Im Schweizer Exil: Trotz Verbot politisch aktiv

Nr. 36 –

Um der Gewalt zu entkommen, verliessen Tausende Chilen:innen ihr Land. Manche von ihnen gelangten in die Schweiz. Hier sahen die Bürgerlichen in den links politisierten Geflüchteten eine subversive Bedrohung.

Installation mit Fotos von während der Pinochet-Diktatur Verschwundenen im Museo de la Memoria y los Derechos Humanos in Santiago
Stellvertretend für Tausende: Installation mit Fotos von während der Pinochet-Diktatur Verschwundenen im Museo de la Memoria y los Derechos Humanos in Santiago.
 
Foto: Sofía Yanjarí

Die damals 29-jährige chilenische Dissidentin musste nicht zweimal überlegen, als sie auf der Arbeit einen Anruf erhielt: «Es war die humanitäre Organisation, die ich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis um Hilfe gebeten hatte», erzählt sie heute. Man habe ihr mitgeteilt, dass zwei Visa für die Schweiz für sie verfügbar seien.

Sie sagte sofort zu – und verliess Chile, so wie Tausende weitere Oppositionelle, nachdem vor fünfzig Jahren General Augusto Pinochet gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende geputscht hatte. So wie alle Chilen:innen, die hier zu Wort kommen, viele von ihnen bis heute politisch aktiv, möchte auch sie anonym bleiben.

Freie Plätze

In der Schweiz fürchtete man sich damals vor kommunistischem Einfluss durch die linken Chilen:innen. Ein Kontingent für gerade einmal 250 Geflüchtete vergab der Bundesrat – erst Ende Jahr und erst auf Betreiben des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen.

Andererseits mobilisierte der Putsch die Schweizer Bewegung: Als Reaktion auf die abweisende Haltung der Regierung initiierte Cornelius Koch, der als «Flüchtlingskaplan» bekannt gewordene Priester, eine Kampagne, um kostenlose Unterkünfte für chilenische Geflüchtete zu organisieren. So gelang es, 3000 Schlafplätze in Privathaushalten bereitzustellen und damit zu beweisen, dass – im Gegensatz zur Position der offiziellen Schweiz – genug Platz da war, um Geflüchtete aufzunehmen. Die zivilgesellschaftliche Solidaritätsbewegung nannte sich «Freiplatzaktion», sie ist bis heute aktiv.

Der Druck, den sie mit ihrer Aktion auf den Bundesrat ausübte, zeigte Wirkung. In einer nächtlichen Sondersitzung im Januar 1974 beschloss dieser, die Einreise von chilenischen Geflüchteten zu tolerieren. Er unterstellte sie aber einer Visumspflicht. Eine bürokratische Hürde, die vielen oppositionellen Chilen:innen die Einreise verunmöglichte. Lediglich ein Bruchteil der politisch verfolgten Opposition hatte in der Militärdiktatur die Möglichkeit, ein Visum zu beantragen.

Die Freiplatzaktion organisierte deshalb eine Fluchtroute von Santiago de Chile über Buenos Aires und Mailand in die Schweiz, die es zwischen 2000 und 3000 Geflüchteten ermöglichte, auch ohne Visum in die Schweiz zu gelangen.

Einer von ihnen war Vorsitzender einer Regionalsektion der Sozialistischen Partei Chile. Nachdem er seine Gefängnisstrafe in Chile abgesessen hatte, verweigerten ihm die chilenischen Behörden seinen Pass. Er musste das Land ohne Papiere verlassen, ein Visum stand ausser Frage. Aber es gelang ihm, via Brasilien nach Italien zu reisen. «Mit dem Auto fuhren wir in ein Dorf in Norditalien nahe der Schweizer Grenze», erinnert sich der heute 82-Jährige. Solidarische Schweizer:innen organisierten dann von dort aus die klandestine Reise über die Grenze.

Mit der niedrigen Aufnahmebereitschaft gegenüber linken Chilen:innen und der bereitwilligen Erteilung von Asyl für Geflüchtete aus Ostblockländern verortete sich die «neutrale» Schweiz im Kalten Krieg an der Seite der Westmächte. Nach dem Prager Frühling im Jahr 1968 bekamen rund 12 000 Tschechoslowak:innen hier Asyl. In den Folgejahren des Putschs fanden dagegen insgesamt nur ungefähr 1600 chilenische Dissident:innen in der Schweiz Zuflucht.

Bloss nicht agitieren

Der Schweizer Staat zierte sich nicht nur in Bezug auf die Asylvergabe für die chilenischen Geflüchteten. Er drängte sie auch hier in die Unsichtbarkeit. Rechtliche Grundlage dafür war das damals für Ausländer:innen geltende «Agitationsverbot». «Schliesslich machen wir Sie darauf aufmerksam, dass Ihnen in der Schweiz und von der Schweiz aus grundsätzlich jede politische Betätigung untersagt ist», heisst es in einem positiven Asylentscheid von damals, der der WOZ vorliegt.

Linke Subversion sollte um jeden Preis verhindert werden, wie auch das Beispiel einer dissidenten Geflüchteten zeigt, die bald nach ihrer Ankunft in der Schweiz gemeinsam mit ihrem Mann auf den Polizeiposten gebracht wurde. Beim Verhör sei sie während ungefähr zwei Stunden über ihre politischen Aktivitäten in Chile befragt worden, erinnert sie sich: «Ich wusste nicht, ob man sagen sollte, dass man in Chile politisch aktiv gewesen war oder nicht.»

