Festung Europa: «Man kann sich nicht ewig verstecken»

Nr. 23 –

Omar kommt aus einem kleinen Dorf bei Kabul. Nach Monaten auf der Flucht – über die Türkei, Serbien und Ungarn – ist er in Deutschland angekommen. Die WOZ hat den jungen Mann an mehreren Stationen seiner Reise besucht.

«Morgen früh machen wir uns wieder auf den Weg – so Gott will»: Omar (ganz rechts) mit anderen Flüchtlingen in einer Backsteinfabrik im serbischen Subotica. Foto: László Mudra

In der Halle der alten Backsteinfabrik sitzt die afghanische Flüchtlingsgruppe auf dreckiger Pappe, ein kleines Feuer brennt neben der Fensterfront. Es ist ein kalter, trostloser Februarnachmittag im serbischen Subotica. Omar schläft noch, Jacke und Mütze an, eingewickelt in einen Schlafsack. Seine lange Reise geht bald zu Ende: Bis Ungarn und damit in die EU sind es nur noch wenige Kilometer.

Der Wind weht durch das verwahrloste Gebäude, seit dem letzten gescheiterten Privatisierungsversuch Ende der neunziger Jahre gehört das ganze Gelände praktisch niemandem mehr. Auf der Strasse, die in die Innenstadt und dann weiter zur Grenze führt, patrouilliert im Auftrag der EU-Grenzschutzagentur Frontex ab und an ein Wagen der deutschen Bundespolizei. «Bis nach Deutschland ist es aber doch noch ein ganzes Stück», stellt einer aus der Gruppe verblüfft fest, nachdem er einen Blick auf sein Handy geworfen hat.

«Als wäre ich vom Mars gekommen»

«Es gibt Essen!», verkündet ein kaum Fünfzehnjähriger, der gerade verschwitzt auf das Fabrikgelände rennt. Eine kleine Delegation läuft zur angrenzenden Strasse, um die Pakete entgegenzunehmen. Tibor Varga, der vor gut zwanzig Jahren einen evangelischen Hilfsverein in Subotica gegründet hat, kommt jeden Tag auf das Fabrikgelände und bringt Brot, Joghurt, Käse, Orangen, manchmal sogar Kleider. «Noch vor zwei, drei Jahren hätte ich mir nicht mal im Traum vorstellen können, dass ich afghanische und syrische Flüchtlinge versorgen werde», lacht der grosse Mann mit Tarnhose und blauem Käppi. «Doch jetzt ist alles anders, und jemand muss das machen. Die Regierung in Belgrad scheint wenig daran interessiert zu sein, diese Menschen bleiben eh nur wenige Tage in Serbien», erklärt Varga. Er selbst gehört der ungarischen Minderheit an, die hier in der nördlichen Provinz Vojvodina lebt.

«Subotica war immer eine multiethnische Stadt, es gab bisher keine offen rassistischen Zwischenfälle», sagt der Mann. «Aber das bedeutet leider nicht, dass sich alle freuen, wenn muslimische Flüchtlinge plötzlich zum Alltag gehören. Vor allem bei den hier wohnenden Serben weckt das alte Ressentiments aus den Bosnien- und Kosovokriegen.»

Die rund 25 Männer, die vor ein paar Tagen ankamen, kennen diese Hintergründe nicht. «Klar spüre ich, dass man mich auf der Strasse anguckt, als wäre ich gerade vom Mars gekommen», sagt Omar, der nicht nur wegen des Essens geweckt wurde. Schlafsäcke sind Mangelware, man muss abwechselnd schlafen. Die Männer sammeln sich um das Feuer, öffnen die Pakete und machen sich ans Essen: «Wer weiss, wann es wieder was gibt. In Serbien kann man nicht bleiben, so viel ist sicher», sagt einer von ihnen. Das Problem seien weniger die komischen Blicke der Einheimischen als vielmehr die prekären Bedingungen.

Omar ist knapp dreissig und kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Kabul. Als die Taliban 1996 die Macht übernahmen, musste er mit seiner Familie zum ersten Mal fliehen. Den EinwohnerInnen aus der Gegend war kollektiv unterstellt worden, sie hätten die Mudschaheddin-Bewegung unterstützt. Omars Familie ging ins benachbarte Pakistan, wo er sein Studium der Betriebswirtschaft abschloss. Nachdem die Nato-Truppen kurz darauf die Taliban von der Macht jagten, kehrte er nach Kabul zurück und gründete dort ein kleines Bauunternehmen: «Schliesslich redeten damals alle vom Wiederaufbau», sagt er heute. Zunächst lief es gut: Die Firma bekam viele Aufträge und konnte sich schnell entwickeln. Doch dann geriet die politische Situation erneut ausser Kontrolle. Clans, die den Taliban nahegestanden hatten, gewannen an Einfluss, die Lage wurde undurchsichtiger, die Aufträge immer weniger. Vor zwei Jahren bekam Omar die ersten Morddrohungen, alte Kunden und Geschäftspartner vermieden plötzlich den Kontakt. «Ich musste gehen», erzählt der Mann. «Allah ist gross, sonst wäre es vielleicht zu spät geworden.»

