Essay: Gaza ist keine Abstraktion

Nr. 45 –

«Es gibt eine Lösung, ihr sollt euch auflösen in den Widersprüchen, die euch zugefügt wurden»: Der palästinensische Autor Karim Kattan über das Leben im Grenzbereich der Mitmenschlichkeit.

Portraitfoto von Karim Kattan
«Was für ein Horror wird für entsetzlich genug erachtet werden, um endlich die Schwelle zum universellen Grauen zu überschreiten?»: Karim Kattan. Foto: Rebecca Topakian

Vor wenigen Wochen, als die Welt noch eine andere war, bereitete ich gerade eine Rede vor. Ich war nach Innsbruck in Österreich an eine Tagung zur Verbreitung der französischen Sprache eingeladen worden, um über meine Arbeit zu sprechen. Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober erhielt ich eine Nachricht der Organisator:innen. Sie fragten nach dem Titel meiner Rede und verlangten, dass ich darauf verzichte, «die aktuelle Situation zu erwähnen», und «die politische Dimension» aus meiner Rede ausklammere, «um mögliche Eruptionen zu vermeiden». Ich erwiderte, dass ich unter diesen Umständen nicht würde teilnehmen können, da aufgrund der Entwicklungen in meinem Land gerade all meine Tätigkeiten, mein Leben auf dem Spiel stünden. Die Organisatorin beharrte darauf, mich anzurufen, um zu erklären, dass ihr «die aktuelle Situation» gerade sehr verwirrend und kompliziert erscheine, ein potenzielles Minenfeld, weshalb sie einfach sicherstellen wollten, dass ich die passenden Worte fände. «Mir ist klar», fügte sie hinzu, «dass Sie nicht wagen würden, etwas Entsetzliches zu sagen. Ich will nur sichergehen.»

Seither habe ich immer wieder über dieses Gespräch nachgedacht und was es darüber aussagt, wie wir Palästinenser:innen als lebendige, atmende, schreibende, politische Menschen wahrgenommen werden. Dass ich nicht an einer literarischen Veranstaltung teilnahm, ist eine belanglose, lächerliche Folge dessen, was gerade geschieht. Und doch bietet es vielleicht eine Art Rahmen oder Form für das, was ich mich noch immer zu benennen scheue, aus Angst, es könnte wahr werden – das, was jetzt in Gaza und in der Westbank passiert.

«Lass uns», schlug die Organisatorin am Telefon vor, «eine positive Lösung finden.» Doch das Dilemma, das sie verursacht hatte, liess sich nicht lösen. Sämtliche möglichen Lösungen bedingten mein Schweigen. Mir stand nur eine positive Lösung zur Verfügung: meine Existenz zu verleugnen; nach Innsbruck zu reisen und so zu tun, als würde mein Land nicht bombardiert, ausgehungert und verwüstet. So zu tun, als wäre mein Leben nicht schon immer von Apartheid und Kolonisierung bestimmt gewesen.

Wenige Tage später erfuhr ich, dass der Verein Litprom die Preisverleihung für Adania Shiblis Roman «Eine Nebensache» abgesagt hatte, die an der Frankfurter Buchmesse hätte stattfinden sollen. Auch wenn die Literaturwelt dies postwendend verurteilte – und wir müssen Solidarität schätzen, wo immer sie sich zeigt –, war doch allen klar: Das Denken, Schreiben, die Lebensweise von Palästinenser:innen wird mitunter toleriert, aber niemals willkommen geheissen.


Seit Jahren schon wissen wir, dass unsere Menschlichkeit, als Palästinenser:innen, in den Augen der Welt an Bedingungen geknüpft ist – und selbst wenn gewährt, doch nie umfassend anerkannt wird. Manchmal hat man sie uns als Privileg zugestanden, so wir denn höflich, zurückhaltend, quasi unsichtbar blieben.