Über das, was sie in Chile erlebt hatte, sei sie dagegen überhaupt nicht befragt worden. Sie war damals erst 29 Jahre alt. Dass sie und ihr Ehemann im Gefängnis gewesen seien und sie dort monatelang Foltern erlitten hätten, habe die Beamten nicht interessiert, sagt sie heute. «Meinem Ehemann hatte die Folter stark zugesetzt, ihm ging es vor allem psychisch nicht gut.» Ärztliche oder psychiatrische Behandlung sei ihm nicht ermöglicht worden. Wichtiger sei der Polizei gewesen, ob die beiden für die Sowjetunion als Spion:innen gearbeitet hätten. «Ich konnte es nicht fassen, dass man uns solche Fragen stellte.»

Hinzu kam die Überwachung vieler Exilchilen:innen. «An unsere Solidaritätsfeste kamen manchmal auch Polizisten, zivil gekleidet», erzählt ein anderer chilenischer Geflüchteter. «Wir täuschten jeweils vor, sie nicht zu bemerken», sagt er und lacht, als er erzählt, wie die oftmals jungen Zivilpolizist:innen nichts ahnend an den Festlichkeiten teilnahmen und mit den gleichaltrigen Chilen:innen tanzten. «Die Polizisten redeten mit uns, fragten uns aus, und wir spielten mit.»

Der Putsch hatte in der Schweiz eine breite und starke Solidaritätswelle ausgelöst. In den Tagen danach nahmen Tausende von Menschen an heterogenen Solidaritätsdemonstrationen teil: Mitglieder linker Parteien, Gewerkschafterinnen, Studenten, Christinnen und Linksradikale. Letztere griffen in Zürich das US-Konsulat an und liessen sogar bei der Zürcher Filiale der Firma International T­­elephon­­e & Telegraph eine Bombe explodieren, weil sie beide Institutionen der Komplizenschaft mit dem Putsch in Chile bezichtigten.

Schon während Allendes Amtszeit hatte sich in der Schweiz eine Solidaritätsbewegung mit dessen Wahlbündnis, der Unidad Popular, geformt. In den Tagen nach dem Putsch entstanden bald zahlreiche weitere Chile-Solidaritätskomitees. Sowohl die schweizerische parlamentarische Linke als auch sozialistische und kommunistische südeuropäische Exilparteien schlossen sich in den «Associations de soutien à la résistance chilienne» zusammen.

Bührle-Waffen für Pinochet

Auch Kräfte der revolutionären Linken gründeten in verschiedenen Schweizer Städten Chile-Komitees. Sie kritisierten Schweizer Unternehmen, die ihre wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Chile während der Regierungszeit der Unidad Popular aus politischen Gründen reduziert hatten. Und deckten auf, dass beispielsweise die Schweizer Firma Bührle Waffenlieferungen an Chile unter Pinochet tätigte, womit sie die Diktatur direkt unterstützte.

Und trotz der Repression vonseiten der Schweizer Behörden fanden auch chilenische Aktivist:innen Wege, ihre politischen Tätigkeiten im Exil wieder aufzunehmen. Dafür reorganisierten sich viele in ihrer jeweiligen chilenischen Exilpartei. Weil sie wegen des Agitationsverbots nicht öffentlich in Erscheinung treten durften, beteiligten sich ihre Mitglieder zusätzlich in den von Schweizer:innen angeführten Chile-Solidaritätskomitees.

«Wir gingen in die Komitees, um mit den Schweizern zusammenzuarbeiten», sagt einer von ihnen. «Sie waren es, die mit den Behörden Kontakt hatten und sich um die Bewilligungen für Solidaritätsfeste und -demonstrationen kümmerten.» Heute bewerten viele chilenische Aktivist:innen die Zusammenarbeit mit ihren schweizerischen Genoss:innen positiv.

Zusätzlich zu den Komitees und den chilenischen Exilparteien organisierten sich Geflüchtete ausserdem in migrantischen Netzwerken – ohne Schweizer:innen, von denen sich auch manche viktimisiert fühlten. Die Solidaritätsbewegung gegen Pinochets Putsch war international: Auch viele spanische Exilierte engagierten sich darin und zeigten Parallelen zwischen Francos Putsch im Jahr 1936 und jenem von Pinochet auf.

Chile, Spanien, Griechenland!

Zudem schlossen sich viele in der Schweiz wohnhafte italienische Antifaschist:innen den Chile-Solidaritätsstrukturen an. Und eine auf den 15. September 1973 angesetzte antifaschistische Demonstration in Genf gegen das autoritäre Kolonialregime Portugals verschmolz mit Protesten gegen den chilenischen Putsch.

Die Bewegung profitierte von den Erfahrungen bereits länger im Schweizer Exil lebender antifaschistischer Aktivist:innen. Eine wichtige Parole der ersten schweizweiten Demonstration der Chile-Komitees lautete: «Chile, Spanien, Griechenland: Unterstützt den Widerstand!» Die antifaschistische Vernetzung stellte eine transnationale Identität zwischen den Exilierten aus den Diktaturen in Südeuropa und jener in Chile her.

Und obwohl die Chile-Solidaritätsbewegung spezifisch auf dieses Land fokussierte, wurden die Geschehnisse in Chile oftmals im lateinamerikanischen Kontext analysiert. «Alles war abhängig davon, was in ganz Lateinamerika passierte, nicht nur in Chile», erklärt ein chilenischer Exilierter. Er und seine Genoss:innen nahmen an antiimperialistischen Solidaritätsaktionen für die Bevölkerung anderer lateinamerikanischer Länder teil – so unterstützte man sich gegenseitig. «In ganz Lateinamerika gab es Probleme. Überall gab es Diktaturen und Verschwundene. Vereint konnten wir mehr erreichen.»

Ursina Weiler ist Historikerin. Zuletzt forschte sie im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität Zürich zu chilenischer Exilpolitik in der Schweiz in den 1970er und 1980er Jahren.