanzieren und ihre Kampfbereitschaft ausdrücken. Jedes Jahr zum 11. September tanzen sie vor dem Regierungsgebäude La Moneda in Santiago, klatschen im Rhythmus der Musik und lassen ihre roten Tücher wehen. Um den Hals tragen sie Bilder der Verschwundenen und der Ermordeten der Diktatur, aber auch von Opfern von Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen der Gegenwart. Zum Beispiel vom Indigenen Mapuche Camilo Catrillanca, den ein Polizist 2018 erschoss. In diesem Jahr wollen sie fünfzig Tänze tanzen, einen für jedes Jahr, das seit dem Militärputsch vergangen ist.

In den vergangenen Jahren ist feministische Erinnerungsarbeit in Chile präsenter geworden. An einem Donnerstagmittag im August sind hundert Meter in einer Fussgängerzone im Zentrum von Santiago mit Fotos der Opfer von Femiziden ausgelegt. An einer Leine hängen die Fotos der Frauen, die während der Diktatur ermordet wurden oder verschwunden sind. Auch die Stickarbeiten, die «arpilleras», sind hier ausgestellt.

Die Veranstaltung ist Teil der Kampagne des chilenischen Netzwerks gegen Frauengewalt zum 50. Jahrestag des Militärputschs. Ihr Titel: «Las mujeres no olvidamos ni perdonamos ningún golpe». «Golpe» heisst Putsch und gleichzeitig Schlag. Übersetzt heisst der Slogan also in etwa: «Wir Frauen verzeihen und vergessen keinen Putsch und keinen Schlag».

Pakt des Schweigens

Auch Sandra Palestro ist hier, sie ist ebenfalls Mitglied des Netzwerks. «Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass die Gewalt gegen Frauen strukturell ist. Es gibt sie nicht nur während eines bewaffneten Konflikts, sondern immer und überall», sagt sie. Es sei wichtig, die sexualisierte Gewalt nicht auf die Zeit der Diktatur und auf die staatlichen Akteure als Täter zu reduzieren. «Wir Frauen erleben Gewalt in Zeiten des Krieges und in Zeiten des Friedens.»

Dank der Anzeigen und der Aussagen von Violeta Berríos und den Frauen aus Calama ordnete der spanische Richter Baltasar Garzón 1998 die Verhaftung von Augusto Pinochet in London wegen der «Karawane des Todes» an. Aber die Anklage wurde wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit infolge einer Altersdemenz eingestellt. Der Diktator starb 2006, ohne für seine Verbrechen verurteilt worden zu sein. Die Valech-Kommission entschied 2004, die Namen der Täter:innen und der Zeug:innen fünfzig Jahre lang geheim zu halten. Im Militär herrscht ein Pakt des Schweigens.

«Wir kämpfen mit der biologischen Straflosigkeit», sagt die Anwältin Magdalena Garcés. Damit meint sie, dass die Täter langsam wegsterben, bevor sie verurteilt werden.

Denkmal für die Opfer der «Karawane des Todes». Calama, Chile
Denkmal für die Opfer der «Karawane des Todes». Calama, Chile.

«Gerechtigkeit gibt es für uns nicht», sagt Violeta Berríos. «Die Straflosigkeit ist eine Bestrafung für uns.» Sie will ihren Kampf erst aufgeben, wenn alle Verschwundenen gefunden worden sind. Der amtierende linke Präsident, Gabriel Boric, hat einen «plan de búsqueda» angekündigt, eine Suchaktion, um die Verschwundenen der Diktatur zu finden. Aber solange die Militärs keine Informationen preisgeben, wird die Suche in dem über 4000 Kilometer langen Land sehr mühsam bleiben. Berríos wünscht sich von der Regierung ausserdem ein Haus der Erinnerung in Calama, um die jungen Generationen über die Verbrechen der Diktatur aufzuklären.

Lelia Pérez wurde 1975 zum zweiten Mal verhaftet und in der Villa Grimaldi gefoltert. «Hündin, Hure, Marxistin», riefen die Militärs. «‹Hündin›, um mich zu entmenschlichen, ‹Hure›, um mich aus ihrer Sicht zu entwürdigen, und ‹Marxistin›, um mich als Feindin zu positionieren.» Anschliessend ging sie ins Exil nach Venezuela und kehrte 1986 nach Chile zurück – vier Jahre vor Ende der Diktatur. Sie kritisiert die Entpolitisierung durch die Opferrolle in der Erinnerungsarbeit. «Die Opferrolle verschleiert, dass wir verhaftet wurden, um ein politisches Projekt zu zerstören.» Die Folgen davon sind in Chile bis heute zu spüren. Sie sei kein Opfer, sondern eine «sobreviviente», eine Überlebende, sagt Pérez.

Bis heute wartet die 65-Jährige auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs für das, was die Militärs ihr als Jugendliche im Estadio Chile angetan haben. Die Anzeige habe sie nicht für sich selbst erstattet, sondern für alle Frauen in Chile.

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