Omar ging: Erst über den Iran nach Istanbul, wo er sechs Monate lang in einer Bäckerei Börek rollte, um Geld für die Weiterreise zu verdienen. Dann über Griechenland und den Balkan, bis er hier landete, auf diesem verwahrlosten Fabrikgelände an der serbisch-ungarischen Grenze. «Morgen früh machen wir uns wieder auf den Weg», sagt er, «so Gott will.»

Omar ist praktizierender Muslim, sein Glaube gibt ihm Zuversicht: Er hofft, dass alles gut wird, dass er es in die EU schafft. Er wiederholt das oft – vielleicht eher für sich selbst als für seine Zuhörer. «Die echte Reise beginnt, wenn man ankommt», sagt er. Am nächsten Tag überquert die afghanische Gruppe die Grenze nach Ungarn – und wird auf der anderen Seite prompt von deutschen und ungarischen PolizistInnen festgehalten.

Es ist fast zur industriellen Routine geworden: Letztes Jahr wurden an der ungarischen Grenze laut Frontex rund 45 000 Asylsuchende abgefangen, im ersten Quartal 2015 waren es bereits über 30 000. An den EU-Aussengrenzen überwachen wärmeempfindliche Kameras das ganze Gebiet. Alle Lebewesen werden aufgespürt, dann zoomen die Kameras automatisch heran. Aus dem Kommandoraum werden die Geräte wie bei einem Computerspiel per Joystick gesteuert, um Nahaufnahmen zu erstellen. Bei flachem Gelände können die GrenzbeamtInnen auf Bewegungen schnell reagieren. Entsprechend gering ist die Wahrscheinlichkeit, dass Flüchtlinge diese unsichtbare Mauer durchbrechen.

«Die Stimmung war mies»

Nachdem die ungarischen GrenzbeamtInnen Omar aufgreifen, kommt er zunächst in eine Zelle des Grenzpolizeireviers in der ungarischen Kleinstadt Asotthalom. 2013 ist dort Laszlo Toroczkai zum Bürgermeister gewählt worden, ein Politiker mit Nähe zur rechtsradikalen Partei Jobbik. In den ersten zwei Tagen gibt es jeweils ein Schinkenbrot, auf das Omar aus religiösen Gründen verzichtet. Auch Schikanen und Erniedrigungen durch die Polizei sind an der Tagesordnung, wie er später erzählt: «Sie haben mit physischer Gewalt gedroht, um die Fingerabdrücke schneller abzunehmen.» Von den Details habe er wenig verstanden, die BeamtInnen kommunizierten fast ausschliesslich auf Ungarisch.

Nach ein paar Tagen wird Omar in einem der noch offenen Flüchtlingslager untergebracht, im kleinen Ort Bicske, dreissig Kilometer westlich von Budapest. Das Lager wirkt muffig und marode. Ein hoher Zaun umgibt die gelblichen Baracken, Teile des Mobiliars stammen noch aus der Vorwendezeit.

Inzwischen ist Omar in Ostdeutschland. «Die Stimmung war mies, ich konnte nicht mal den Asylantrag stellen oder jemandem meinen Fall erklären», erzählt Omar von seiner Zeit in Ungarn. Die mageren Geldsummen, die Flüchtlinge in Ungarn bekommen, reichten kaum für nahrhafte Lebensmittel, «wir haben dort hauptsächlich Reis und Kartoffeln gekocht», erinnert sich der junge Afghane.

Dann wurde Omar krank. «Mein Rücken tat nach den langen Märschen weh, ich hatte Fieber. Es hat vier Tage gedauert, bis ich einen Arzt sehen konnte, und der hat mir Wasser mit Salz empfohlen. Es war irrwitzig, das könnte genauso gut meine Oma sagen, die Analphabetin ist.» Der junge Mann wusste damals nicht mehr weiter. Am Tag nach dem Arztbesuch nahm er den ersten Zug nach Deutschland. Er hatte wieder Glück: Niemand hat ihn unterwegs aufgehalten, obwohl österreichische und deutsche PolizistInnen oft in die Waggons ein- und ausstiegen.

Als Omar in München ankam, fragte ein Beamter nach seinen Papieren. «Ich war erleichtert», gibt er heute zu. «Man kann sich nicht ewig verstecken.» Die Behörden brachten ihn in ein Flüchtlingsheim in Thüringen. «Die Bedingungen sind anständig, nicht wie in Ungarn», sagt er. Omar lernt Deutsch, hat sich ein Handy mit Internetanschluss besorgt und kann so endlich mit seiner Familie und seinen FreundInnen kommunizieren. Vor kurzem hat er zum ersten Mal Berlin besucht, die Vielfalt der Stadt gefiel ihm. Weil der 1. Mai auf einen Freitag fiel, ging Omar nach dem Gebet in einer Kreuzberger Moschee noch für die Rechte der Flüchtlinge demonstrieren.

