Israel und Palästina: Erkennen, was uns alle verbindet

Nr. 42 –

Schon vor dem 7. Oktober, an dem die radikalislamische Hamas einen Zivilisationsbruch beging, Babys vor den Augen ihrer Eltern tötete, Kinder, Zivilist:innen und Soldat:innen entführte, wahllos mordete und grauenvolle Massaker verübte, gab es so gut wie keine Grundlage für Palästinenser:innen und jüdische Israelis, miteinander zu sprechen. Es mangelt schon an gemeinsamen Begriffen: Was für die einen die existenziell notwendige Heimstätte für Jüdinnen und Juden ist, ist für die anderen ein kolonialistisches Gebilde, das die Palästinenser:innen ihres Landes beraubt. Seit diesem Tag aber ist der Graben zwischen den Gruppierungen so weit aufgerissen, dass er unüberbrückbar erscheint. Und das spürt man nicht nur in Israel und Palästina, sondern auch in europäischen Städten.

Nach der Explosion in einem Krankenhaus in Gaza am Dienstag, bei dem Hunderte von Menschen zu Tode gekommen sind (die Hamas macht Israel für die Explosion verantwortlich, Israel eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad), warfen Unbekannte zwei Molotowcocktails in ein jüdisches Gemeindezentrum in Berlin Mitte. Unter Jüdinnen und Juden grassiert die Angst, auf die Strasse zu gehen. Einige ändern ihre Namen an ihren Klingelschildern in Müller oder Schmidt.

Ihnen gegenüber stehen die Palästinenser:innen: Demonstrationen gegen die israelischen Bombardements werden in vielen europäischen Städten pauschal verboten. Wohin sollen sie in Europa mit ihrer Trauer und Verzweiflung angesichts der humanitären Katastrophe in Gaza? Selbst eine geplante Kundgebung der GSoA in Zürich für einen «gerechten Frieden in Israel/Palästina» darf auf Beschluss des Stadtrats nicht stattfinden.

Für eine Linke mit menschlichem Gesicht sollte die Forderung klar sein: eine deutliche Positionierung gegen Antisemitismus genauso wie gegen Islamfeindlichkeit.* Solidarität mit den Opfern beider Seiten. Doch was ist eine solche Forderung wert, wenn sie in der Umsetzung unmöglich zu sein scheint?

Wie können sich Jüdinnen und Juden sicher fühlen angesichts der Demonstrationen, an denen Hamas-Unterstützer:innen teilnehmen, wo «Kindermörder Israel» gerufen und ein Palästina «from the River to the Sea» gefordert wird? Wenn Brandsätze in jüdische Gemeindezentren geschmissen werden?

Gleichzeitig fühlen sich Palästinenserinnen und Palästinenser in die Ecke gedrängt, noch weiter, ein weiteres Mal unsichtbar gemacht und ohne Stimme, während im Gazastreifen Verwandte sterben oder fliehen, ohne wirklich zu wissen, wohin, denn Ägypten hält den Grenzübergang weiterhin geschlossen. Dass politische Maulkörbe für Palästinenser:innen dazu führen, dass sich Jüd:innen in Europa sicherer fühlen können, ist zu bezweifeln.

Vielleicht ist es sinnvoll, sich für einen Moment die Hilflosigkeit angesichts der Situation einzugestehen und auf vorschnelle Urteile zu verzichten. Und dann mit etwas Demut auf den «Parents Circle» zu blicken, die wohl beeindruckendste Initiative des Nahen Ostens, in der Palästinenser:innen und jüdische Israelis, die Familienangehörige im Konflikt verloren haben, zusammen für ein Ende des Blutvergiessens kämpfen. Die auch in diesem Moment, in dem die Tore zur Hölle weit offen stehen, gemeinsame Worte finden. Am 8. Oktober schrieben sie: «Es ist eine unbestreitbare Wahrheit, dass die Zeit gekommen ist, die Situation zu ändern. Diese Region hat schon zu viel Schmerz, zu viel Blutvergiessen und zu viele Tränen ertragen müssen. Dies ist ein Moment für alle Beteiligten, über die Sinnlosigkeit dieses anhaltenden Konflikts nachzudenken und die gemeinsame Menschlichkeit zu erkennen, die uns alle verbindet.»

Wenn diese Menschen, die den höchsten vorstellbaren Preis gezahlt haben, sogar jetzt noch dazu in der Lage sind, den Schmerz der anderen zu sehen und eine politische Lösung zu fordern, dann muss es einen Weg geben.

* Korrigenda vom 18. Oktober 2023: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion ist fälschlicherweise von Antiislamismus die Rede.