Ägypten: Eskalation, gewollt von beiden Seiten

Nr. 33 –

Der exzessive Gewalteinsatz gegen die AnhängerInnen der Muslimbrüder soll die Organisation von der politischen Bühne vertreiben. Aber er könnte ihren Wiederaufstieg beschleunigen.

Von den Drohungen der ägyptischen Übergangsregierung, ihre beiden Protestlager mit Gewalt aufzulösen, zeigten sich die AnhängerInnen des Anfang Juli von der Armee abgesetzten Präsidenten, Muhammad Mursi, noch Anfang der Woche wenig beeindruckt. Im Gegenteil: Die Stimmung war ausgelassen. «Pro Demokratie» und «Es lebe die Revolution» war auf Bannern in den Lagern zu lesen.

Zuletzt hatte das Regime Präferenz für eine etwas weniger konfrontative Lösung signalisiert, bei der man die Lager einkesseln und die Wasser- und Stromversorgung hatte abschneiden wollen. Dies hätte die Protestierenden über kurz oder lang mürbegemacht. Doch am Mittwochmorgen begannen Armee und Polizei mit der gewaltsamen Räumung der Lager an der Moschee Rabaa al-Adawija in Nasr-City im Osten Kairos und am Nahdaplatz in Giseh. Sie gingen dabei mit aller Härte gegen AnhängerInnen der Muslimbrüder vor, umzingelten die Lager, feuerten Tränengasgranaten und schossen mit scharfer Munition in die Menge. Mursi-Anhänger versammelten sich überall in der Stadt zu Protestmärschen, es kam zu Zusammenstössen mit Sicherheitskräften. Bis Redaktionsschluss lag die Zahl der von unabhängigen Quellen bestätigten Todesopfer bei weit über hundert. Die Auseinandersetzungen haben sich auf andere Städte ausgeweitet. Am Mittwochnachmittag rief die Regierung den Ausnahmezustand aus.

Das Regime setzt also auf Eskalation und macht es der Bruderschaft mit diesem neuen Massaker leicht, sich als Märtyrer darzustellen. Die Organisation ruft zu weiteren Protesten auf – und giesst damit abermals Öl ins Feuer. «Heute steht in Ägypten jeder vor der Entscheidung: altes Regime oder Demokratie? Bist du für oder gegen den Putsch?», sagt Gehad al-Haddad, der Sprecher der Bruderschaft. Es gebe in Ägypten derzeit nur zwei relevante politische Akteure: «Das alte Regime und wir Muslimbrüder.»

Haddads Aussage ist ein Sinnbild der Polarisierung am Nil, die nicht nur von der Armee, sondern auch von der Bruderschaft gezielt verschärft wird. Die Führungselite der Muslimbrüder hält an ihrer Forderung, der Wiedereinsetzung Mursis als Staatspräsident, fest – so utopisch sie auch erscheinen mag. Ihre Führungskader ziehen sich in die Opferrolle zurück. Mit ihrem Aufruf zu neuen Protesten setzen sie das Leben ihrer AnhängerInnen aufs Spiel.

Gleichzeitig wissen die Muslimbrüder, dass sie auch in Zukunft ein wichtiger politischer Akteur bleiben werden. Ob es der liberalen Übergangsregierung gelingt, Ägypten aus der wirtschaftlichen Krise und hin zur Demokratie zu führen, steht in den Sternen. Die Muslimbrüder, die sich in der Vergangenheit der Armee als Aushängeschild angedient haben, stellen ihrerseits den wirtschaftspolitischen Status quo nicht infrage. Und noch immer verfügen sie über grossen Rückhalt in der Bevölkerung, mit dem sie bei den nächsten Wahlen erneut die meisten Stimmen erhalten könnten.

Die AnhängerInnen der Bruderschaft betonen, Mursis Regierung habe nicht genug Zeit gehabt, das Land zu reformieren. Das alte Regime sei noch an der Macht gewesen und habe die Arbeit des Präsidenten aktiv behindert. Diese weitverbreitete Ansicht ist der Nährboden, auf dem ein erneuter politischer Aufstieg der Bruderschaft möglich wäre. Zwar hat Mursi mit seiner wirtschaftspolitischen Inkompetenz das Land an den Rand des Kollapses geführt und bei Demonstrationen und Streiks selbst oft mit Gewalt reagiert. Doch dies war vor allem in Ägyptens urbanen Zentren der Fall, jedoch nicht auf dem Land, wo die Menschen nach wie vor mit den Folgen der neoliberalen Marktöffnung durch das Regime Hosni Mubaraks zu kämpfen haben. Durch ihre jahrelange karitative Arbeit im Bildungs- und im Gesundheitssektor auf dem Land hat sich die Bruderschaft eine Basis geschaffen, die ihr weiterhin treu ergeben ist.

Nicht nur war Mursis Regierung unfähig, eine konsistente Wirtschaftspolitik zugunsten der verarmten Bevölkerung durchzusetzen. Sie hat durch ihre Arroganz und das sture Bestehen auf dem Recht der Mehrheit die Opposition aus der verfassunggebenden Versammlung vertrieben und von der Regierungsbeteiligung ferngehalten. Damit hat sie das Entstehen einer breiten politischen Front gegen Kader des alten Regimes und der Armee verhindert und die Restauration des Polizeistaats selbst herausgefordert. Dieser schlägt jetzt mit aller Gewalt zurück und provoziert die Bruderschaft gezielt, um die Gewalt gegen sie rechtfertigen zu können.

Der revolutionäre Teil der Opposition hat es schwer, sich gegen das restaurierte alte Regime und die Muslimbrüder zu behaupten. Ein Grossteil der Mursi-GegnerInnen hat sich zudem allzu leicht vor den Karren der Generäle spannen lassen, als diese den Massenaufstand gegen Mursi am 30. Juni instrumentalisierten. Damals hatte sich das Gros der säkularen Opposition auf die Seite der Militärs geschlagen. Der kleinere Teil der Opposition, erklärte GegnerInnen der Bruderschaft wie auch der Militärherrschaft, steht seither auf verlorenem Posten. Die Demonstrationen dieses sogenannten Third Square, des dritten Platzes, sahen – zumindest bisher – wenig Beteiligung.