«Die echte Reise beginnt, wenn man ankommt»: Omar vor dem Reichstag in Berlin. Foto: George «Poqe» Popescu

In Thüringen wartet er seit März darauf, dass die zuständige Behörde in seinem Fall eine Entscheidung trifft. Wenn er zurück nach Ungarn muss, droht ihm aller Wahrscheinlichkeit nach eine Inhaftierung. Das wäre gemäss Dublin-Regelung das wahrscheinlichste Szenario, obwohl die deutsche Rechtsprechung in den letzten Monaten nicht mehr so eindeutig war. Wegen der willkürlichen Inhaftierungspolitik sei eine Rückführung nach Ungarn nicht mehr mit den internationalen und europäischen Gesetzen vereinbar, lautete etwa das Urteil eines Berliner Gerichts vor einigen Monaten. Falls Omar in Deutschland bleiben darf, will er sich – inschallah – wieder selbstständig machen.

«Systematische Mängel»

Die Zustände in Ungarn sind auch Schweizer Behörden bekannt. 2012 verweigerte das Bundesverwaltungsgericht die Rückschaffung eines Asylbewerbers nach Ungarn, weil diesem dort Inhaftierung drohe. Anfang 2015 erklärte das Verwaltungsgericht Berlin in einem wegweisenden Entscheid Rückführungen nach Ungarn wegen «systematischer Mängel» für unzulässig. Berichte von der Uno und der NGO Pro Asyl haben diese Mängel genau dokumentiert. Beim Staatssekretariat für Migration gehe man aber «nicht von systematischen Mängeln im ungarischen Asylsystem» aus, heisst es auf Nachfrage der WOZ.

2014 wurden von der Schweiz insgesamt 58 Flüchtlinge nach Ungarn überführt, im ersten Quartal 2015 waren es bereits 47.

Flüchtlinge in Ungarn : Viktor Orbans unmenschliche Asylpolitik

Nicht alle Flüchtlinge kommen über das Mittelmeer nach Europa – viele wählen den Landweg. Aufgrund ihrer geografischen Lage sahen sich zuletzt vor allem südosteuropäische EU-Staaten mit einer rasant steigenden Zahl von Flüchtlingen konfrontiert. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation sind sie vor allem Transitländer, dort bleiben wollen die wenigsten. Gemäss Dublin-Verordnung müssen Flüchtlinge jedoch ihre Anträge in dem Land stellen, in dem sie zum ersten Mal EU-Boden betreten haben. Davon ausgenommen ist das Krisenland Griechenland: Wegen der prekären Bedingungen schicken die meisten EU-Staaten Flüchtlinge nicht mehr dorthin zurück.

So landen viele etwa in Ungarn und müssen dort Asyl beantragen. Reisen sie stattdessen weiter nach Westen, werden sie meistens zurückgeschickt. Anhand der Fingerabdrücke, die an den Aussengrenzen notfalls unter Einsatz von Gewalt abgenommen und in einem gemeinsamen Computersystem gespeichert werden, kann jeder Mitgliedstaat feststellen, wo die Flüchtlinge in die EU eingereist sind und wer für sie zuständig ist.

Für Zehntausende ist also der Rechtspopulist Viktor Orban zuständig. Der ungarische Premier hat seine Position zuletzt deutlich gemacht: Europa brauche keine Einwanderung, illegale Migration sei eine Gefahr für die Sicherheit der Länder, so Orban. Wenn Brüssel nichts unternehmen wolle, werde Ungarn dies im Alleingang tun. Entsprechend plant die Regierung in Budapest eine drastische Verschärfung des Asylrechts: Die Inhaftierung der Flüchtlinge, die im Moment nach wenig transparenten Kriterien verordnet wird und von einheimischen und internationalen NGOs scharf kritisiert wurde, soll zukünftig zum Regelfall werden. Durch die Einführung einer pauschalen Arbeitspflicht sollen andererseits die Kosten für den Unterhalt der Asylsuchenden abgedeckt werden.

Noch hat das ungarische Parlament diese neuen Bestimmungen nicht beschlossen. Zurzeit läuft eine nationale Konsultation, bei der die BürgerInnen zu Orbans Vorschlägen befragt werden. Die ungarische Zivilgesellschaft hat in der letzten Zeit mehrmals gegen die «menschenverachtende Politik» der Orban-Regierung protestiert. Vor allem die Gruppe Migszol (Migrans Szolidaritas) beobachtet die Situation und versucht, die Flüchtlinge zu vernetzen und zu organisieren.
Silviu Mihai