Arabische Staaten: Die Nachbarn halten sich zurück

Nr. 45 –

Die Angst vor einem grossen regionalen Krieg im Nahen Osten ist gross – aber selbst die Erzfeinde Israels scheuen weitere Eskalationen. Denn sie stehen wirtschaftlich unter Druck.

Es war eine Mischung aus Lob, Solidarität mit der radikalislamischen Hamas und einer Warnung: Erst vier Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas auf israelische Bürger:innen vom 7. Oktober meldete sich der Chef der libanesischen Hisbollah-Miliz Hassan Nasrallah erstmals öffentlich zu Wort. Er spottete über die angeblich unbesiegbare israelische Armee und bezeichnete das Nachbarland als zerbrechliches «Spinnennetz», das mit Widerstand zerstört werden könne. Den Terrorangriff der Hamas, die über 1400 Israelis tötete und rund 250 Geiseln nahm, nannte er «weise». «Es war eine zu hundert Prozent palästinensische Entscheidung und eine zu hundert Prozent palästinensische Umsetzung», sagte Nasrallah und widersprach damit Mutmassungen, dass die libanesische Schiitenmiliz am Angriff beteiligt gewesen sei.

Zugleich baute er eine Drohkulisse auf und hielt fest, dass eine Ausweitung des Gazakriegs vom Verhalten der israelischen Regierung abhänge. Allerdings rief Nasrallah nicht wie sonst zur Vernichtung Israels auf.

Hisbollah im Parlament

Die Rede dürfte insbesondere in Israel zu Aufatmen geführt haben. Denn die Hisbollah ist für den jüdischen Staat gefährlicher als die Hamas. Expert:innen der US-Denkfabrik Center for Strategic and International Studies (CSIS) schätzen, dass die Miliz über mehr als 150 000 Bomben, Raketen und andere Flugkörper verfügt. Sie formierte sich 1982 als Widerstandsbewegung gegen die israelische Besetzung, sitzt als politische Kraft im libanesischen Parlament und kontrolliert unter anderem den Süden des Landes und damit auch die Grenze zu Israel. Die vom iranischen Regime unterstützte Miliz führte schon mehrfach Krieg gegen Israel. Seit dem 7. Oktober gibt es im Grenzgebiet fast täglich Gefechte zwischen der israelischen Armee und Hisbollah-Kämpfern.

Der Libanon ist bankrott. Seit 2019 steckt das Land in der katastrophalsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Wegen innenpolitischer Streitigkeiten kann seit einem Jahr kein Staatspräsident gewählt werden. Die Regierung ist nur beschränkt handlungsfähig, Ministerpräsident Nadschib Mikati handelt lediglich als geschäftsführender Regierungschef.

Laut dem UNHCR leben mehr als 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge im Libanon; sie sind dort nicht willkommen. «Der Libanon ist jetzt sehr verwundbar und das Letzte, was er brauchen kann, ist ein weiterer Krieg mit Israel», heisst es in einer Analyse des CSIS.

Trotz eindeutiger Parteinahme für Palästina und ideologischer Verbindungen zur Hamas sind auch die meisten anderen Länder in der Region darum bemüht, die Krise einzudämmen. Selbst die erklärten Gegner Israels wollen nicht in den Krieg eintreten. Rasch dementierte etwa die oberste Führung des Iran jede direkte Beteiligung am Krieg, nicht ohne gleichzeitig ihre volle Unterstützung für die Hamas zu betonen.

Seit der Islamischen Revolution von 1979 ist Israel Irans erklärter Erzfeind. Hatte das iranische Aussenministerium unmittelbar nach dem 7. Oktober noch mit einem Eingreifen gedroht, klang es kurze Zeit später anders. So hat der Iran gar die Einberufung einer Regionalkonferenz vorgeschlagen, um eine Ausweitung des Krieges abzuwenden. Denn mit einem Eingreifen in den Konflikt würde das Land einen offenen Krieg mit Israel riskieren, das wiederum von den USA unterstützt wird. Zudem muss das iranische Regime die eigene innenpolitische Lage im Blick behalten: Der Iran steckt ebenfalls in einer Wirtschaftskrise, immer wieder gibt es Proteste gegen die Machthaber.