In den Wochen, die seit dem Telefongespräch vergangen sind, haben wir uns auf etwas zubewegt, das ich nur schwer benennen kann. Die meisten westlichen Regierungen haben sich entschlossen hinter Israel gestellt. Gaza erleidet gerade eine sadistische kollektive Bestrafung in einem noch nie gesehenen Ausmass. Sogar US-Präsident Biden, der britische Premierminister Rishi Sunak und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron flogen ein, sprachen von Unterstützung, ewiger Dankbarkeit, versprachen Hilfsgelder. Sie verteilten feste Handschläge und virile Umarmungen – und nicht einen einzigen Satz über die Massaker in Gaza.

Jene, die eigentlich Friedensvermittler sein sollten, reagierten mit Geringschätzung auf Aufrufe, alle Feindseligkeiten sofort einzustellen. Im Effekt gaben sie Israel damit grünes Licht, völlig ungestraft weiterzumachen, und verschärften so eine beispiellose humanitäre Krise, die ihre Wurzeln in siebzehn Jahren Besetzung und zahlreichen massiven Militärschlägen hat.

Diese mutwillige Vernachlässigung und Entmenschlichung ist der Grund, weshalb wir ein so dringendes Bedürfnis verspüren, alles zu dokumentieren und zu beschreiben, Grosses wie Kleines, damit die Leute auch wirklich verstehen, was auf dem Spiel steht: «Aber das war ein Kind», wollen wir sagen, «und das ein Erwachsener.» Nicht einfach ein Ding, das in einer verwüsteten Stadt einen grauenvollen Tod sterben musste, sondern ein Kind, das am Meer aufgewachsen wäre, das vielleicht ein guter Schwimmer geworden wäre und lausig in Mathe, Autos geliebt hätte oder Kochen. «Und das hier», möchten wir sagen, «war ein Wohnhaus, dies ist ein Restaurant an der Küste, das ein Haus mit Garten, wo jemand gespielt oder sich in der Küche gestritten hat. Und all das ist jetzt weg.»

Das sind Menschen mit Namen, wollen wir sagen, sie hatten ein Gesicht, ein Leben, Freunde, die um sie trauern, falls sie nicht selber mittlerweile tot sind. Und Städte, ganze Städte, vollständig, komplett. Reale Städte und Dörfer, die den Menschen gehörten und jetzt Friedhöfe sind.

In den Medien ist Gaza eine Abstraktion, ein Raum, bestimmt für den gewalttätigen Tod von abstrakten Menschen, die ihn bewohnen. Ihr Tod wird durch natürliche, unpersönliche Mächte herbeigeführt – und nicht etwa durch eine der stärksten Armeen der Welt, gestützt vom mächtigsten Staat weltweit und mit einer Regierung und Menschen, die diese Regierung wählen. Es ist ein zweckdienlicher Rahmen, er wendet Schuld von Israel ab. Die Vernichtung kommt von oben, und jene, die sterben, sollen auch sterben. So, wie es sein sollte.

Da möchten wir etwas richtigstellen: Gaza ist keine Abstraktion. Es ist Küste und Strand, Märkte und Strassen und Städte, die nach Blumen und Früchten benannt sind. Keine Abstraktion, sondern Orte und Leben und Menschen, die ins Nichts bombardiert werden.


Als Palästinenser:innen stehen wir im Grenzbereich der Mitmenschlichkeit. Manchmal eingeladen, aber nicht immer. Dauernd kehre ich zu diesem Telefongespräch zurück, zu einer Stimme am Telefon, die aus einem weit entfernten Land der Menschlichkeit erklingt, in dem ich Gast bin bis zum Beweis des Gegenteils. Die Stimme am Telefon, freundlich, beschwichtigend, verständnisvoll, hörte nicht auf zu wiederholen: «Bitte, Karim, lass uns eine positive Lösung finden.» Die Organisatorin hat mir nicht eigentlich meine Menschlichkeit verweigert. Mein Menschsein war einfach eine sehr lästige Tatsache für sie. Sie musste damit fertigwerden, und es war ihr peinlich.