Schlüsselrollen im aktuellen Konflikt nehmen Katar und Ägypten ein. So bemühen sich derzeit Mediatoren aus Katar, die israelischen Geiseln freizubekommen. Einige wenige Gefangene wurden durch deren Vermittlung bereits freigelassen. Das Golfemirat verfolgt eine widersprüchliche Aussenpolitik. Es ist Verbündeter der USA, Handelspartner westlicher Staaten und pflegt auch gute Beziehungen zu Israel. In der Hauptstadt Doha befindet sich aber auch das Verbindungsbüro der Hamas. Deren politischer Flügel wird von Katar mit Direktzahlungen unterstützt.

Auch protegiert das Land islamistische Gruppen wie die afghanischen Taliban oder die ägyptische Muslimbruderschaft. Durch die Kontakte zu allen Seiten kann Katar in Konflikten gut vermitteln. Neben der ideologischen Nähe zur Hamas ist es das Streben nach regionalem und internationalem Einfluss, nach Prestige und Anerkennung, das Katar antreibt. Zudem verfolgt das kleine Land am Persischen Golf eine Strategie der Absicherung. Mit seinen rund 2,7 Millionen Einwohner:innen, von denen lediglich rund 300 000 Staatsbürger:innen sind, könnte es sich im Kriegsfall nicht selbst verteidigen. Es braucht Verbündete.

Grosse Hoffnungen auf Mediation werden auch auf Ägypten gesetzt, das schon nach dem Elftagekrieg 2021 zwischen der Hamas und Israel vermitteln konnte und auch jetzt wieder diesbezüglich aktiv ist. Zwar steht die ägyptische Bevölkerung in grossen Teilen auf der Seite der Palästinenser:innen, doch weil Kairo den einzigen nichtisraelischen Grenzübergang in den Gazastreifen kontrolliert, befürchtet es Ströme palästinensischer Flüchtlinge ins eigene Land. Für Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi ein willkommenes Thema, denn Mitte Dezember finden in Ägypten Präsidentschaftswahlen statt. Während Sisi eine Eindämmung des Krieges fordert, schürt er im eigenen Land die Stimmung gegen Israel.

Erdoğan will profitieren

Besonders sticht im derzeitigen Konflikt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hervor. Er hatte sich zu Beginn des Krieges als Vermittler zwischen der Hamas und Israel angeboten. Erdoğan hat glänzende Kontakte zur Hamas, deren Vertreter er schon in seinem Palast in Ankara empfing. Die Hamas hat in Istanbul gar ein Verbindungsbüro. Doch weil beide Seiten kein Interesse an einer türkischen Vermittlung zeigten und damit Erdoğan nicht zu einer Rolle als Friedensstifter auf der internationalen Bühne verhalfen, nutzt er die Krise nun, um sich den Rückhalt seiner ultranationalistischen Kernklientel zu sichern. Für den kommenden März sind Kommunalwahlen angesagt. Bei den Wahlen im Jahr 2019 hatte die AKP die Grossstädte Ankara und Istanbul an die oppositionelle CHP verloren – diese will Erdoğan nun zurückgewinnen. Deswegen inszeniert er sich wieder einmal als Schutzherr der Palästinenser:innen. Zwar forderte er ein Ende der Kämpfe, erklärte aber, die Hamas sei «keine Terrororganisation», sondern eine «Befreiungsorganisation», und beendete damit den vor einem Jahr angelaufenen Normalisierungsprozess in den Beziehungen zu Israel.

Nach einem langjährigen Unterbruch der diplomatischen Beziehungen wegen unterschiedlicher Positionen im Gazakonflikt hatten Ankara und Jerusalem erst 2022 wieder Botschafter:innen ausgetauscht. Vor allem die Türkei hatte sich durch die Annäherung wirtschaftliche Vorteile erhofft. Das scheint nun vorerst unmöglich, denn Israel hat seine Diplomat:innen aus der Türkei abgezogen.