Sie schlug vor, wir könnten uns über Dinge unterhalten wie «Exil, Erinnerung, Übersetzung, Grenzen», bloss, bitte, ohne Palästina zu erwähnen. Ich fragte mich, wie ich über Exil sprechen sollte, ohne den realen Grund für dieses Exil zu erwähnen, also die Geschichte der Besetzungszeit. Ich fragte mich, woraus «Erinnerung» in diesem Kontext bestünde, wenn nicht im Überleben trotz einer gezielten, seit mehr als einem Jahrhundert andauernden Kampagne, die unser aller Geschichten auslöschen wollte. Ich fragte mich auch, ob sie sich vorstellte, es würde mir Spass machen, über so deprimierende Themen zu sprechen. Glauben Sie mir, lieber würde ich über alles andere sprechen, wenn ich nur könnte. Aber ich kann nicht.

Was sie von mir verlangte, war, jede einzelne Komplikation meines politischen und intimen Seins geniessbar zu machen und zu verharmlosen, ich sollte aufhören, für sie eine Belastung zu sein. Von uns als Palästinenser:innen wird erwartet, dass wir solche Widersprüche mit uns selbst ausmachen: zu leben, ohne darüber zu reden, weshalb wir am Leben sind. Auf gewisse Weise wünschte sie, sehr höflich, ich möge doch, ganz artig, aufhören zu existieren. Was hätte ich also aussprechen sollen in Innsbruck, wenn nicht, dass ich in mein eigenes Verschwinden einwillige?

Heute verstehe ich, was ich während unseres Gesprächs spürte. Den Schatten von Dingen, die ich nicht benennen will. Ich war weder wütend, noch war ich traurig oder empört: Ich war verzweifelt. Ich sprach weiter, konnte nicht auflegen. Konnte nicht sagen: «Nein, ich werde nicht kommen», und auflegen. Ich brauchte diese Stimme am Telefon, die meine Menschlichkeit anerkannte. Für ein paar Minuten war ich überzeugt: Wenn wir auflegten ohne diese Bestätigung von ihr, ohne dass sie mich anerkannte, würde ich mich auflösen.


Das sind die Fakten: kein Wasser, kein Benzin, kein Strom. Oxfam warnt, dass Wassermangel und ein Zusammenbrechen der sanitären Infrastruktur dazu führen werden, dass Cholera und Infektionskrankheiten ausbrechen. Spitäler, Häuser, Schulen, Moscheen und Kirchen werden unterschiedslos bombardiert. Während ich schreibe, wird Gaza in Dunkelheit versenkt, alle Kommunikation nach aussen abgeschnitten. Auf Live-Feeds und in Fotografien flammen Explosionen am Horizont auf. Gaza ist in der Tat zu einem todgeweihten Ort geworden. Und wir, Palästinenser:innen und Humanist:innen weltweit, fragen uns: Was für ein Horror wird für entsetzlich genug erachtet werden, um endlich die Schwelle zum universellen Grauen zu überschreiten?

Als wären den Palästinenser:innen noch immer nicht genug Gräuel zugefügt worden, um die internationale Gemeinschaft zu veranlassen, klar und deutlich die Einstellung aller Feindseligkeiten zu fordern. Die Stimme am Telefon, und mit ihr die meisten um uns, verlangte genau das: Bitte lasst uns eine positive Lösung finden. Wenn ihr nur verschwinden könntet oder – noch einfacher – gar nie existiert hättet. Wenn ihr uns bloss das Grauen, die Vertreibungen, die Bombardierungen, die Morde, das Aushungern eines ganzen Volkes ersparen könntet – ihr seid es doch, die uns zwingen, euch das anzutun.

Die ganze Welt hallt in dieser Stimme am Telefon wider, die mir sagt: Es gäbe eine Lösung, wenn ihr nur nicht so stur wärt. Es gibt eine Lösung, ihr sollt euch auflösen in den Widersprüchen, die euch zugefügt wurden. Könntet ihr euch doch aus der Welt ausladen. Könntet ihr doch die Welt nicht noch komplizierter machen durch eure Existenz. Müsste ich doch nicht mit euch sprechen. Müsste ich euch doch nicht zuhören. Warum könnt ihr nicht.

Der Schriftsteller Karim Kattan ist 1989 in Jerusalem geboren und lebt in Paris im Exil. Dieser Text erschien in einer etwas längeren Version am 31. Oktober 2023 in der US-Kultur- und Politikzeitschrift «The Baffler». Übersetzung: Franziska Meister.